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Eva und die Männer aus dem Morgenland: Nach einer wahren Geschichte
Eva und die Männer aus dem Morgenland: Nach einer wahren Geschichte
Eva und die Männer aus dem Morgenland: Nach einer wahren Geschichte
eBook578 Seiten6 Stunden

Eva und die Männer aus dem Morgenland: Nach einer wahren Geschichte

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Über dieses E-Book

Nabil, Omar und Basel erreichen Deutschland im Spätsommer 2015. Sie haben alles verloren, ihre Familien mussten sie in Syrien zurücklassen. Bei einem Flüchtlingshelfertreffen lernen sie Eva kennen, die sie an Silvester zu ihrer Familie nach Hause einlädt. Das Essen, das Nabil und Omar an diesem Abend auf den Tisch zaubern, begeistert nicht nur Eva. Wie wäre es, gemeinsam ein Restaurant zu eröffnen? Ein abenteuerliches Projekt nimmt seinen Lauf - und für Eva eine Zeit der Auseinandersetzung mit ihrem eigenen "kleinen Rassismus", ihren Vorurteilen und Ängsten.

Dieses Buch handelt von Ausdauer und Geduld, von Krieg und Kopftuch, Flucht und Kehrwoche, von gutem Essen und gebrochenen Seelen. Radikal ehrlich geschrieben ist diese Geschichte berührend, lustig, traurig und schön. Dieses Buch handelt aber vor allem von dem unerschütterlichen Glauben daran, dass wer stark ist, auch gut sein muss.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Okt. 2020
ISBN9783347153240
Eva und die Männer aus dem Morgenland: Nach einer wahren Geschichte

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    Buchvorschau

    Eva und die Männer aus dem Morgenland - Eva Michielin

    Evas Geschichte – Erste Begegnung

    Es sind drei Rosen. Eine ist hellrosa, eine rot und die andere gelb. Die kleinen knospigen, die man im Supermarkt im 10er-Pack kaufen kann. Sie sind mit einem kleinen Haushaltsgummi zusammengebunden. Der Mann hält mir den kleinen Strauß hin. Es ist der letzte aus seiner Plastiktüte. Seine Hände zittern kaum merklich und ich spüre, wie er versucht, das leichte Beben in seiner Bewegung unter Kontrolle zu bringen. Er sieht mich nur kurz aus seinen nussbraunen Augen aus an, schnell senkt er seinen Blick wieder und läuft zurück zu seinem Stuhl.

    Der Raum ist sonst ein Klassenzimmer, Tische und Stühle hat man für das Flüchtlingshelfertreffen umgestellt. Es sind ungefähr 25 Menschen aus dem Ort gekommen, sie alle möchten irgendwie unterstützen, Hilfe anbieten, sich einbringen. Am großen Tisch in der Mitte des Raums sitzt das Kernteam der Flüchtlingshelfergruppe. Deren Sprecher und Übersetzer Eckart moderiert gemeinsam mit der Ortsvorsteherin die Sitzung an. Es ist eine Vertreterin der Stadt da, die sich um die Belange der Geflüchtete kümmert und die Hilfen koordiniert. Am Tisch sitzt auch ein zarter, schlanker Syrer, der sehr gut Englisch spricht und der die Übersetzung ins Arabische übernimmt.

    In meinem Ort gibt es keine lokale Helfergruppe, also habe ich mich dieser hier in einem anderen Teilort der Stadt angeschlossen. Das Treffen ist für Mittwoch 19 Uhr angesetzt. Die anderen Freiwilligen kommen alle aus dem Dorf, den einen oder anderen kenne ich von früher. Da ich einige Minuten zu spät zum Treffen komme, husche ich schnell in den Raum und suche nach bekannten Gesichtern. Ein ehemaliger Schulkamerad von mir ist auch da. Ich grüße ihn kurz. Es ist schön, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Die Frau meines Cousins, in dessen Haus hier im Ort die 19 Geflüchteten untergebracht sind, sitzt hinten im Raum. Neben ihr ist ein Stuhl frei. Wunderbar – sie informiert mich kurz, der offizielle Teil hat gerade erst begonnen.

    Die Ortsvorsteherin macht ihre Sache gut. Sie wirkt überaus fröhlich und entspannt, agiert pragmatisch und unkompliziert. Mit einem Augenzwinkern kommentiert sie die eine oder andere Hürde, die uns das Landratsamt in den Weg legt. Schnell finden wir Lösungen für Fahrdienste, Deutschunterricht vor Ort, Hilfe bei Arzt- und Behördengängen und vieles mehr. Am dringendsten sind ganz grundlegende Dinge, denn es fehlt an vielem. Die fünf Syrer, die als Repräsentanten gekommen sind, sitzen an der einen Wand nebeneinander und lauschen dem deutsch-englischen Austausch. Sie alle tragen Schlappen oder leichte Sommerschuhe. Der November ist zwar dieses Jahr erstaunlich sonnig und warm, aber mit dem Schuhwerk wird sich der deutsche Winter nicht meistern lassen. Schnell finden sich zwei freiwillige Frauen aus dem Ort, die das Management der Kleiderkammer übernehmen.

    Irgendwie bin ich gerührt von all diesen Menschen in diesem Raum, die angetreten sind, um irgendetwas beizutragen, damit es diesen 19 Männern etwas besser geht und sie hier ankommen können. Häufig ärgere ich mich über meine sentimentale Seite, heute Abend stört mich meine Stimmung nicht. Die Menschen hier wollen wissen, was sie tun können. Immer wieder fragen sie, wie sie denn jetzt konkret helfen können. Klar, interessieren sie auch die Zusammenhänge, die vom Landratsamt festgelegten Prozesse und gesetzlichen Regularien, aber eigentlich möchten sie nur mit anpacken. Es ist eine schöne Stimmung, die wir in unseren „saturierten, fetten" Leben nicht so oft verspüren. Der schlanke Syrer übersetzt, was die Männer ihm auftragen: Sie alle möchten sich bei uns bedanken. Für die freundliche Aufnahme im Dorf, für die spontane Hilfsbereitschaft in den ersten Tagen, für die schnelle Organisation dieses Helfertreffens und für die überwältigende Wärme, die ihnen entgegengebracht wird. Viele der Unterstützer im Raum sind verlegen, besonders als die Geflüchteten uns ihre kleinen Blumensträuße überreichen. Es beschämt einen fast, haben sie doch ihr weniges Taschengeld ausgegeben, um jedem ein paar Rosen zu überreichen. Die Ortsvorsteherin fängt den Moment gut ein und leitet wieder zu praktischen Themen über. Jeder Helfer und jede Helferin tragen sich in eine Tabelle ein. Mit welchen Themen kann man helfen, an welchen Tagen, wie oft – all diese Informationen sollen dazu beitragen, die Unterstützung besser zu koordinieren.

    Nach dem offiziellen Teil stelle ich mich dem arabisch-englischen Übersetzer vor, er heißt Omar. Er bedankt sich wie alle anderen Geflüchteten überschwänglich, erzählt auf Nachfrage hin ein bisschen darüber, wie es ihm ergangen ist. Ich frage, ob er Familie hat. Ja, es gibt eine Frau und einen einjährigen Sohn. Beide sind mit seinen jüngeren Geschwistern in Damaskus zurückgeblieben. Er weiß noch nicht, was werden soll. Ich frage ihn nach einem Bild seiner Familie. Auf dem Handy zeigt er mir „Baby Yosef" wie der Kleine ab sofort bei uns in der Familie genannt wird. Ich sehe, wie er mit den Tränen kämpft und frage ihn schnell weiter, wie ich ihm konkret helfen kann. Er sagt, sie frieren alle an den Füßen und es wäre schön, wenn sie ein paar Fußbälle hätten, damit sie sich etwas mit Sport beschäftigen können.

    Auf dem Nachhauseweg muss ich über mich selbst lachen. Wie naiv ich doch war! Kleinen syrischen Babys mit großen dunklen Knopfaugen und ihren Mamas wollte ich helfen. Aber hier gibt es keine süßen Babys und auch keine Frauen. Hier in Fallhausen sind nur Männer, 19 junge Männer.

    Na dann los: Warme Schuhe in Schuhgröße 39–42, Sportsachen und warme Jacken organisieren. Mein Sohn hat mindestens 17 Fußbälle, da können wir gut ein paar hergeben.

    Die Geschichte eines Geflüchteten – Die Reise, Teil 1

    „Krieg deinen Arsch hoch oder Du wirst uns alle umbringen!", raunt mir der Schlepper an der syrisch-türkischen Grenze zu. Ich klemme in einem zwei Meter tiefen Graben fest, die Geschosse der türkischen Armee fliegen uns um die Ohren. Als normaler Mann mit einem normalen Leben hatte ich mir niemals träumen lassen, eine solche Reise in Betracht zu ziehen und dann auch anzutreten. Und doch mache ich mich 2015 auf den Weg. Gute Gründe brachten mich dazu, meine Heimat zu verlassen. Zumindest das, was von ihr übrig geblieben war, nachdem sie mit Rauch, Feuer, Blut, Qualen und Angst überzogen und von wahren Dämonen erobert wurde.

    Angesichts der desolaten Lage in Syrien gab es eigentlich keine andere Lösung als zu fliehen. Es war einfach nicht länger möglich, in ständiger Angst und ohne jede Zukunftsperspektive zu leben. Die erste Herausforderung war damals, überhaupt erst mal aus Syrien herauszukommen. Der nutzlose syrische Pass hätte mich nicht weiter als bis ins Zentrum von Damaskus gebracht, um die Gebühren für die verspätete Verlängerung zu bezahlen. So beschloss ich, mich herausschmuggeln zu lassen. Wie kompliziert die Folgen dieser Entscheidung sein würden, war mir damals nicht klar. Um sich ein ungefähres Bild zu machen, hilft ein Blick auf die damalige „Gemengelage" auf syrischem Boden: Im Westen waren die meisten Landesteile unter der Herrschaft des syrischen Regimes, vor allem die Küsten und natürlich Damaskus und das Umland. Im Nordwesten und Südwesten lagen die von den Rebellen kontrollierten Landesteile, im Nordwesten auch einige kleinere Gebiete, die unter der Kontrolle der Al-Nusra-Front standen. Im Landesinneren, in Richtung Osten und auch im Norden lagen die Gebiete, die von ISIS (dem sog. Islamischen Staat) beherrscht wurden. Ganz im Norden an der Grenze zur Türkei bis an die östlichen Landesgrenzen zog sich ein Gebiet, das unter kurdischer Kontrolle lag.

    Meine Reise begann in Damaskus – al-Assads Festung. Ich musste die Wüste zu meiner Heimatstadt Deir ez-Zor im Osten durchqueren, die damals in der Hand der barbarischen ISISStreitkräfte war. Von dort ging es weiter nach Westen, um in die von den Rebellen kontrollierte Zone zu gelangen. Hier lag der Ausgangspunkt für den Versuch, von einer Stadt namens Aʿzāz aus, das Land zu verlassen.

    Das Land zu durchqueren, zumal mit der Absicht das Land zu verlassen, war in all diesen Zonen streng verboten. Insbesondere in all den Landesteilen, die unter ISIS-Kontrolle standen. Überall wurden Maßnahmen ergriffen, damit die Menschen auch ja nicht ihre Zone verließen. Generell war es keine gute Idee, als Fremder – also als jemand der dort nicht lebte – einfach so ISIS-Gebiet zu betreten. Sie waren extrem misstrauisch und genau das sollte mein größtes Problem sein. Ich komme zwar ursprünglich aus Deir ez-Zor, aber ich bin nur ein paar Mal in meinem Leben dort gewesen. Ich sprach weder deren Dialekt, noch lebte ich deren Gebräuche. Beides unterscheidet sich aber ganz massiv von der Sprache und dem Lebensstil in Damaskus.

    Es gab also null Prozent Chance auf ISIS-Gebiet auch nur einen Tag allein zu überleben. Und da kam mein Bruder ins Spiel, der fast sein gesamtes Leben in dieser Gegend verbracht hatte. Er war in all den Jahren Zeuge vom Aufstieg und Fall diverser Kräfte und Milizen geworden. Er würde mich also darauf vorbereiten können, wie man mit ihnen sprach und mit ihnen umging. Welche Dinge dürfte ich besitzen und welche besser nicht? Auch würde mein Bruder mich auf die berühmt-berüchtigten Tests vorbereiten, die sie anwandten, um herauszufinden, ob man ein „echter Muslim war. Dazu gehörte unter anderem das Aufsagen eines Verses aus dem Koran. Das wäre für mich ein massives Problem geworden, war ich doch so weit entfernt davon ein „echter Muslim zu sein, wie es nur irgend ging.

    Also verbrachte ich ein paar Tage damit, mich vorzubereiten und bei Sonnenaufgang eines Tages im April 2015 verließen mein Bruder und ich Damaskus. Es war der furchtbarste Abschied meines Lebens, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich meine Familie jemals wiedersehen werde. Ich war gut gerüstet und hatte vor allem mein Handy gut „am Mann" versteckt, weil die ISIS-Schergen null Toleranz für Kunst und Musik haben und alles als satanische Versuchungen einstufen.

    Aus Damaskus rauszukommen war relativ leicht. Ich hatte mein ganzes Leben dort verbracht. So war es möglich, uns trotz unzähliger Militär-Checkpoints bis zur Stadtgrenze durchzuschlagen. Vom letzten Checkpoint aus ging es dann weiter Richtung ISIS-Gebiet. Jetzt mussten noch weitere Vorkehrungen getroffen werden. So mussten sich beispielsweise alle Frauen komplett in Schwarz verhüllen und sich in den hinteren Bereich des Busses setzen. Wir Männer hingegen mussten Zigaretten und Alkohol verschwinden lassen, denn beides galt als Luxusartikel, die uns auf ISIS-Gebiet den Kopf kosten würden. Nach gut siebzig Kilometer öder und leerer Wüste begrüßte uns die erste schwarze „Flagge des Horrors", die uns den Weg auf ISIS-Territorium weist.

    Ein paar Kilometer später werden wir an einem ersten ISISCheckpoint angehalten. Ein maskierter Mann steigt in den Bus und stiert jeden mit durchdringendem Blick an. Überflüssig zu betonen, wie er mich schon über ein paar Reihen hinweg ins Visier nimmt und direkt auf mich zukommt. Er fragt mich nach meinen Dokumenten. Ich gebe ihm jedes erdenkliche Dokument, das ich besitze und das meine Identität bezeugt. Dann fragt er mich nach meinem Telefon und ich überreiche ihm ein altes, das ich von einem Freund bekommen habe. Ein „sauberes Telefon. So hoffe ich, ihn abzulenken. Aber er lässt sich nicht täuschen. Er hat den richtigen Riecher und fragt, ob ich noch ein zweites Handy bei mir habe. Als ich das verneine, wird es unangenehm. Er unterstellt mir, dass ich etwas verstecke. Er droht mit einer Ganzkörperkontrolle und macht mir klar, dass es nicht gut für mich ausgehen wird, wenn er bei mir oder in meinem Gepäck ein zweites Handy finden würde. In diesem Moment wendet sich mein Bruder an ihn und sagt mit fester Stimme: „Hier ist unser ganzes Gepäck, Ihr könnt alles durchwühlen, aber Ihr werdet nichts finden! Der ISIS-Soldat zerrt mich daraufhin durch den Bus nach vorne, um mich zu durchsuchen. Dann dreht er sich zu mir um und fragt mich ein letztes Mal: „Bist Du Dir sicher, dass Du nichts versteckst?. Ich nehme die letzten Reste meines Mutes zusammen und sage: „Ja, das bin ich!. Damit lässt er von mir ab und bedeutet mir, mich auf meinen Platz zurückzusetzen. Bevor er geht, nimmt er mir das wohl Wertvollste, was ich auf meiner Reise dabeihabe: den Bescheid über die Befreiung vom Militärdienst. Das einzige Dokument das meinen Status als Student in Damaskus belegt. Das einzige Dokument, das beweist, dass ich kein Fahnenflüchtiger bin, der sich vor dem Krieg drückt. Ohne dieses Papier konnte ich auf gar keinen Fall nach Damaskus zurück, sollte etwas auf der Flucht schieflaufen. Als Mann zwischen 18 und 45 Jahren ohne ein solches Dokument auf dem Gebiet des Assad-Regimes aufgegriffen zu werden, kommt dem Selbstmord gleich. Sofort würde man mich an die Front schicken, wenn nicht noch Schlimmeres.

    Wie gerne würde ich erzählen können, dass ich diese gesamte Situation mit Bravour gemeistert habe. Doch mein Bruder lässt mich wissen, dass mir die ganze Zeit die nackte Angst im Gesicht geschrieben stand und ich wie ein total verängstigtes Huhn ausgesehen habe. Das nahm mir jede Hoffnung, je in der Lage zu sein, diesen ISIS-Kontrolleuren eine „gute Story" auftischen zu können.

    Evas Geschichte – Von Männern und Schuhen

    Die Wochen und Monate vorher hatte ich zwar bereits mehrmals Säcke mit Altkleidern und -schuhen weggegeben, da unsere Apothekerin am Ort als eine Art Sammelstelle fungierte und das einfach geschickt am Weg lag. Einfach Sachen packen und bei ihr vorbeibringen – das ließ sich immer mal einschieben. Nun also die konkrete Suche für die Männer im Nachbarort. Gut, wenn man selber viele Männer im Haus hat. Innerhalb von einer halben Stunde habe ich vier Paar Winterschuhe, sieben (!) Paar ausgediente Fußballschuhe, mehrere Bälle und immerhin drei Winterjacken beisammen. Ich friere selber nicht gerne und versuche mir vorzustellen, wie es sein muss, bei drei Grad Außentemperatur den ganzen Tag in Stoffschühchen oder Badelatschen herumzulaufen. Vergisst man immer wieder gerne in seinem alltäglichen Trott: Die wenigsten von uns hier in Deutschland müssen frieren, Hunger kennen die meisten schon seit zwei Generationen eigentlich nicht mehr. Die Syrer im Nachbarort haben bis vor ein paar Jahren auch nicht frieren und hungern müssen. Sie hatten Jobs, Familien, Häuser mit Gärten, Freunde, ein buntes Leben. Bis der Krieg kam. Man sieht es ihren Gesichtern an, wenn man genau hinsieht. Unsicherheit, Verängstigung, Unglauben und ganz viel Verlust liest man in ihren Augen.

    Ich packe die großen blauen Säcke mit Schuhen und Klamotten ins Auto und fahre auf dem Weg heim von der Arbeit bei der Flüchtlingsunterkunft vorbei. Das schöne alte Haus ist etwas heruntergekommen, meine Tante und mein Onkel sind vor ein paar Monaten ausgezogen und jetzt vermietet es mein Cousin an das Landratsamt. Als ich auf das Haus zugehe und nach mehrmaligem Klingeln in den dunklen Hauseingang trete, schießt mir ganz kurz der Gedanke durch den Kopf, dass es vielleicht nicht so klug ist, als Frau allein in ein Haus mit 19 mir unbekannten Männern zu gehen. Wieso denke ich so? Woher kommt der Gedanke? Ich bleibe ein paar Augenblicke im halbdunklen Treppenaufgang stehen. Machen mir die fremden Männer Angst? Weil es Syrer sind? Weil sie Moslems sind? Weil sie zu neunzehnt sind? Weil sie ohne ihre Frauen und Familien da sind und deshalb sexuell mehr oder weniger auf Entzug? Weil Omar eventuell nicht im Haus sein könnte und ich lauter Fremden gegenüberstehen würde? Wie würde es sich anfühlen, wenn es 19 deutsche Männer wären; zwischen 19 und 47 Jahre alt, ohne Frauen, von Krieg und Flucht traumatisiert? Ich würde genauso fühlen – diese ganz leise Vorsicht wäre genauso da. Wie ist das so mit der Angst vor Männern im Allgemeinen, schießt es mir in den Kopf. Es kann einer sein oder eine Gruppe. Unbewusst scannt mein Gehirn sofort, ob da irgendetwas Gefährliches auf mich lauert. Man nennt das wohl das Risiko eine Frau zu sein. Erst einmal kommt es auf die akute Situation an: Bin ich allein im Wald oder nachts in der Tiefgarage oder sitze ich im Büro oder laufe am Tage durch eine Fußgängerzone? Aussehen und Kleidung, Hautfarbe, Habitus und Gesichtsausdruck, Körperhaltung, die gesamte Aura gibt mir sofort einen Gradmesser bezüglich der potenziellen Gefährlichkeit eines Mannes. Dann wird es kritisch, denn nun greifen gelernte bzw. vermeintlich gelernte Regeln. Ist das dann Rassismus, wenn ich bei einer Gruppe Geflüchteter mehr Angst empfinde als bei einer Gruppe Büromännern gemischter Hautfarbe? Auf den ersten Blick muss ich die Frage wohl mit ja beantworten.

    Aber so einfach ist es nicht, denn ich habe nicht per se Angst vor afrikanischen oder arabischen Männern. Ich habe Angst vor Männern ohne Perspektive. Vor Männern, die in Gewalt und Hoffnungslosigkeit groß geworden sind und Gewalt als probates und ständiges Mittel der Wahl ansehen, weil sie es nicht anders kennen. Vor Männern, deren Sozialisierung so verlaufen ist, dass sie Frauen für minderwertig und wertlos ansehen. Vor Männern, die es gewohnt sind, dass Frauen geschlagen, vergewaltigt, kleingehalten, benutzt und missachtet werden. Umso mehr Kriterien aus der obigen Liste ich anhand des ersten Eindrucks für zutreffend erachte, umso vorsichtiger bin ich also. So kann es vorkommen, dass bei einer Gruppe Geflüchteter meine Warnantennen stärker ausschlagen. Weil ich davon ausgehen muss, dass die obigen Kriterien statistisch wahrscheinlich eher auf sie zutreffen und ihr bisheriges Schicksal mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von Gewalt, Flucht, Perspektivlosigkeit, Angst und Machismo durchzogen ist. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich nicht weiß, ob ich damit rassistisch bin oder nicht. Denn genauso würden meine Sensoren auch reagieren, wenn es eine Gruppe weißer, der rechten Szene zugehörigen Männer wäre.

    Ich schüttle den Gedanken ab und mache mich auf den Weg in den zweiten Stock. Klopfe kurz an, da kommt mir ein Syrer entgegen und begrüßt mich mit „Hallo!". Ich frage, ob Omar da ist, habe aber Pech. Das hätte es etwas leichter gemacht, so muss ich mich eben mit Händen und Füßen verständigen. Zwei weitere Syrer kommen dazu, verbeugen sich und begrüßen mich freundlich. Sie bieten mir Tee oder Kaffee an und ich begleite sie in die ehemalige Küche meiner Tante. Es sieht genauso aus, wie man es sich vorstellt, wenn sich 19 Männer auf 80 Quadratmetern eine kleine Küche teilen. Ich widerstehe dem Drang, sofort einen Putzlumpen und Putzmittel zu holen und hier mal richtig sauber zu machen. Der Tee ist auf jeden Fall gut und ich zeige den Männern den Inhalt der blauen Säcke, räume die Schuhe aus und stelle sie im Gang in Reih und Glied auf. Inzwischen haben sich noch weitere dazugesellt und ich versuche zu vermitteln, dass die Sachen an die Bedürftigsten und gerecht verteilt werden sollen. Die Männer strahlen mich an, verstehen aber rein gar nichts. Ich bitte einen jungen Kerl, der keine 20 Jahre alt sein dürfte, Omar zu informieren, dass er die Verteilung übernehmen soll. Er sieht mich an wie ein Robbenbaby und strahlt eine unglaubliche Bedürftigkeit aus – dabei lacht er aber so befreit und glücklich, wie es nur Kinder können. Das Riesenkind, so soll ich später erfahren, heißt Achmed und war früher wohl Fußballprofi in Jordanien.

    Wieder im Auto schäme ich mich etwas für meine Ängste. Diese harmlosen Kerle waren so freundlich und dankbar. Sie hätten keiner Fliege etwas zuleide getan. Und mal ehrlich: Wie blöd müssten sie sein, einer deutschen Helferin etwas anzutun. Es gibt immer Männer, die keinen Respekt vor Frauen haben. Davon kann jede deutsche Frau ein Lied singen. Taxiert werden, mit Blicken abgetastet – das kennt jede von uns. Im Job immer wieder gerne gesehen, die subtile Anmache von Kollegen und Vorgesetzten. Gerne auch von Kunden – da muss man dann immer vorsichtig sein, wenn man sich wehrt. Auf der Straße die so gar nicht subtilen Pfiffe von Bauarbeitern oder Jugendlichen in Horden. Kennen wir alles! Einfach ignorieren ist da meine Devise, aber manchmal hätte man schon Lust, ihnen das Gerüst unter dem Hintern wegzuschießen – wenigstens in der Fantasie. Von den 19 Syrern in dem Haus im Nachbarort hat mich genau einer auf diese Art angesehen, alle anderen nicht. Frauen riechen diese Typen schon auf hundert Meilen, der erste Blick sagt schon alles. Ich nenne es mal den „Blick ohne Respekt". Die Quote erscheint mir nicht besser oder schlechter als bei deutschen Männern zu sein. Ein Idiot auf 20 kommt hin.

    Na dann mal los: Hier fehlt es nicht nur an warmen Schuhen und Jacken. Hier fehlt es an Perspektive. Also überlege ich mir mal, was man hier tun könnte.

    Selins Geschichte – Von Heimat und Verlust

    Sie brachten uns von Kindheit an bei, dass es nichts Süßeres gibt als den Boden des Vaterlands. Wir glaubten ihnen noch immer, auch als es längst so aussah, als tauge dieser Boden zu nichts außer zu unserem Begräbnis. Ich erinnere mich noch an die ersten Minuten nach dem Abflug des Flugzeugs vom Flughafen Beirut. Durch ein göttliches Wunder waren wir unter den Wenigen, die das Glück hatten, im letzten Flugzeug in Richtung Türkei zu sitzen, nachdem die neueste Änderung der Visa-Gesetze nun verlangte, dass Syrer bei ihrer Einreise in die Türkei ein Visum mit sich führen mussten. Damit schloss sich die letzte Fluchttür für die Syrer, so wie uns bereits die meisten anderen Wege nicht mehr offenstanden.

    Die Szene war verrückt: Am Flughafen Rafiq al-Hariri in Beirut hielten sich etwa 600 Syrer auf, die sich zur Flucht vor dem täglichen Sog des Todes entschlossen hatten. Aber leider wurden sie enttäuscht, denn nacheinander wurden zwei Starts abgesagt.

    Nur vier Schalter waren offen und Hunderte von Syrern warteten in langen Schlangen. Die Zeit lief uns davon, denn es war bereits 6 Uhr und das ersehnte Flugzeug sollte planmäßig um 6:30 starten. Es schien unmöglich, dass wir im Sturm des Gedränges an die Reihe kommen würden. Wir waren wie die Ertrinkenden, die sich verzweifelt an einen Strohhalm klammern. Ich versuchte, an das Mitgefühl einer der Männer in den Reihen vor uns zu appellieren, indem ich erklärte, dass mein einjähriger Neffe krank war, und fragte ihn: „Würden Sie uns eventuell vorlassen? Er antwortete mir, sein Gesicht hart und unfreundlich: „Du musst verrückt sein, dass du mich darum bittest!, und lachte spöttisch. Ich empfand in diesem Moment eine heftige Scham. Wie konnte er seinen arabischen Anstand so ignorieren und meine Ehre mit solcher Unhöflichkeit in Hörweite aller in der Schlange Stehenden verletzen!

    Ich richtete meine Augen gen Himmel und legte meine Hand auf meine Brust. Ich erinnerte mich daran, wie ich meinen Schülern versprochen hatte, dass ich sie nicht verlassen würde und dass wir zusammen eine schöne Heimat aufbauen würden, von der ich so oft geträumt hatte. Aber er hatte alle unsere Träume zerstört. Ich pflegte zu sagen, dass meine Heimat mein Zuhause war und ich darin sterben würde, nicht als Flüchtling oder Heimatlose. Aber jetzt wurde mir klar, dass ich in der Tat ein Flüchtling und heimatlos war. Ich erlebte Tod und Demütigung in ihren hässlichsten Formen in meiner geliebten Heimat. Ich lächelte voller Sehnsucht nach der Naivität und Blüte der Jugend, als wäre ich eine achtzigjährige Frau, obwohl ich erst 23 Jahre alt war. Ich vergoss Tränen der Trauer über diese Heimat, die nicht gebaut werden würde und über die schönsten Tage unseres Lebens, die uns schon vor unserer Geburt gestohlen wurden. Über diese unmögliche Liebe zur Heimat, die mich gefangen hielt und die mir die Ecken und Straßen vor Augen führte, die ich so geliebt hatte – sie schnürten mir die Kehle zu. Plötzlich öffnete ich meine Augen und sah einen Schalter. Und als hätte Gott in diesem Moment mein Flehen und meine heimliche Hoffnung aufgegriffen, öffnete er für uns durch göttliche Fügung diesen Schalter und verschleierte die Augen aller Wartenden, sodass sie uns Platz machten und wir hasteten eilig hin und ließen unsere Reisepässe stempeln. Wir traten die Reise an und ließen die in Finsternis getauchte Heimat hinter uns.

    Evas Geschichte – Silvester mit Syrern

    Wir werden Silvester mit den Syrern feiern. Ich möchte sie einladen, damit sie mit uns den Abend verbringen. Mich interessiert ihr Essen und ihre Gebräuche und ich möchte ein Zeichen der Hoffnung setzen. Nur wenn wir Zeit mit ihnen verbringen haben sie überhaupt eine Chance, sich zu integrieren. Wie soll Integration funktionieren, wenn wir uns nicht ihnen widmen, wenn wir nichts mit ihnen unternehmen, wenn wir nicht bereit sind, mit ihnen zu leben? Dann bleiben sie unter sich, lernen Land und Leute im Integrationskurs kennen und wohnen womöglich später in syrischen „Gettos" in unseren Großstädten. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich vor Jahren einen beruflich motivierten Auslandaufenthalt antrat und mit meiner Familie in Australien ankam: Wie herzlich wir empfangen wurden, wie selbstverständlich willkommen geheißen und wie schnell wir ins Leben in unserer Straße integriert wurden. Klar, wir waren keine Geflüchtete. Wir waren gut situierte Menschen aus einem europäischen Land, mit einem guten Job. Ihre eigenen Geflüchteten behandeln die Australier ja schlimmer als jedes andere Land dieser Welt. Darum geht es auch nicht. Es geht um das Gefühl, in der Fremde nicht auf Ablehnung, sondern auf Wohlwollen und Freundlichkeit, auf Neugier und echtes Willkommen-Sein zu treffen. Nichts hilft so sehr, die zum Teil aufkeimende Einsamkeit in den ersten Wochen zu bekämpfen und sich ganz schnell wohlzufühlen.

    Omar ist sofort dabei, als ich ihm die Idee unterbreite. Ich erzähle vom gemeinsamen Kochen mit Freunden – das ist so unser Ritual an Sylvester – und frage, ob wir nicht gemeinsames syrisches Kochen für den Abend planen können. Klar! Der „Flüchtlingskoch Nabil hat sofort hundert Ideen, was wir alles kochen könnten. Wir planen spontan zwei Tage vor Sylvester mal los und gehen am Tag vorher gemeinsam groß einkaufen. Zuerst geht es zum örtlichen türkischen Fleischhändler, denn das Fleisch muss „halal sein. Damit beginnt für mich eine intensive Beschäftigung mit dem Thema Schlachten und den religiösen Regeln, die es dazu im Judentum und im Islam gibt. Das alles im Kontext meiner westlich geprägten Abneigung gegen zu viel Fleisch, gegen Massentierhaltung und Tiertransporte. Beim türkischen Gemüsehändler bekommen wir fast alle anderen Zutaten. Manches Wort müssen wir mit der Übersetzungs-App von syrisch nach englisch und von englisch dann ins Deutsche übertragen. Am Ende klappt alles und ich bringe die Jungs dick bepackt zurück in die Flüchtlingsunterkunft. Wir vereinbaren, dass ich sie am nächsten Tag so gegen 18 Uhr abhole, damit wir gemütlich mit dem gemeinsamen Kochen beginnen können.

    Sylvester ist da. Da ich beim Runtertragen helfen möchte, steige ich die drei Etagen zur Gemeinschaftsunterkunft von Omar und Nabil die Treppen auf und sehe mich einem Berg von Tüten, Dosen und Schachteln gegenüber. Die beiden haben wohl schon etwas vorgekocht – prompt fällt mir beim Runtertragen eine Dose mit Auberginenpaste über die Stufen und wir müssen erst mal eine Viertelstunde putzen. Nachdem wir alles glücklich im Auto verstaut haben und bei uns zuhause angekommen sind, übernimmt Nabil mit seinem jungen Helfer in unserer Küche das Regiment. Gemeinsames Kochen ist hier definitiv nicht angesagt. Ich darf noch nicht mal etwas abspülen oder schnippeln. Er möchte uns andere bekochen und lässt sich nicht im allergeringsten helfen. Unsere Freunde trudeln langsam nacheinander ein, wir halten uns an unseren Aperitifs fest und lassen die beiden Syrer schuften. Jedes Angebot wird ausgeschlagen und die Küche sieht nach zwei Stunden aus wie ein Schlachtfeld. Es riecht allerdings so unbeschreiblich gut, dass uns das Wasser im Munde zusammenläuft. Vor allem das syrische Fladenbrot, das Nabil direkt auf dem unteren Boden des Backofens backt, duftet durch das ganze Haus.

    Wir organisieren eine improvisierte Theke, weil das Ganze immer weniger nach einem kleinen Sylvester-Buffet für zwölf Personen aussieht, sondern eher nach einem Festmahl für ca. 50 Personen schreit. Gott sei Dank hat Omar noch weitere drei Syrer eingeladen. Ich hatte zwar von maximal drei Personen gesprochen, weil ich nur einmal fahren wollte, aber die Botschaft scheint nicht angekommen zu sein. Also muss ich noch mal in die Flüchtlingsunterkunft fahren und die anderen Geflüchteten abholen. Das heißt auch, dass ich im Laufe der Nacht zweimal in den nächsten Ort fahren werde, weil ich unmöglich sechs Personen im Kofferraum stapeln kann.

    Inzwischen biegen sich die beiden Biergarnituren vor Schüsseln und Platten und es kann losgehen. Wir schlemmen uns durch die wunderbaren Dips zum Fladenbrot, die leckeren Teigteilchen in mindestens zehn verschiedenen Varianten, durch Reisgerichte, Salate und das berühmte Kibbeh – wunderbare frittierte Gries-Fleisch-Klöße. Omar übersetzt unsere Fragen und die sechs Syrer erzählen von ihrer Flucht, dem Leben im Flüchtlingsheim und ihrem früheren Leben in Syrien. Einer der sechs hat im letzten Jahr seinen Vater und zwei Brüder bei einem Giftgasangriff verloren, er erzählt das so nebenbei und als Omar übersetzt, bleibt mir fast das Essen im Halse stecken. Ich versuche im Gesicht des Mannes zu lesen. Ertappe mich dabei, wie ich nach Spuren seines Schicksals suche.

    Ich dachte immer, Muslime trinken keinen Alkohol – aber das scheint nicht immer der Fall zu sein. Die vier jungen halten sich an Coca-Cola. Omar wirkt eher nicht so religiös, generell eher westlich orientiert und trinkt von Anfang an mit uns das eine oder andere schöne Glas Wein. Nabil hält sich erst zurück, entdeckt aber wohl im Laufe dieses Abends sein neues Faible für Rotwein. So ganz klappt es nur mit den Mengen noch nicht. Wir staunen nicht schlecht, denn er trinkt den Rotwein wie Apfelsaft und mein Mann muss im Laufe des Abends noch einige weitere Flaschen öffnen. Verstohlen grinsen wir uns an. Ich mache mir aber auch Sorgen, wie er das wohl verkraften wird. Aber auch nach mehreren Stunden merken wir keinerlei Anzeichen von Veränderung an Nabil. Wir lägen längst besoffen in der Ecke, er wirkt aber immer noch fit und eigentlich unverändert.

    Irgendwann geht nichts mehr in unsere Bäuche, alles schmeckt so lecker, aber es geht einfach nichts mehr rein. Mit den Resten können wir drei Familien für eine halbe Woche durchbringen, also muss jeder Reste mit heimnehmen. Die Syrer wollen nicht länger stören und ich muss den jungen Achmed und meinen Sohn, die sich die letzten Stunden mit Fußballvideos amüsiert haben, mühsam trennen. Zuvor haben sie gemeinsam auf dem Hof gekickt und obwohl keiner der beiden die Sprache des Anderen beherrscht, können sie gut miteinander kommunizieren: Sport verbindet einfach und nichts scheint das besser auf dieser Welt zu können als das runde Lederding. Genauso verbindend ist auch Essen. Die Jungs zieht es aber jetzt erst mal zurück in die Flüchtlingsunterkunft, weil dort noch eine Party auf sie wartet. Die Flüchtlingshelfertruppe vor Ort hat etwas organisiert, damit sie nicht alleine ins neue Jahr hinübergleiten.

    Na, dann mal los: Alle Syrer wollen schnellstmöglich in eigene Wohnungen ziehen und Omar hat mich auf dem Nachhauseweg gefragt, ob ich hier helfen kann. Ich sage zu, mich nach unserem Skiurlaub gleich dahinterzuklemmen.

    WhatsApp-Dialog:

    Nabil: Ich brauche ein Bildschirm

    JO bcenter können sie einen comuter und cesundes bett mitbringen

    Vielen Dank

    ES tut mir laid Eva ich brauche ein wasserkocher einGatetire und wäschekorb dank

    Aus den Interviews mit den Geflüchteten: „Kannst Du Dich noch an die erste Begegnung mit Eva erinnern?"

    Ich kann mich noch gut an die erste Begegnung erinnern. Sie hatte mich gebeten zu kochen. Wir sind zusammen ins Kaufland zum Einkaufen der Zutaten gefahren und haben im türkischen Laden Fleisch gekauft. Da waren ihre Freunde da und da haben wir zum ersten Mal gekocht. Da gab es eine Art von Kennenlernen. Ich hatte so ein Gefühl von Zuhause-Sein. Da waren Leute, die sich für mich interessierten und sich um mich kümmerten. Leute, die mir helfen wollten. Und sie hat so eine persönliche Kraft ausgestrahlt, jemanden zu entspannen, zur Ruhe kommen zu lassen. Ich fühlte Vertrauen, Sicherheit und Entspannung. Ich habe gefühlt, da ist jemand neben mir. Zu jener Zeit starben jede Woche Leute. Über das Netz und Facebook habe ich erfahren, dass es junge Leute sind, die da sterben. Leute, die zwanzig, zweiundzwanzig Jahre alt sind, sterben, weil sich niemand um sie kümmert. Sie sterben an Herzinfarkt oder Schlaganfall. Ich war wirklich erstaunt zu erfahren, dass jede Woche so junge Leute sterben. Dann habe ich gedacht, ich muss arbeiten, ich muss arbeiten. Sie hat mir sehr geholfen, auch in finanzieller Hinsicht. Hat mich immer unterstützt, wenn gar nichts mehr ging.

    Zuhause in Syrien hatte ich eine Firma, mit der ich hauptsächlich Fernsehgeräte, Kühlschränke, Handys und Waschmaschinen verkauft habe. Ich hatte ungefähr 3 000 Kunden, ungefähr 500 von ihnen sind umgekommen, wurden getötet. Und als ich hierherkam, kam ich ohne alles. Mit ihr habe ich eine Möglichkeit gefunden zu leben. Sie hat mir geholfen, mich selber wieder aufzubauen. Langsam, langsam, Stück für Stück. Sie hat mir Hoffnung gegeben. Ich hatte das Gefühl, in vier bis fünf Jahren könnte ich was Neues aufbauen. Ich hatte das Gefühl, es wird jetzt Stück für Stück besser. Stufe für Stufe. Dadurch bekam ich wieder eine Perspektive.

    Evas Geschichte – Die Idee

    Den ganzen Skiurlaub bin ich am Nachdenken und am Spinnen. Wie wäre es, das wunderbare syrische Essen auf den Markt zu bringen, vielleicht ein kleines Restaurant oder ein syrischer Food-Service? Einige meiner alten Geschäftsideen leben wieder auf und ich spüre die altbekannte Energie, die beim Planen

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