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"Du sollst nicht töten": Nachrichten aus dem Todestrakt
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"Du sollst nicht töten": Nachrichten aus dem Todestrakt
eBook252 Seiten3 Stunden

"Du sollst nicht töten": Nachrichten aus dem Todestrakt

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Über dieses E-Book

Seit mehr als 30 Jahren korrespondiert Ursula Corbin mit Menschen, die in einem amerikanischen Gefängnis auf ihre Hinrichtung warteten. In diesem Buch erzählt sie die Geschichten von Clifford, Steven, Freddie und Lee; sie berichtet, wie das amerikanische Justizsystem funktioniert und von Menschen wie Mrs. Wilcox, die sich um diese Menschen kümmert, oder den Journalisten von Radio KDOL 91, die die Mauern des Todestrakts durchbrechen. Sie lässt Andy, Pablo und Ramon zu Wort kommen. Und sie zeigt auf, warum der unschuldig verurteilte Levi vermutlich noch Jahre auf seine Freilassung warten muss, obwohl der wahre Täter inzwischen gefasst wurde.

Die Anwendung der Todesstrafe blickt in den USA auf eine lange Geschichte zurück. Die ersten englischen Siedler brachten die Gesetze der britischen Kronkolonie mit und wendeten diese auch an: Die erste bekannte Hinrichtung war 1608 die von Kapitän George Kendall, wegen Spionage für Spanien; die erste Frau wurde 1632 hingerichtet.

Wer einen Menschen tötet, der soll dafür mit seinem Leben bezahlen. Auge um Auge, ein Leben für ein Leben. Folgt man dieser Logik, müsste man auch denjenigen töten, der denjenigen tötet, der getötet hat – das Töten würde also niemals aufhören! Oder, wie Ghandi es sagte: "An eye for an eye – makes the whole world blind …"

In den USA wird die Todesstrafe grundsätzlich bei Tötungsdelikten verhängt, die Gesetzgebung variiert aber von Staat zu Staat. Einige Bundesstaaten bestrafen zusätzlich zu Mord auch Raub mit Todesfolge, Mithilfe bei Mord, Auftragsmord, Flugzeugentführung, Terrorismus und schweren Kindesmissbrauch mit dem Tode. Von den 50 amerikanischen Bundesstaaten haben 20 die Todesstrafe nach 1976 gar nicht mehr eingeführt oder sie inzwischen wieder abgeschafft. 30 Staaten aber halten nach wie vor daran fest. Allerdings werden in einigen Staaten die Todesurteile kaum mehr vollstreckt, und in drei Staaten sprachen die Gouverneure ein Moratorium aus, d.h., die Vollstreckung wurde auf unbestimmte Zeit eingefroren. Noch spricht sich die Mehrheit der Amerikaner (60 %) für die Todesstrafe aus – aber die Zahl der Befürworter sinkt Jahr für Jahr.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Sept. 2021
ISBN9783906304977
"Du sollst nicht töten": Nachrichten aus dem Todestrakt

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    Buchvorschau

    "Du sollst nicht töten" - Ursula Corbin

    1.Abdullah alias Clifford

    »Ich bin schon oft gestorben«

    Inhaftierung: Februar 1982

    Haftanstalt: Ellis One, Huntsville, Texas, USA

    »Hallo, hier ist das Büro von Herrn Schwartz, was kann ich für Sie tun?« Die weibliche Stimme am anderen Ende war ausgesprochen freundlich.

    »Guten Tag, hier spricht Ursula Corbin, ich rufe aus der Schweiz an. Könnten Sie mich bitte mit Herrn Schwartz verbinden?«

    »Moment, ich schaue nach, ob er im Büro ist.«

    Die Minuten schienen endlos. Dann meldete sich ein sonorer Bariton: »Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?«

    »Schön, dass ich Sie erreiche, vielleicht erinnern Sie sich an mich? Sie waren letzte Woche in Zürich und haben einen Vortrag über die Todesstrafe in den USA gehalten. Danach habe ich Sie angesprochen, ich bin die Frau mit den langen, dunklen Haaren, die mit einem zum Tode verurteilten Mann in Texas korrespondiert. Sie haben mir Ihre Visitenkarte gegeben und angeboten, dass ich mich melden solle, falls ich Hilfe brauchen könnte. Und jetzt brauch ich tatsächlich Ihre Hilfe. Der Gefangene, den ich erwähnte, hat ein Hinrichtungsdatum erhalten, und sein Termin ist schon in drei Wochen. Besteht die Möglichkeit, dass sich ein Anwalt eurer Organisation diesen Fall anschaut? Vielleicht gelingt es ja, diese Hinrichtung zu stoppen?«

    »Ja, ich kann mich gut an Sie erinnern, und auch an das, was Sie mir erzählt haben. Ich werde prüfen, ob wir jemanden haben, der nach Texas reisen kann und sich der Sache annimmt. Versprechen kann ich Ihnen aber gar nichts. Vielleicht gelingt uns ein Aufschub, dann gewinnen wir Zeit, um den Fall genauer anzusehen. Aber wie gesagt, versprechen kann ich gar nichts.«

    »Was immer Sie tun können, wir sind Ihnen sehr dankbar. Clifford hat aber kein Geld, um Ihre Arbeit zu bezahlen. Wäre es trotzdem möglich, einen Anwalt von euch zu schicken?«

    »Wir bei ACLU arbeiten alle unentgeltlich, also machen Sie sich keine Sorgen um das Finanzielle. Das ist im Moment noch das kleinste Problem. Ob wir noch Zeit haben, etwas zu bewirken, das ist die entscheidende Frage. Also lassen Sie mich aktiv werden, Sie hören von mir!«

    Ich hörte nichts mehr von ihm und wurde zunehmend nervöser. Die Tage verstrichen, von Clifford bekam ich fast täglich einen Brief, aber keinerlei Neuigkeiten von Harry Schwartz. Ich konnte mich erinnern, dass er während seines Vortrags in Zürich erzählt hatte, dass er sein Leben lang als Anwalt für diverse Menschenrechtsorganisationen tätig gewesen sei und nun gedenke, bald in Pension zu gehen. Hatte er den Fall von Clifford vergessen?

    Die ACLU (American Civil Liberty Union – www.aclu.org) ist eine Organisation mit Sitz in New York, die sich für Bürgerund Freiheitsrechte in den USA einsetzt. Sie wurde 1920 von einer Gruppe aus Privatpersonen und Anwälten gegründet und wird durch Spenden finanziert.

    Über meine Kontaktaufnahme zu ACLU hatte ich Clifford nicht informiert, denn er bereitete sich mental auf die Hinrichtung vor, und ich wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen. Man hatte ihn unterdessen gefragt, was er sich als letzte Mahlzeit wünsche, ob er lieber einen gelben, blauen oder orangen Overall zur Hinrichtung tragen wolle und ob er noch ein Telefongespräch kurz vor der Hinrichtung führen möchte. Auch wollte man von ihm wissen, ob er für die letzten zwei Stunden einen Priester an seiner Seite wünsche und ob er, kurz bevor es dann so weit sei, ein Beruhigungsmittel einnehmen möchte. Die Häftlinge in Ellis One durften damals tatsächlich wählen, in welcher Overallfarbe sie ihre letzte Reise auf Erden antreten wollten; man könnte das zynisch nennen.

    Etwa eine Woche vor der Hinrichtung die Nachricht: Aufschub! Harry Schwartz hatte tatsächlich einen Anwalt aus New York nach Texas geschickt, und dieser hatte in Zusammenarbeit mit Cliffords Pflichtverteidiger wegen eines Formfehlers einen Aufschub beim Gericht erzielt. Aufgeschoben – nicht aufgehoben. Doch das bot immerhin etwas Luft und Zeit, den Fall noch einmal genauer anzusehen.

    Wie die meisten Häftlinge im Todestrakt hatte Clifford nie die finanziellen Mittel, um sich einen guten Anwalt zu nehmen, und so wurde ihm ein Pflichtverteidiger zugeordnet. Dieser riet ihm vor dem Prozess, er solle nicht aussagen – er werde das schon erledigen. Also schwieg Clifford und vertraute darauf, dass der Pflichtverteidiger schon wisse, wie er ihn am besten verteidige. Es war der erste Mordfall, den dieser Verteidiger zugeteilt bekommen hatte. Die Bezahlung des Staates an einen Pflichtverteidiger für eine solche Arbeit war limitiert und betrug nur ein Bruchteil der horrenden Honorare, die sie für »normale« Fälle erhielten. Zugleich ist jeder Anwalt in Texas verpflichtet, pro Jahr mindestens einen der ihm vom Staat zugewiesenen Fälle anzunehmen. Cliffords Fall war für diesen Anwalt finanziell völlig uninteressant, deshalb setzte er wenig Zeit dafür ein und bereitete sich nur mangelhaft auf diesen Prozess vor.

    Der Staatsanwalt hatte leichtes Spiel: Clifford war dunkelhäutig – das Opfer eine weiße Frau. Zudem stammte die Frau aus der Oberschicht und war eine Bekannte der Präsidenten familie Bush, der Täter lebte auf der Straße, konsumierte Drogen und war schon mehrfach wegen Diebstahl und Drogenbesitz verurteilt worden. Die Jury bestand ausschließlich aus weißen Bürgern der Stadt Houston, und innerhalb weniger Stunden wurde Clifford wegen vorsätzlichen Mordes zum Tode verurteilt.

    Die Tat gemäß Gerichtsurteil

    Im Januar 1981 war Clifford auf Bewährung frei, nachdem er eine Strafe wegen Drogendelikten verbüßt hatte. Er fand in Houston einen Job in einem Kino als Platzanweiser und Hauswart und musste sich – eine Bestimmung der Bewährungsauflage – jede Woche bei der Polizei melden. In jener Nacht habe er seinen Dienst im Kino erledigt und gesehen, dass noch Licht im Büro der Chefin brannte. Als niemand mehr da war, sei er mit der Absicht, die Chefin umzubringen und ihre Wertsachen zu stehlen, ins Büro eingedrungen. Er habe sie erwürgt, ihre Geldbörse gestohlen, den Autoschlüssel genommen und sei weggefahren. Ein paar Tage später wurde er gefasst, weil er immer noch in ihrem Auto unterwegs und vollkommen bekifft in eine Verkehrskontrolle geraten war. Clifford habe den Mord gestanden, und auch wenn es keine Zeugen gebe, sei dieser Fall eindeutig als geplanter Raubüberfall mit Todesfolge einzustufen. Ein Vergehen, auf dem in Texas zwingend die Todesstrafe steht.

    Cliffords Version der Tat

    Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis hatte er in Houston, Texas, einen Job in einem kleinen Kino gefunden. Zu seinen Aufgaben gehörte es, spätabends nach Theaterschluss jeweils überall Ordnung zu machen, zu putzen und alle Türen zu schließen. Einige Monate lief alles gut, doch eines Nachts passierte ihm das Missgeschick, den Hauptschlüssel im Kinoraum zu vergessen, sodass sich die Tür automatisch hinter ihm schloss. Clifford hatte keine Möglichkeit, wieder ins Kino hineinzukommen, es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Vorfall seiner Chefin Mrs. Smith zu melden und sie zu bitten, ihm ihren Ersatzschlüssel zu überlassen, um das Kino wieder öffnen zu können. Die Chefin war sehr wütend auf ihn und nach einem kurzen und heftigen Wortwechsel kündigte sie ihm. Da er, wie in den USA üblich, keinen schriftlichen Arbeitsvertrag hatte, hieß dies, dass er ab sofort arbeitslos war.

    Ein harter Schlag für Clifford, denn die Arbeit hatte ihm gefallen und er war gut darin. Diese Kündigung konnte und wollte er nicht einfach so hinnehmen. Ein paar Tage nach seiner Entlassung entschied er sich deshalb, das Gespräch mit seiner Chefin zu suchen und sie zu bitten, ihm nochmals eine Chance zu geben. Im Büro von Mrs. Smith, das direkt über dem Kino lag, sah er nach Kinoschluss noch Licht und entschloss sich hinaufzugehen. Auf sein Klopfen öffnete ihm niemand und auch auf sein Rufen hin blieb alles ruhig. Die Tür war nicht verschlossen, also öffnete er sie und trat ein. Mrs. Smith saß an ihrem Pult und erschrak heftig, als sie ihn plötzlich vor sich stehen sah. Sie fühlte sich bedroht und schrie umgehend um Hilfe. Auf seine Bitte, sie solle ruhig sein, er wolle doch nur mit ihr reden, sei sie völlig hysterisch geworden. Sie habe noch lauter geschrien und nach dem Telefonhörer gegriffen, um die Polizei zu rufen. Clifford, der nur auf Bewährung draußen war, wusste, dass ihm niemand seine gute Absicht glauben würde und er vermutlich wieder ins Gefängnis musste, wenn jetzt die Polizei auftauchte. Ihr lautes Geschrei und der Versuch, die Polizei zu rufen, lösten Wut und Panik aus. Clifford verlor die Nerven, packte sie und hielt ihr den Mund mit beiden Händen zu. Die Kinobesitzerin wehrte sich mit aller Kraft, woraufhin Clifford sie auf ihr Pult presste und sie mit dem Telefonkabel würgte, damit sie endlich still sei. Als sie nicht mehr um sich schlug, realisierte er, dass sie nicht mehr atmete; Mrs. Smith war tot.

    Anscheinend hatte niemand ihre Schreie gehört, und Clifford wollte so schnell wie möglich verschwinden. Ihre Handtasche und den Autoschlüssel nahm er an sich und machte sich davon. Das Geld aus ihrer Tasche setzte er für Essen und Drogen ein. Mit dem Auto schaffte er es anschließend bis nach Kalifornien. Dort wurde er ein paar Tage später von einer Polizeistreife angehalten, weil er ein Rotlicht missachtet hatte. Da er offensichtlich unter Drogen stand, nahmen sie ihn mit auf die Wache und fanden schnell heraus, dass er in Texas gesucht wurde.

    Clifford in Untersuchungshaft

    Zwei Versionen einer Tat

    Der Staatsanwalt bezichtigte Clifford des kaltblütig geplanten und ausgeführten Raubmords. Clifford dagegen behauptete, die Tat nicht geplant zu haben; sein Vergehen wäre laut Gesetz als Diebstahl mit Todesfolge und demnach als Totschlag einzustufen. Nun lag Cliffords letzte Chance darin, dass der Anwalt der ACLU das Gericht davon überzeugen konnte, den Fall nochmals aufzurollen.

    Tatsächlich gelang diesem Anwalt das Kunststück, dass nicht nur die Hinrichtung aufgeschoben wurde, er erreichte auch eine Weisung des Obergerichtes an das Bezirksgericht, den Fall nochmals genau zu prüfen. Die Tatsache, dass die Jury ausschließlich aus weißen Bürgern zusammengesetzt gewesen war und der Pflichtanwalt seinen Klienten nur mangelhaft verteidigt hatte, warf Fragen auf und musste nochmals überprüft werden.

    Acht Jahre sollte das Ganze dauern! Immer wieder wurden Anträge formuliert und Berufungen eingereicht. Der Fall wurde ständig weitergezogen – vom Bezirksgericht ans höhere Gericht des Staates Texas und von diesem ans überstaatliche Gericht weitergereicht. Leider scheiterten alle Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Es hieß jeweils, dass die Gründe für eine Wiederaufnahme nicht gewichtig genug seien und somit werde das Begehren abgelehnt.

    Immer wieder gab es neue Hinrichtungsdaten, immer wieder wurden die Daten verschoben.

    Im Oktober 1991 schrieb Clifford:

    »You know dear Ursula, in a way, I feel like I have died several times! Each time these wardens come to pick up one of us to get him executed, I am going that way with him – in my mind! It kills me to say goodbye and to know exactly what they are going to do with him and that he will never return! It harshly reminds me that it is only a question of time until it is going to be my turn! Do you have any idea how this feels?

    I have told you that up to this day, I was able to survive several execution dates! I can assure you, that this has been hell! Can anybody out there possibly figure how it is, to get ready for your own execution, over and over again? Each time to get an official letter with a new date, to prepare mentally, write good-bye letters to the people you love, feel hopeless, alone and frightened – and praying to God for strength in these last days … And then, the count down of the remaining days, the hours and finally – the minutes! At the end of it all you just want it to be over with as quickly as possible! And suddenly – after all of what you went through – there is a phonecall from some office and you are told, that there is a stay of execution! A stay of 30 or 60 days ! Whatever – it is only a stay! I can honestly tell you that they have killed me several times up to now!«

    »Weißt du, liebe Ursula, auf eine gewisse Art bin ich schon oft gestorben. Jedes Mal, wenn die Wärter einen Mitgefangenen zu seiner Hinrichtung abholen, dann mach ich im Geiste alles mit ihm durch! Es macht mich fertig, mich von ihm zu verabschieden und genau zu wissen, was sie jetzt mit ihm machen werden und dass er nie mehr zurückkehren wird. Es wird mir dann brutal bewusst, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch ich an der Reihe bin! Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt? Ich hab dir ja erzählt, dass ich schon einige Hinrichtungsdaten überlebt habe. Ich kann dir versichern, da geht man durch die Hölle! Kann sich irgendein Mensch da draußen überhaupt vorstellen, wie das ist, sich immer wieder auf die eigene Hinrichtung vorzubereiten? Wieder einen Brief mit einem neuen Hinrichtungsdatum zu bekommen, sich erneut geistig darauf einzustellen, sich schriftlich von seinen Angehörigen und Freunden zu verabschieden und jedes Mal von Neuem mit dem Leben abzuschließen! Man hat keine Hoffnung mehr, ist alleine, hat Angst – und kann nur noch zu Gott beten, dass er einem Kraft für diesen letzten Tag geben möge! Und dann kommt die Zeit, in der man die Tage und Stunden zählt und schließlich die Minuten – und irgendwann will man nur noch, dass es jetzt schnell geht und alles vorbei ist! Aber dann – nach all dem, was du durchgemacht hast in diesen letzten Tagen – kommt plötzlich ein Anruf aus irgendeinem Büro, und man teilt dir mit, dass die Hinrichtung aufgeschoben wurde! Ein Aufschub von 30 Tagen oder 60 – was immer – es ist ja nur ein Aufschub! Ich kann dir sagen, ich bin schon etliche Male gestorben!«

    Manchmal kam die Nachricht über den Aufschub erst kurz vor der Hinrichtung. Clifford hatte die letzte Mahlzeit bereits gegessen, das letzte Telefonat beendet, das Gespräch mit dem Pfarrer geführt und ein Medikament zur Beruhigung eingenommen. Bei ihm war es sogar so, dass er an einem dieser Termine schon auf dem Bett festgeschnallt lag, um im nächsten Moment die Giftspritze verabreicht zu bekommen, doch dann kam der Anruf, dass der Gouverneur angerufen habe … Später habe ich von seinem ehemaligen Pflichtanwalt erfahren, dass der Bescheid über den Aufschub schon Stunden vorher im Büro der Gefängnisleitung eingetroffen war!

    In den letzten drei Wochen seines Lebens schrieben wir uns fast täglich. Ich wusste langsam nicht mehr, was ich ihm mehr wünschte: Ein erneuter Aufschub würde bedeuten, dass er nochmals alles durchleben müsste. Alle Berufungsmöglichkeiten waren ausgeschöpft und alle Gnadengesuche abgelehnt worden, wozu sollte ein weiterer Aufschub noch gut sein? Die Hinrichtung schien unausweichlich, war es da nicht besser, sie endlich zu vollziehen?

    Das Thema Tod und was nachher kommen werde, war in diesen letzten Briefen sehr wichtig. Clifford betonte darin, er sei bereit zu sterben, durch die Konvertierung zum Islam habe er seinen Weg in Allah gefunden. Angst verspüre er keine mehr, denn er habe seinen Frieden gefunden.

    Bevor Clifford nach Texas gezogen war, hatte er im Norden der USA, in Illinois, gelebt. Er war damals verheiratet, hatte einen kleinen Sohn und ein gut gehendes kleines Unternehmen, das darauf spezialisiert war, alte Häuser zu renovieren. Er war auch aktiv in einer religiösen Gemeinschaft und führte ein ganz normales Leben. Bis seine Ehe in die Brüche ging. Die Situation wurde für ihn unerträglich, und er wollte nur noch weg. Als ihm ein Kollege erzählte, dass es leicht sei, in Texas einen Job zu finden, ließ er alles stehen und liegen und machte sich auf nach Texas. Somit verlor er auch jeglichen Kontakt zu seiner Exfrau und seinem Sohn.

    Seine Eltern waren beide verstorben, und mit seinen Geschwistern hatte er schon lange keinen Kontakt mehr. Es war ganz einfach niemand mehr da von seiner Familie, denen er etwas bedeutete.

    Etwa zwei Wochen vor der Hinrichtung besuchte ich Clifford noch ein letztes Mal. Wie immer flog ich nach Houston, mietete am Flughafen ein kleines Auto und fuhr auf dem Highway 45 etwa eine Stunde Richtung Norden. Kurz nach der Ausfahrt Huntsville steht das Motel 6. Es ist eine billige, aber saubere Unterkunft. Die Tage verbrachte ich im Gefängnis, und mehr als ein sauberes Bett und eine gute Dusche brauchte ich nicht. Frühmorgens fuhr ich jeweils hinaus aufs Land. Die Straße nach Ellis One führte an großen Farmen mit Rindern vorbei und entlang endloser Felder. Die letzten Kilometer waren bewaldet, und man musste sehr aufpassen, die Einfahrt zu Ellis One nicht zu verpassen. Dies war das Gefängnis, in dem mehrere Hundert Männer einsaßen, die schwere Verbrechen begangen hatten. Sie waren alle entweder zum Tode verurteilt worden oder hatten lebenslange Haftstrafen ohne Bewährungsmöglichkeit abzusitzen.

    Wenn man mit dem Auto bei Ellis One ankam, musste man etwa 200 Meter vor der Einfahrt stehen bleiben. Von einem Turm wurde an einer Leine ein Korb heruntergelassen, in den man seinen Pass legen musste, woraufhin der Korb wieder hinaufgezogen wurde. Welch altmodische Einrichtung in diesem hoch technologischen Land! Wurde der Pass wieder im Korb heruntergelassen, hieß dies, man

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