Träume vergangener Tage: Alis wahres, trauriges Schicksal
Von Zaher Habib
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Über dieses E-Book
Ahmed kann es nicht glauben: Als er seinen verloren geglaubten Freund im Krankenhaus wiedersieht, ist es ein Schock für ihn. Ali liegt im Sterben, seine Zeit ist fast abgelaufen. Alles, was ihm jetzt noch bleibt, ist der Traum, seine Geschichte aufzuschreiben und damit anderen Flüchtlingen Mut zu machen. Zaher Habib erfüllt den letzten Wunsch des jungen Mannes und erzählt die Geschichte Alis wahrheitsgetreu und gnadenlos ehrlich nach.
Ali erzählt von seiner Familie, neuen Freundschaften, Verlust und Entscheidungen, die den Weg seines Lebens verändert haben. Dabei erzählt er auch von der kurzen Begegnung mit Ahmad, einem afghanischen Flüchtling, den er in der Türkei kennengelernt hat. Sein Weg führt ihn aus seinem Heimatdorf über den Iran in die Türkei, bis er es zuletzt nach Bremen schafft.
Das Leben eines Fremden, der mit jeder neuen Seite zu einem Vertrauten wird. Zahir Habib gibt die Erzählung Alis einfühlsam wieder und bringt dem Leser die Erfahrungen näher, die ein Flüchtling auf der Spur seiner Träume erlebt hat.
Sein Traum von einer besseren Zukunft, einem besseren Leben und Sicherheit sind in Deutschland zwar für einen Moment greifbar nah geworden, aber vor dem Tod kann man nicht fliehen.
Nach einer wahren Begebenheit.
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Buchvorschau
Träume vergangener Tage - Zaher Habib
Traume
vergangener
Tage
Alis wahres, trauriges Schicksal
Zaher Habib
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Dieses Buch ist allen Menschen gewidmet, die Fluchterfahrungen sammeln mussten und müssen. Ihnen soll dieses Buch, das auf wahren Begebenheiten beruht, ein Trost sein.
Dank
An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei allen Freunden und Bekannten bedanken, die mich moralisch unterstützt und motiviert und beim ersten Lektorat geholfen haben, mein Buch zu veröffentlichen.
Mein besonderer Dank gilt dem Bremer Rat für Integration, der mich auf großzügige Weise unterstützt und die Veröffentlichung des Buches ermöglicht hat.
BRI_Logo.jpgZaher Habib, November 2020
Die wichtigen Personen:
Sheer Ali Rustamzadah, genannt Ali
Herr Meyer, deutscher Rechtsanwalt
Ahmad Mir, afghanischer Flüchtling
Ewas Ali, Alis Vater
Rahela, Alis Mutter
Zainab, Alis Schwester
Masturah, Alis jüngste Schwester
Hadji Salim, Vetter von Alis Vater
Rasul Dad, Sohn Hadji Salims
Hadji Hassan, Alis Onkel (Bruder von Alis Mutter)
Abdul Ali, Sohn Mohammad Hassans und Alis Cousin
Said Jafar, Cousin von Alis Tante
Rajab Ali, Said Jafars Sohn
Hussain, Said Jafars Sohn
Hawa, Said Jafars Tochter
Sakina, Said Jafars Tochter
Payenda Gul, Nachbar Alis in Teheran
Herr Mira, Pensionsbesitzer in Ankara
Esma, Herrn Miras Ehefrau
Aylin, Herrn Miras Tochter
Elin, Herrn Miras Tochter
Tarik, Koch in Herrn Miras Pension
Khalil Amani, afghanischer Freund der Familie Mira
Kerim Aydin, mysteriöser Mann in Istanbul
Senam Aydin, Ehefrau Kerim Aydins
Nazan Aydin, Tochter Kerim Aydins
Gülşen Aydin, Tochter Kerim Aydins
Aziz Nuri, Geschäftspartner Kerim Aydins und Alis Chef
Nergis, mit Einfluss ausgestattete Liebhaberin Alis
Elef, Nazans Freundin
Nesrin, Nazans Freundin
Nebat, Nesrins Stiefmutter
»Ich glaube nicht, dass meine Geschichte etwas Besonderes ist.«
Ali
Manchmal kann eine falsche Bewegung einen dauerhaften Schmerz verursachen, und der betroffene Mensch kann dabei seine Beweglichkeit einbüßen.
Manchmal verliebt man sich auf den ersten Blick in jemanden, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie diese Liebe enden könnte.
Manchmal kann auch ein unerwarteter Anruf einen bestimmten Abschnitt des Lebens durcheinanderrütteln.
Die Liste der Zufälle kann nicht lang genug sein.
In meinem Fall war es nur ein Anruf am Abend. Ich saß vor dem Fernseher und schaute mir einen Bericht über Flüchtlinge an, die in unzähligen Gruppen über die Balkanroute zu den Ländern ihrer Träume nach Europa unterwegs waren. Gegen 22 Uhr vibrierte mein Handy, und ich warf einen Blick darauf. Ein unbekannter Anrufer, und dazu noch zu dieser Stunde. Sollte ich das Gespräch annehmen oder so tun, als ob ich nicht erreichbar wäre? Vielleicht rief mich jemand in einer wichtigen Angelegenheit an, oder etwas war geschehen, und jemand wollte mir dies mitteilen? In der Kürze der Zeit gingen mir viele Sachen durch den Kopf. Letztendlich siegte meine Neugier, und ich meldete mich. »Ja?«
»Hier Rechtsanwalt Meyer. Entschuldigen Sie den späten Anruf. Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst hätte wenden können. Nach langer Überlegung bin ich zu der Ansicht gekommen, dass Sie bestimmt in der Lage sind, mir zu helfen.«
So spät am Abend hatte ich nicht mehr mit einem Anruf gerechnet. Ich versuchte, mir meine Überraschung und Neugier nicht anmerken zu lassen.
»Es ehrt mich sehr. Aber wie kann ich behilflich sein?«
»Es ist leider keine frohe Botschaft, weshalb ich Sie um Hilfe bitte. Vor einer Stunde bekam ich einen Anruf aus dem Hospiz Oldenburg. Dort liegt ein junger afghanischer Mann, dem es leider sehr schlecht geht. Vielleicht hat er nur noch ein paar Tage – oder sogar weniger – zu leben.«
Zwischen uns entstand eine kleine Pause, dann sprach er weiter.
»Er hat Leberzirrhose im Endstadium. Seine einzige Chance wäre es, einen Spender zu finden. Aber in der jetzigen Situation und in Anbetracht der Wartelisten ist es wohl eine Illusion, mit einer Spende zu rechnen.
Er wünscht sich, dass ihn andere aus seiner Heimat an seinem Sterbebett besuchen, um mit ihnen die letzten Tage und Stunden seines Lebens zu verbringen. Ich verstehe ihn, und es ist auch sein gutes Recht. Ich kenne ihn und habe ihn schon mehrere Male im Krankenhaus besucht. Ich möchte ihm unbedingt bei der Erfüllung seines letzten Wunsches helfen, und dafür brauche ich Ihre Hilfe.
Ach ja, um es nicht zu vergessen …«, sagte er, »kennen Sie vielleicht noch ein paar afghanische Jugendliche, die bereit wären, mitzukommen? Es würde dem erkrankten jungen Mann viel bedeuten. Wie Sie wissen, betreue ich zwar viele Jugendliche, unter ihnen auch viele aus Afghanistan, dennoch weiß ich nicht genug über die Sitten und Bräuche Ihres Landes. Ich möchte keine Fehler machen, die unverzeihlich wären, und schlage vor, dass wir uns morgen Nachmittag im Hospiz treffen. Wäre Ihnen das recht?«
Ohne lange zu überlegen, antwortete ich: »Ja, natürlich, das schaffe ich.«
Ich überlegte mir, wen ich noch so spät erreichen könnte. Natürlich ist es für keinen Menschen leicht, mit solch einer Nachricht konfrontiert zu werden. Noch dazu, wenn es um die unheilbare Krankheit eines jungen Menschen geht, der einsam und weit entfernt von seiner Familie im Sterben liegt.
Nach reiflicher Überlegung beschloss ich, Ahmad anzurufen, einen mir bekannten afghanischen Jugendlichen. Ich erzählte ihm nur von einem ebenfalls aus seiner Heimat stammenden jungen Mann, der krank war und sich gern mit anderen Afghanen unterhalten wollte. Eigentlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, nicht die ganze Wahrheit über sein hoffnungsloses Schicksal gesagt zu haben, aber mir fehlte der Mut dazu. Ahmad war einverstanden und wollte seinen Freund Akbar mitbringen.
Am nächsten Tag erreichten Ahmad, Akbar und ich gegen 14 Uhr das Hospiz. Herr Meyer wartete bereits vor dem Hauseingang.
Wir betraten das Hospiz, gingen an der Rezeption vorbei und kamen in einen schmalen Flur, wo sich die Räume der Bewohnerinnen und Bewohner befanden.
Es ist ganz natürlich, dass man sich an solch einem Ort sehr betroffen fühlt – in jedem der Bewohner sieht man einen Sterbenden.
Es war nicht mein erster Besuch in einem Hospiz. Ich hatte vor ein paar Jahren einen mir sehr nahestehenden Verwandten in einem Sterbehaus in Holland und später eine sehr gute Freundin in einem Hospiz in Bremen besucht. Und jetzt war ich hier in Oldenburg zu Besuch bei einem mir unbekannten jungen Afghanen. Aber die Gefühle bleiben
dieselben. Man weiß, dass diese Menschen nicht mehr viel Zeit zum Leben haben.
Herr Meyer erzählte uns, dass die Bewohner Besuch empfangen und auch mit anderen Bewohnern gemeinsam etwas unternehmen könnten. Im Rahmen der Möglichkeiten des Hauses sei den Bewohnern fast alles gestattet: zum Markt zu gehen, frisches Obst zu kaufen, oder sogar ein Kino zu besuchen.
Herr Meyer sprach sehr leise, und wir gingen langsam weiter. Das Zimmer des afghanischen Jugendlichen befand sich in der Mitte des Flurs. Es war ein mittelgroßer Raum mit hoher Decke. Zwei lange bunte Gardinen, die spielende Kinder auf einer Wiese zeigten, hingen vor dem Fenster. Sie waren zugezogen und ließen kein Licht hindurch. In einer Ecke des Raumes stand ein kleiner viereckiger Tisch, auf dem eine Kerze stand, die zur Hälfte abgebrannt war. Ihr schwaches Licht erhellte den Raum. An einer der Wände hing ein relativ großes Gemälde und zeigte eine blühende Landschaft, an der gegenüberliegenden Wand hing eine kleine, hilflos schauende Jesusfigur aus braunem Holz.
In dem weißen Metallbett vor dem Fenster lag der junge Patient. Seine Augen waren geschlossen, die Decke bis zum Hals hochgezogen. Das Gesicht war sehr abgemagert, schwarze Ringe standen unter seinen Augen. Er bemerkte uns nicht und zeigte keinerlei Reaktion, als wir uns seinem Bett näherten.
Ahmad stand zunächst hinter mir, bis ich ihm ein Zeichen gab. Hierauf stellte er sich neben mich und betrachtete konzentriert das Gesicht des Jungen.
Herr Meyer öffnete das Fenster und ließ Licht und frische Luft herein.
Nun näherte sich Ahmad weiter dem Bett des Jungen, blieb aber stehen, ohne irgendetwas zu sagen. Wir sahen ihm an, dass er verunsichert und nachdenklich geworden war. Er trat noch näher an das Bett, erstarrte in der Bewegung und intensivierte seine Bemühungen, den Jugendlichen zu erkennen. Dann schaute er mich an. Durch seine Ungeduld und seine Haltung merkte ich, dass er uns etwas sagen wollte.
Plötzlich schrie er ganz laut und rannte auf mich zu. »Nein, nein. Es ist unmöglich. O Gott, das darf nicht wahr sein.«
Herr Meyer und ich standen regungslos da und wussten nicht, was gerade passierte. Ahmad ging erneut auf das Bett zu, beugte sich nach vorne, schaute sich das Gesicht noch einmal genauer an und ertastete am Hals des Jugendlichen einen Anhänger. Dann drehte er sich zu mir und fragte in Dari, unserer Muttersprache: »Onkel, wissen Sie, wer dieser Junge ist?«
Ich schaute Ahmad einen Augenblick an und wartete meinerseits darauf, was er mir noch sagen wollte. Als er keine Antwort von mir bekam, bedeckte er mit den Händen sein Gesicht und sprach ganz leise und aufgelöst.
»Onkel! Ich kenne ihn. Er heißt Sheer Ali Rustamzadah und ist genauso lange in Deutschland wie ich. Wir sind damals gemeinsam nach Deutschland gekommen. Wissen Sie, seit wann er hier im Hospiz liegt?«
Er konnte nicht mehr sprechen, versuchte aber, Haltung zu bewahren und fragte ganz leise: »Ist er sehr krank?«
An meiner Stelle antwortete Herr Meyer. »Ja, du hast recht, er heißt Sheer Ali Rustamzadah, und wie du siehst, ist er leider sehr krank.«
Ich versuchte nun meinerseits, eine beruhigend wirkende Antwort zu finden, aber es gelang mir nicht. Ahmad musste die Wahrheit erfahren. Wir hatten ihn in diese schwierige Situation gebracht, weil es Alis Wunsch gewesen war.
»Die Ärzte meinen, dass es für ihn keine Überlebenschancen mehr gibt. Ali bat uns, ihn zu besuchen. Ich wollte am Telefon nicht erzählen, dass er so krank ist, aber jetzt weißt du es. Woher genau kennst du ihn, Ahmad?«
»Er ist mein verloren geglaubter Freund, mein Lebensretter. Wir haben uns in der Türkei kennengelernt. Wie könnte ich das je vergessen? Sie können sich nicht vorstellen, wie glücklich und froh ich darüber bin, ihn zu sehen.«
Aus Freude umarmte Ahmad mich und beugte sich dann nach vorn, um als Zeichen seiner Dankbarkeit, wie es der Brauch in Afghanistan ist, meine Hände zu küssen. Ich entzog sie ihm und versuchte, ihn zu beruhigen.
»Ich freue mich so sehr, dass du deinen Freund wiedergefunden hast. Du kannst dich ihm nähern und versuchen, mit ihm zu sprechen.«
Ahmad wartete nicht lange, sondern ging mit langsamen Schritten auf Ali zu. Er setzte sich auf die Kante des Bettes, streichelte mit der einen Hand die Stirn und mit der anderen Hand die Wangen von Ali. Behutsam rief er seinen Namen und sprach ihn in Dari an.
»Ali! Öffne deine Augen und schau, wer hier ist. Ich bin es, Ahmad. Kannst du mich hören? Weißt du noch, wer ich bin?«
Aber Ali antwortete nicht. Ahmad drehte sich zu uns, in der Hoffnung, von uns einen Rat zu bekommen, was er noch tun solle. Als er keine Antwort von uns bekam, fing er erneut an, mit Ali zu reden.
»Ali! Ich bin es, Ahmad. Antworte mir bitte.«
Als auch diesmal keine Reaktion erfolgte, wurde Ahmad ungeduldig und noch angespannter.
»O Gott, was soll ich nur machen?«
Die Augen von Ahmad hatten sich gerötet, und mit jedem Ein- und Ausatmen weiteten sich seine Nasenflügel. Er wollte auf jeden Fall eine Reaktion von Ali haben.
Im gleichen Moment fiel mir ein, dass dieses Wiedersehen nur von kurzer Dauer sein würde. Ich schämte mich dafür, gleich beim ersten Besuch solche Gedanken zu haben.
Herr Meyer und ich standen immer noch mit hilflos versteinerten Mienen nahe bei den beiden. Da wir wussten, in welchen Stadium seiner Krankheit Ali sich befand, konnten wir Ahmad keine Hoffnung machen und schwiegen stattdessen. In dem Raum herrschte im wahrsten Sinne des Wortes Totenstille.
Akbar stand die gesamte Zeit über still in einer Ecke des Raums und redete nicht. Er kannte Ali nicht, und als er die Reaktion vom beinahe in Tränen ausbrechenden Ahmad sah, verließ er den Raum. Er sagte, dass er nach Hause gehen wolle.
Ahmad beugte sich erneut herunter zu Ali und ergriff dessen kalte Hand, mit der anderen streichelte er sein Gesicht.
»Ali, mein lieber Ali. Ich habe dich überall gesucht. Du bist doch mein Bruder. Wieso konnte ich dich nicht finden, dabei warst du so nah bei mir? Du hättest nur laut rufen sollen, dann wäre ich kriechend zu dir gekommen.«
Ahmad fing an, heftig zu weinen, sein Gesicht war von Tränen ganz nass geworden. Ich reichte ihm ein Taschentuch.
Ali reagierte immer noch nicht. Er sah sehr blass aus, und die schwarzen Ringe unter seinen Augen waren jetzt sehr markant. Ahmad weinte immer noch, Tränen überströmten sein Gesicht. Er blickte zu mir, und wollte ein weiteres Taschentuch. Ich reichte es ihm. Dieses Mal aber wischte er damit den Schweiß aus Alis Gesicht.
Langsam, ganz langsam öffnete Ali seine Augen. Als ob er alles mitbekommen hatte, fing er an, ganz leise zu sprechen.
»O Ahmad, ich bin so froh, dich doch noch gefunden zu haben. Ich habe dich überall gesucht. Keiner hat mir gesagt, dass du in meiner Nähe bist.
Als wir damals unterwegs waren, habe ich mir gesagt, wie schön wir es hier haben würden: zusammen in einer Stadt leben und unter einem Dach wohnen. Ich habe mir immer gewünscht, hier zur Schule zu gehen und die deutsche Sprache zu lernen. Ich wollte den Menschen von unseren Fluchterlebnissen und von unserer verloren gegangenen Kindheit erzählen.«
Er schwieg und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, dann versuchte er mit großer Mühe, weiterzusprechen.
»O Bruder, lass dich umarmen. Wie oft habe ich mir diesen Moment vorgestellt. Es tut mir leid, dass ich nicht aufstehen kann. Aber komm doch näher heran.«
Trotz seiner Schmerzen wollte Ali sich in seinem Bett etwas aufsetzen, Herr Meyer und ich halfen ihm dabei. Ali und Ahmad umarmten sich und hielten sich eine Weile fest. Dann begannen sie, sich in afghanischer Sprache zu unterhalten. Ich versuchte, das Wesentliche des Gesprächs für Herrn Meyer zu übersetzen.
»Weißt du, Ahmad, als wir nach Deutschland unterwegs waren, hatte ich so viele Ideen im Kopf, was wir beide würden unternehmen können. Ich sah, in welcher Freiheit die Jugendlichen hier leben.
In den ersten Wochen, nachdem wir getrennt wurden, habe ich nie die Hoffnung aufgegeben, dich wiederzutreffen. Ich habe mich überall nach dir erkundigt, habe sogar eine Anzeige beim Roten Kreuz aufgegeben. Einmal habe ich eine Nachricht mit einem Foto bekommen, aber das warst nicht du. Dennoch habe ich nie daran gezweifelt, dass wir uns erneut begegnen würden. Und wie du siehst, haben wir uns nun endlich wiedergefunden – nur leider zu spät. Es geht mit mir zu Ende.«
Weiter kam er nicht. Er fing an zu husten, und das Reden fiel ihm sichtlich schwer. Er machte eine Pause. Mit zusammengekniffenen Augen hielt er die Hand von Ahmad fest.
Ahmad beugte sich noch dichter zu ihm und küsste seine Hand.
»Sag nicht so etwas! Du wirst wieder gesund werden! Ab heute werde ich hierbleiben und dich pflegen. Wenn es nötig ist, werde ich dich auf meinen Armen tragen. Aber sag so etwas nicht.
Weißt du noch, wie wir in Istanbul in den Bus eingestiegen sind und uns vor der Polizei versteckt haben? Und diese edle Frau, die uns als ihre Verwandten bezeichnet und uns geholfen hat? Und die lange Reise, immer mit einem Ziel vor Augen: so weit wie möglich aus der Hölle in der Türkei zu entkommen.
Was haben wir alles erlebt? Wir waren hungrig und durstig, wir waren müde und wollten uns schlafen legen, aber wir durften nicht den Anschluss verlieren, liefen weiter und immer weiter.«
Ali bewegte seinen Kopf, um zu zeigen, dass er sich an all diese Sachen erinnerte. Er war bemüht, sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen, seine Stirn und sein Gesicht waren mit Schweißperlen bedeckt.
Herr Meyer verließ das Zimmer und kam kurz darauf in Begleitung einer Krankenschwester zurück. Die Krankenschwester beugte sich zu Ali, desinfizierte eine Stelle an seinem Oberarm und gab ihm eine Spritze. Ali wurde still.
»Auch du hast das Recht, nicht so zu leiden. Von dem, was wir so mitbekommen haben, hast du in deinem Leben genug gelitten. Auch wenn du nichts sagst, wissen wir, welche Schmerzen du ertragen musst. Du bist so tapfer! Ich habe selten einen Menschen wie dich erlebt«, sagte die Krankenschwester und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.
Es verging eine Weile, bis Ali wieder zu sich kam und ganz langsam seine Augen öffnete. Anscheinend half ihm die Spritze. Er ergriff nun seinerseits Ahmads Hand und hielt sie fest.
Mit zittriger Stimme antwortete er: »Ja, Bruder, wie kann ich das vergessen. Aber vielleicht ist es ist der Wille Gottes, dass wir uns genau hier an diesem Ort wiedergefunden haben.«
Ali machte erneut eine Pause. Vielleicht spürte er jetzt keine Schmerzen mehr und dachte nicht mehr an das Sterben. Er versuchte, seine Augen offen zu halten und Ahmad anzuschauen.
»Manchmal sage ich mir, ich müsste meinem Gott böse sein, weil er mir in den schweren Stunden meines Lebens nicht geholfen hat oder nicht helfen wollte, konnte oder durfte. Ich weiß es nicht. Vielleicht möchte Gott mich für all meine Sünden bestrafen, auch wenn beim Begehen dieser Sünden die Schuld nicht bei mir lag.«
Er wischte sich die Schweißperlen aus dem Gesicht. Ahmad schaute ihn an und wollte ihn nicht unterbrechen. Nach einer kurzen Pause drehte Ali sich ganz vorsichtig zu Ahmad und fragte: »Was denkst du, Ahmad?«
Ahmad hielt seinen Blick fest und war