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Ein Migrant ohne Namen: Roman
Ein Migrant ohne Namen: Roman
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eBook313 Seiten4 Stunden

Ein Migrant ohne Namen: Roman

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Über dieses E-Book

Ein Jugendlicher, geschätzt 15-jährig, wird von der Schweizer Grenzpolizei an der Grenze zu Österreich aufgegriffen. Da der junge Mann taubstumm ist, dazu schwer sehbehindert, scheint eine Kommunikation ausgeschlossen. Es ist ein Afrikaner, der auffällt, weil er ein Albino mit heller Haut und hellen Haaren ist. Er hat weder Gepäck, noch Papiere bei sich, auch kein Handy und kein Geld. Er hat auch keinen Namen. Bald wird ersichtlich, dass er eine geheimnisvolle Vergangenheit hat - und dass er ungewöhnlich intelligent ist. Die junge Tochter des Verwalter-Ehepaars des Asylantenheims findet, dass es jeder Mensch verdiene einen Namen zu haben, sie nennt ihn Albino. Allmählich lichtet sich der Schleier der Vergangenheit. Albino nimmt sein Leben resolut in die eigenen Hände, versucht es mit Intelligenz, List und Glück in eine erfolgreiche Richtung zu bringen. Das Leben von Albino nimmt Fahrt auf, wird immer dynamischer, entwickelt sich abenteuerlich. Wir verfolgen Albinos Leben über eine Zeitdauer von 10 Jahren, von 2010 bis 2020.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Jan. 2022
ISBN9783347526952
Ein Migrant ohne Namen: Roman
Autor

Hermann Grabher

HERMANN GRABHER, * 1940 in Altstätten (St.Gallen) Schweiz, verheiratet seit mehr als 50 Jahren, 2 erwachsene Kinder, wohnhaft im St.Galler Rheintal. Bis 1990 kaufmännischer Leiter der familieneigenen Firma für Maschinenbau (gegründet 1936 von seinem Vater), vorwiegend Export orientiert. 1991 Veräusserung seines Besitzanteils an seinen Bruder und Firmenaustritt. Ab 1991 freier Berater im Finanzbereich. Berufsbedingt intensive Reisetätigkeit weltweit . Interessiert an eigenen und fremden Kulturen, wie auch an der eigenen und an fremden Religionen. Wirtschaftsbewandert. Sportbegeistert.

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    Buchvorschau

    Ein Migrant ohne Namen - Hermann Grabher

    1 Im äussersten Osten der Schweiz

    Sommer 2010

    Der Postenchef des Schweizer Grenzwachtkorps III, Hans Gerber, rief den Verwalter des Asylantenheims Sonnenhügel mit Namen Meinrad Meier an. Gerber, ein senkrechter Mann mit karger Wortwahl vertrat die Ansicht, dass dies zum Stil eines sich vorbildlich gebenden staatlich angestellten Kontrollbeamten gehöre. Kurz und korrekt, so lautete seine Devise.

    „Hast du noch Platz für einen Neuen?"

    „Nur einen oder sind es mehrere?»

    „Es ist nur eine Person. Er ist allein. - Ja, du hast recht, dies ist sehr aussergewöhnlich! In der Regel klammern sich stets mehrere wie Kletten aneinander! Sie halten es mit den Wölfen. Die fühlen sich in der Meute auch am sichersten!»

    «Woher kommt er? Hat der Mann Papiere vorzuweisen? Wie alt ist er?»

    «Es ist ein UMA* ohne Papiere! Der Junge hat nicht mal einen Rucksack bei sich! Keine Tasche! Kein Handy! Ich schätze ihn etwa fünfzehnjährig, möglicherweise ein oder zwei Jahre älter! Vielleicht auch etwas jünger! Wir haben ihm die Fingerabdrücke genommen. Er ist in keinem System zu finden, ein unbeschriebenes Blatt!»

    «Ein grosses Kind eben, auf jeden Fall minderjährig! - Wir werden ihn unter diesen Umständen sehr wahrscheinlich nicht zurückschicken können…!»

    «Der Kerl ist in jeder Hinsicht sonderbar: Ein weisser Neger!»

    «Neger…! Hans, bitte halte dich zurück in deiner Wortwahl! Wie dir bekannt ist, sind wir unter Dauerbeobachtung!» Er räusperte sich. «Wie soll ich deine Andeutung verstehen?»

    «Er hat helle Haar mit einem Goldschimmer drin, sehr sonderbar anzusehen. Und er hat eine helle Haut, die heller ist als deine und meine. Und trotzdem entspricht sein Aussehen dem eines Negers! - Ich kann unter diesen Umständen wohl kaum von einem Schwarzen sprechen!»

    Meier hüstelte. «Ist er ein Albino?»

    «Ja, es scheint so. In Afrika gibt es mehr solche Menschen als anderswo. Dies habe ich einmal gelesen. Und sie werden in ihren Ländern entweder verfolgt oder vergöttert, mit entsprechenden Folgen für die Betroffenen.»

    «Bis jetzt ist mir noch kein Mensch mit Albinismus unter die Augen gekommen!»

    Hans Gerber pflichtete seinem Kollegen bei: «Das ist auch bei mir der Erste dieser Sorte. Doch dies ist noch nicht alles: Der junge Mann ist völlig taub, kann wohl nicht sprechen, welche Muttersprache auch immer er hätte. Und er scheint nur sehr reduziert sehen zu können. Scheint nahezu blind zu sein!»

    Nun entstand eine längere Pause. Dieser Tobak schien etwas gar stark für den Asylheimleiter Meier. Schliesslich meinte er: «Ziemlich viele Hypotheken! Eine solche Person dürfte nicht lange bei uns im Heim bleiben. Wir sind nicht für Behinderte eingerichtet. Dürfte wieder einmal eine grössere Aufgabe für unsere Spezialisten werden, die sich hiermit verwirklichen können!»

    Hans Gerber war nicht zu Spässen aufgelegt. Er führte zwar insbesondere während der Arbeit, wenn er im Dienst war, nach aussen eine raue Schale zur Schau, hatte aber grundsätzlich ein sanftes, menschenfreundliches Gemüt. «Dein Heim ist spezialisiert auf Jugendliche! Also bist du gewiss die richtige Adresse als erste Station. Da ist der Junge vorerst mal gut aufgehoben! – Ich bin dir sehr verbunden, Meinrad. Du hast ein Herz für Menschen in Not, so wie ich auch! Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was der arme Junge wohl schon alles durchgemacht hat, bis er hier war! Wie kann man nur Kinder ohne Begleitung, schutzlos, in solche nur allzu oft tödliche Abenteuer schicken!? Und dann ausserdem noch behindert! Nun, es wird einmal mehr deine Aufgabe sein, den Burschen so zu betreuen, dass möglichst keine traumatischen Schäden bei ihm zurückbleiben werden!»

    Wieder entstand eine kleine Pause, ehe Meier antwortete: «Ok, Hans, ich nehme ihn. Wir werden sehen, ob wir zumindest vorübergehend Freunde werden können!»

    «Ich danke dir!»

    *) UMA: In der Amtssprache unbegleiteter jugendlicher Asylant

    2 Das Haus Sonnenhügel

    Sommer 2010

    Noch am selben Tag, einige Stunden später, fuhr ein dunkelblauer Kastenwagen beim Asylantenheim Sonnenhügel vor. Dieses Auto war mit einer auffälligen gelben Beschriftung versehen: BORDER CONTROL. Jedermann im Haus Sonnenhügel kannte dieses Fahrzeug, weil es oft vorfuhr. Es wurden damit jeweils neue Heimbewohner hergeführt oder eben solche weggebracht. Die zwei uniformierten Beamten überbrachten in diesem Fall einen neuen Gast, der offensichtlich nichts hören konnte und auch nicht sprechen konnte, der überdies sichtlich grosse Mühe mit dem Sehen bekundete.

    Die Heiminsassen standen zusammen, tuschelten, als sie die Ankunft dieses Neuen registrierten: Ein Afrikaner mit heller Haut und hellem Haaren. Eine höchst sonderbare Gestalt!

    Eine derart grosse Mühe hatte Heimleiter Meinrad Meier noch nie je bekundet bei der Registrierung eines Neuankömmlings. Weil wortwörtlich Nullkommanull Kommunikation zustande kam. So war auch nach dem Interview - das eigentlich eben keines war - weder sein Name noch sein Alter und auch nicht seine Nationalität bekannt. Des Weiteren hatte man keine Ahnung, welches seine Muttersprache sei. Möglicherweise hatte der junge Mann gar keine, denn er war offensichtlich taubstumm. Weitere wichtige Umstände, die sonst stets abgefragt wurden und auf dem Registrationsblatt eingetragen wurden, blieben in diesem Fall ebenfalls im Dunkel. Zum Beispiel die Frage, weshalb er sein Heimatland verlassen habe und auf welcher Route er einlangte. Ob er Familie zuhause habe und es noch immer einen Kontakt zu ihr gebe. Und eine eminent wichtige Frage musste angekreuzt werden: Wollen sie in der Schweiz einen Asylantrag stellen? JA oder NEIN. Meinrad Meier kreuzte von sich aus ein JA an, was grundsätzlich kein korrektes Vorgehen war, eigentlich eine Missachtung von existierenden Vorschriften bedeutete. Meier nahm diese Übertretung bewusst in Kauf, um den jungen Asylanten vor zusätzlichen Problemen zu bewahren.

    Bei jungen Flüchtlingen bedeutet ihr mobiles Telefon üblicherweise ihr ein und alles. Aus ihren Handys können die Behörden wichtige Informationen herausholen. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen, kommen Lügen wie auch Wahrheiten ans Tageslicht. In diesem Fall war nichts zu holen, weil der junge Mann kein Handy besass.

    Sowohl der zuständige Immigrationsbeamte des Kantons mit Namen Ilg wie auch der Amtsarzt Dr. König, die ebenfalls für diese Registration herbeigerufen wurden, schüttelten resigniert ihre Köpfe. Weil auch sie noch nie je ähnliches erlebt hatten. Kommunikationsprobleme sind zwar Alltag in diesem Geschäft, denn wer spricht schon fliessend Afar, Nara oder Tigrinya, ausser eben Eingeborene in Eritrea!? Wer versteht Bomu, Bozo oder Bambara, Sprachen, die man nur in Mali kennt!? Aber meistens sind auch einige Brocken Englisch oder Französisch hier wie dort dabei, vor allem aber auch Hände und Füsse, die sinnerklärend auf beiden Seiten eingesetzt werden können, wie auch Gesten mit den Augen, dem Gesicht, vor allem auch und nicht zuletzt mit dem Körper.

    Der Immigrationsbeamte Anton Ilg bemerkte: «Wir können nicht erwarten, dass es in afrikanischen Staaten viele Spezialschulen oder Ausbildungsstätten für Taubstumme gibt, wo sie die Gebärdensprache und das Lippenlesen lernen können. Ohnehin nicht, wenn ein Mensch noch dazu mit einer Sehschwäche belastet ist, wie es bei ihm der Fall ist. Es ist wohl davon auszugehen, dass insbesondere auf dem Land Menschen mit Behinderungen dieser Art vielleicht kaum anders als Tiere aufwachsen. Man überlässt sie sozusagen sich selbst und damit dem Schicksal. Also ist es nur logisch, dass sie sich entsprechend verhalten! So wie es den Anschein macht, dürften wir hier mit einer grossen Aufgabe konfrontiert werden, wenn es darum geht, ihn zu sozialisieren, zu fördern und möglichst gut zu integrieren!»

    Nachdem der Arzt Dr. König die Untersuchung des Neuen abgeschlossen hatte, verlautete er: «Der Mann trägt saubere Kleider, ist bei bester Gesundheit – mit Ausnahme seiner offensichtlich angeborenen multiplen Behinderung! Das von dir geschätzte Alter – etwa 15-jährig, könnte stimmen. Ich habe keinerlei Zeichen von Unterernährung, Erschöpfung oder körperlicher Misshandlung feststellen können! – Ganz zum Unterschied vieler seiner Leidgenossen, die ja nur zu oft in einem erbärmlichen Zustand hier bei uns stranden! Ich frage mich: Wie ist so etwas möglich!?»

    Meinrad Meier, der Heimleiter, stellte nüchtern fest: «Was ich bis jetzt in diesen zwei Stunden, seit er hier ist, festgestellt habe: Es fehlt ihm offensichtlich massiv an Erziehung, auch an Anstand und Rücksicht. Er hat keine Kultur. Dabei hat ein solches Verhalten eigentlich nichts mit seiner afrikanischen Herkunft zu tun. Denn auch dort haben die Menschen Kultur, wenn auch eine andere als wir hier. Auch dort weiss man was Korrektheit, Anstand und Rücksicht ist. – Ich habe Bedenken, dass es für uns ein echtes Problem werden könnte, ihm beizubringen, wie man sich in unserer Gesellschaft, innerhalb unserer Gemeinschaft zu verhalten hat!»

    Der Arzt hörte aufmerksam zu. «Meinrad, ich bin erstaunt! Wie kommst du dazu nach dieser kurzen Zeit ein solch vernichtendes Urteil über seine Sozialkompetenz abzugeben? – Wie sollen wir dies verstehen?»

    «Folgendes hat sich zugetragen in der Zeit seit seiner Ankunft bis jetzt: Als meine Frau Pia ihn begrüsste, hat er ihre ausgestreckte Hand ignoriert und stattdessen ihr einen Klaps mit seiner flachen Hand auf ihren Hintern gegeben! He, der Bursche ist vielleicht fünfzehn! Wer tut das in diesem Alter, in seiner Situation? Und er hat an die Hauswand gepinkelt, obwohl wir ihm gerade Minuten zuvor die Toilettenräumlichkeiten gezeigt hatten. Zur Begrüssung erhielt er eine Dose Cola. Als er diese in drei Zügen leer getrunken hatte, warf er die leere Dose zum offenen Fenster hinaus in den Garten. Und er spuckt jede zweite Minute überall auf den Boden, egal wo er sich befindet, auch innerhalb des Gebäudes! Ein solches Verhalten ist nicht tolerierbar, das geht einfach nicht! Es ist furchtbar!»

    Nachdenklich schob Meinrad Meier noch nach: «Doch wer weiss, vielleicht sind wir naiv und er clever. Vielleicht ist es sein Versuch uns zu testen. Vielleicht hat er mehr drauf, als wir aktuell vermuten und er provoziert uns, aus welchem Grund auch immer! Ähnliches habe ich auch schon erlebt. Aber natürlich stets nur von Männern, bei denen alle Sinne intakt waren.»

    Der Amtsarzt König seufzte. «Ich habe einen schlimmen Verdacht! Könnte es vielleicht sein, dass der junge Mann gar nicht ein Migrant aus Afrika ist, sondern in Europa aufgewachsen ist, zum Beispiel in Frankreich? Und weil die Betreuung dort zu aufwendig wurde, weil sie ihn nicht mehr bändigen konnten oder wollten, haben ihn seine Eltern oder vielleicht sogar Behördenvertreter einfach über die Grenze zu uns rübergeschoben, sozusagen entsorgt! Nach dem Motto: Aus den Augen aus dem Sinn! Vielleicht auch weil allgemein bekannt ist, dass wir Behinderte gut unterstützen, gut schulen? Damit kann man das eigene öffentliche Sozialwesen finanziell wirksam entlasten!»

    Der Heimleiter Meier und der Immigrationsbeamte Ilg schreckten auf, schienen konsterniert ob der These des Arztes.

    Dr. König brummte: «Wie auch immer, er ist ein Mensch, der vielleicht Schlimmes hinter sich hat. Er benötigt unsere Hilfe, unsere Unterstützung. Also lasst uns vorurteillos an die Arbeit gehen! Als erstes braucht er eine Brille. Damit kann man ihm schon eine verbesserte Lebensqualität verschaffen!»

    Weil auch der Heimleiter Meier für den Moment keine andere Alternative zu erkennen vermochte, blieb auch ihm nichts anderes übrig als vorerst seinen Hauptfokus auf die Nächstenliebe zu setzen. «Es ist unsere Pflicht, unsere Verpflichtung den uns anvertrauten Menschen zu helfen, so gut wir dazu in der Lage sind!»

    In der Folge wechselte Meier nun die Tonart. «Wenden wir uns dem Praktischen zu: Wie sollen wir ihn nennen? Er sollte ja wohl einen Namen haben!»

    «Geben wir ihm eine Nummer!»

    «Eine Nummer, nein, furchtbar, wie im KZ bei den Nazis!»

    «Sollte es tatsächlich so sein, dass die Franzosen oder die Italiener ihn uns untergejubelt haben, könnten wir ihn zum Beispiel Franco oder Italo nennen!»

    «Spässe dieser Art sind in diesem Moment nicht angebracht, mein Freund!»

    «Seine Familie stammt mit grosser Wahrscheinlichkeit aus der Sahelzone. Also nennen wir ihn Sahel!»

    Alle Anwesenden lachten erneut, obwohl der Vorschlag absolut nicht als unterhaltender Witz gedacht war.

    Nun mischte sich die Tochter des Heimleiters ein, die dreizehnjährige Selina. Sie hatte die eigenartige, ungewöhnliche Prozedur auf Distanz mit einigem Interesse mitverfolgt. Als der Arzt den völlig nackten Mann hinter dem Vorhang untersuchte, konnte es das Mädchen nicht lassen, das Tuch - unbemerkt von allen - etwas bei Seite zu schieben. Und sie hatte pragmatisch festgestellt, dass an diesem Jungen alles dran war, was zu einem Mann gehört, auch wenn er äusserlich zugegebenermassen schon etwas sonderbar aussah. Insbesondere wenn man in Betracht zog, dass es sich um einen Afrikaner handelte, die erfahrungsgemäss von Gott nicht nur mit einer braunen, sondern oft sogar mit einer fast rabenschwarzen Haut versehen werden. Selina sagte: «Jeder Mensch braucht vor allem auch einen Vornamen. - Ich hätte einen Vorschlag: Nennen wir ihn Albino! Das klingt doch zumindest einigermassen melodisch!»

    Die Erwachsenen lachten erneut.

    Der Migrant wurde nun langsam unruhig und er machte Anstalten nächstens vielleicht gar auszubüxen. Seine Geduld schien am Endpunkt angelangt zu sein.

    Selina gab dem jungen Mann spontan die Hand und sagte: «Ab sofort heissest du Albino Sahel! Das ist doch gewiss ein netter Name!»

    Albino lächelte das erste Mal, seit er hier war. Offensichtlich hatte er erkannte, dass zumindest dieses junge Mädchen ihm wohlgesinnt war.

    Als auch die drei Männer ihm ihre Hände entgegenstreckten, schien dies für den Jungen eine sichtliche Erleichterung.

    Der Arzt zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf ihn: «Du, Albino!» Und er wiederholte es mehrere Male, sprach das Wort Albino mit deutlicher Lippenbewegung aus.

    Schliesslich verstand der junge Migrant diese Geste, zeigte auf sich und versuchte ebenfalls mit seinen Lippen das Wort Albino zu formen, was nach mehreren Anläufen sogar einigermassen gelang.

    Alle katschten.

    «Er hat es verstanden! Er hat es echt verstanden. Er ist lernfähig! Er ist zumindest kein elender Idiot!» Selinas Begeisterung war echt.

    3 Das Leben im Asylheim Sonnenhügel

    Sommer 2010

    Das Leben im Asylantenheim Sonnenhügel gestaltete sich auch in diesem Sommer nicht anders als in den Jahren zuvor. Kurz gesagt: Es war alles andere als einfach. Heimleiter Meinrad Meier, ein auf Gerechtigkeit bedachter, etwas knorriger Bergler und seine schöne, etwas zu Fülle neigende Gattin Pia, in Gemeinschaft mit dem Personal, hatten alle Hände voll zu tun, den Frieden im Haus zu bewahren. Immer wieder aufkeimende Händel zwischen einzelnen Heimbewohnern oder Gruppen waren eine Gefahr für die angestrebte Harmonie. Oft lagen die Nerven der Gäste blank. Die unterschiedlichen Nationalitäten, Ethnien, Individualitäten, Mentalitäten und nicht zuletzt auch Religionen bildeten eine ideale Voraussetzung den Kessel zum Kochen zu bringen, beziehungsweise am Kochen zu halten. Es ging der Heimleitung darum, alles zu unternehmen, dass der Kessel möglichst nicht überkochte. Vorteilhaft war, dass in diesem Heim nur Männer untergebracht waren. Nachteilig war, dass es vornehmlich junge Leute oder sogar Jugendliche waren, die naturgemäss schneller in Rage kommen können, die unvermittelter nicht mehr im Stande sind sich zu kontrollieren, die fallweise gewaltbereit sein können, insbesondere wenn sie nichts oder zumindest wenig zu verlieren haben.

    Meinrad Meier wollte sich die Probleme lieber nicht ausmalen, wären auch Frauen im Haus.

    Das Ehepaar Meier mit Personal stellte alle erdenklichen Anstrengungen an, damit es möglichst nicht zu tätlichen Handlungen kam. Denn wenn jeweils Blut floss, gab es nicht nur wegen der medizinisch notwendigen Versorgung die entsprechende Aufregung. Dann rückte – ausser der Ambulanz – eben auch immer wieder die Polizei an und Befragungen und oft auch Verhaftungen folgten. Dies kostete nicht nur Nerven, sondern vor allem auch Zeit und Energie. Und die Aktionen beschworen zusätzliche Emotionen herauf, auf die man lieber verzichtete.

    Dann waren da ausserdem noch die typischen Nebenschauplätze, die ausnahmslos in jedem Fall zu Verhaftungen führten: Drogenhandel. Handel mit Alkohol. Handel mit Waffen. Diebstähle. Verfehlungen dieser Art waren eher selten, aber sie kamen vor und mussten erst aufgedeckt werden.

    Inmitten dieses alltäglichen Trubels, der unsere reale Welt im Kleinformat abbildet, hatten sich auch die zwei Töchter des Leiterehepaars Meier zurecht zu finden: Die bald 14-jährige Selina und die bald 13-jährige Ladina. Denn die Familie hatte ihre Wohnung im Heim. Dabei floss Privates und Berufliches oft nahtlos ineinander, ohne dass dies angestrebt wurde. Der Erziehungsaufwand von Vater und Mutter Meier für ihre beiden Töchter war umständehalber auf das Nötigste beschränkt. Doch weil die Kinder vernünftig waren, konnten sich diese recht gut selbstverantwortlich managen. Die Empfehlung der Eltern Meier an ihre Töchter lautete: Freundlich zu den jungen Männern zu sein – aber stets auf Distanz zu bleiben. Weil die Mädels gute Schülerinnen waren, brauchte es auch diesbezüglich keine weiteren elterlichen Ermahnungen, dass die täglichen Schulaufgaben zuhause seriös zu erledigen seien. Selina und Ladina waren sich bewusst, dass sie sich mit gewissenhaftem Arbeiten und nachfolgenden positiven Leistungen vor allem selbst belohnten. Ihnen stand stets vor Augen, dass damit das Fundament für künftige berufliche Pläne gelegt würde. Und diese Pläne existierten durchaus schon in den Köpfen der beiden jungen Menschen.

    Im Asylantenheim Sonnenhügel regulierten Vorschriften das tägliche Leben. Diese mussten von allen Bewohnern ausnahmslos befolgt werden. Zum Beispiel war im Haus weder der Genuss von Alkohol noch von Nikotin erlaubt, Drogen ohnehin nicht. Wer Rauchen wollte, musste dies im Freien tun. Der Besitz gefährlicher Gegenstände wie Messer war strikte verboten. Jegliche Art von Waffen tabu. Jeder Heimbewohner hatte zu den fixierten Essenszeiten pünktlich anwesend zu sein. Ab 22.30 Uhr herrschte Nachtruhe. Die Bewohner wurden zu Arbeitseinsätzen eingeteilt, womit man auch versuchte der Eintönigkeit und Langeweile zu begegnen. Zum Beispiel Reinigungsarbeiten im Haus. Mithilfe in der Wäscherei oder der Küche. Gartenarbeiten und ähnliches. Wer sich über diese Vorschriften hinwegsetzte, wurde sanktioniert. Die Strafen waren zum Beispiel der Entzug von Freigang, der Ausschluss bei sportlichen Aktivitäten oder die Verweigerung von Nachtisch, der am Ende jeder Hauptmahlzeit stets ein Highlight für die Leute darstellte. Denn Süsses mochten sie alle.

    Nun denn, die Frage stand im Raum: Wie würde es möglich sein, dem kommunikationsresistenten Outsider Albino Sahel diese Vorschriften beizubringen? Die Sache schien vorerst kompliziert zu sein. Denn wenn immer der junge Mann keine Lust für etwas hatte, stellte er sich stur und mimte den Arglosen, der nichts kapieren wollte. Doch Meier und sein Personal erkannte sehr schnell, dass Albino wohl ein ziemlich intelligentes Schlitzohr war. Wenn der Kerl den Trottel, den Nixverstan zur Schau stellte, tat er dies, um für sich damit nach Möglichkeit einen Vorteil herauszuholen. Meier gab die harte Devise an das Personal durch, dass keiner der Migranten, auch Albino nicht, niemandem der Belegschaft auf der Nase herumtanzen dürfe. Andernfalls eine Strafe fällig sei.

    Albino spielte narrisch gerne Fussball, obwohl er als Behinderter arg handicapiert war, weniger durch seine Gehörlosigkeit, mehr durch seine Sehschwäche. Denn beim Fussballspielen musste er seine neue Brille aus naheliegenden Gründen ablegen. Dennoch trocknete er auf dem Spielfeld dank seiner technischen Fertigkeit alle seine Kollegen mit hinten links ab, sobald er den Ball an den Füssen hatte. Weil er ein solch exzellenter Fussballer war, stieg sein Status bei den Kollegen merklich an.

    Es war schon nach kurzer Zeit ersichtlich, dass Albino friedlich war. Wenn es Raufhändel gab und Albino die Notwendigkeit sah einzugreifen, war er trotz seiner Einschränkungen und seiner Jugendlichkeit meist der Grösste und Kräftigste. Und er zögerte nicht zuzupacken, wenn es darum ging Streit zu schlichten. Niemand wagte es, sich mit ihm anzulegen.

    Die kommunikative Verständigung zwischen Albino und den anderen Asylanten war gar nicht so hoffnungslos. Mit Zeichen und Gesten wurde mehrheitlich jenes rübergebracht, was rüberzubringen war. Weil auch die anderen Migranten von unterschiedlichen Herkunftsländern stammten und somit unterschiedliche Muttersprachen hatten, mussten sich auch diese untereinander nicht selten mit Deuten, mit Zeichen und Gesten behelfen.

    Aufgrund dieser Konstellation erlangte Albino erstaunlicherweise schon nach kurzen Wochen im Haus eine Art Leithammel-Position, obwohl er der jüngste Asylant im Haus war. Das Personal des Sonnenhügels erkannte: Albino hatte schon nach kürzester Zeit die Regeln des Hauses lückenlos intus. Und weil der Kerl die entsprechenden Strafen bei Übertretungen hasste und somit zu meiden versuchte, gebärdete er sich schon bald als Musterknabe und Vorbild. Albino lag viel daran das Dessert nach jeder Mahlzeit verdient zu haben. Und vom Fussballspiel ausgeschlossen zu werden, wäre für ihn einer Katastrophe gleichgekommen.

    Selina hatte ein Hobby, das schon beinahe eine Art Leidenschaft war: Das Schachspielen. Sie setzte sich an den Tisch zum Brettspiel, wann immer sie freie Zeit hatte und sie einen Spielpartner fand. Meist spielte sie mit ihrer Schwester Ladina, die allerdings keine ernsthafte Gegnerin war. Sie spielte auch mit ihrem Vater, den sie in den meisten Fällen besiegte. Manchmal fanden sich auch Leute des Personals, die versuchten, sich mit ihr zu messen, eher selten Heiminsassen. Nur wenige der Asylanten kannten dieses Brettspiel überhaupt. Wer auch immer sich wagte gegen Selina anzutreten, war kaum je in der Lage sie ernsthaft in Verlegenheit zu bringen.

    Einmal beobachtete Albino ein Spiel während einer Stunde mit grosser Aufmerksamkeit. Als Selina und ihr Gegner das Game beendet hatten, deutete Albino, er wolle Selina herausfordern. Selina war sehr überrascht. «Kannst du etwa Schachspielen?» Albino verstand Selinas Frage ohne Worte und antwortete mit einem Lächeln.

    Albino stellte Selina innerhalb einer halben Stunde Schachmatt.

    Selina war nicht mal besonders wütend über ihre Niederlage, sondern eher tief beeindruckt. Sie eilte unverzüglich zu ihrem Vater: «Albino hat

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