Ein Kind klagt an: Sophienlust Extra 123 – Familienroman
Von Gert Rothberg
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Über dieses E-Book
In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg.
Schwester Regine saß auf einer Bank im Park von Sophienlust. Sie liebte diese schattige Bank unter der uralten Buche ganz besonders. Von hier aus konnte sie gut die Kinder beobachten, die auf der Wiese spielten. Heute hatten sich dort fast ausschließlich kleine Mädchen eingefunden, die bei dem schönen Sommerwetter ihre Puppen gebracht hatten. Liebevoll wurden die großen und kleinen Püppchen auf die Wiese gesetzt, und jetzt liefen die kleinen Puppenmütter davon, um Blumen für Kränze zu suchen. Das war ein Lachen und Schwatzen! Schwester Regine ließ für einen Augenblick ihre Näharbeit in den Schoß sinken und sah lächelnd zu den blonden und braunen Mädchenköpfen hinüber. Wie froh und glücklich die Kinder waren. Für einen Fremden musste es fast so aussehen, als gäbe es hier in Sophienlust wirklich nur glückliche Kinder. Nicht ganz umsonst hatte Sophienlust den Namen »das Heim der glücklichen Kinder« erhalten. Alles, was nur möglich war, wurde hier für die elternlosen Kinder oder für solche Kinder, die niemand haben wollte, getan. Schwester Regine wusste am besten, wie viel Leid und Elend sich oft hinter einem Kinderschicksal verbarg. Viele Kindertränen hatte sie schon gesehen und viel Trauer in den Kinderaugen gelesen. Meistens fühlten sich die Kinder in Sophienlust sehr wohl und glücklich, aber hin und wieder gab es auch Kinder, die immer traurig waren und nur selten lachten. Diese Kinder hielten sich stets im Hintergrund. Dann hieß es aufzupassen, damit diese Kinder nicht zu kurz kamen. Gerade diese Kinder brauchten doppelte Liebe und Aufmerksamkeit. Schwester Regine wurde das Herz oft schwer, wenn sie an diese Kinder dachte. Sie hätte gern sehr viel mehr für diese Sorgenkinder getan, aber das war sehr schwer, und außerdem sollte sie ihre Liebe gerecht unter alle Kinder verteilen.
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Buchvorschau
Ein Kind klagt an - Gert Rothberg
Sophienlust Extra
– 123 –
Ein Kind klagt an
Gert Rothberg
Schwester Regine saß auf einer Bank im Park von Sophienlust. Sie liebte diese schattige Bank unter der uralten Buche ganz besonders. Von hier aus konnte sie gut die Kinder beobachten, die auf der Wiese spielten. Heute hatten sich dort fast ausschließlich kleine Mädchen eingefunden, die bei dem schönen Sommerwetter ihre Puppen gebracht hatten. Liebevoll wurden die großen und kleinen Püppchen auf die Wiese gesetzt, und jetzt liefen die kleinen Puppenmütter davon, um Blumen für Kränze zu suchen.
Das war ein Lachen und Schwatzen! Schwester Regine ließ für einen Augenblick ihre Näharbeit in den Schoß sinken und sah lächelnd zu den blonden und braunen Mädchenköpfen hinüber. Wie froh und glücklich die Kinder waren. Für einen Fremden musste es fast so aussehen, als gäbe es hier in Sophienlust wirklich nur glückliche Kinder. Nicht ganz umsonst hatte Sophienlust den Namen »das Heim der glücklichen Kinder« erhalten. Alles, was nur möglich war, wurde hier für die elternlosen Kinder oder für solche Kinder, die niemand haben wollte, getan. Schwester Regine wusste am besten, wie viel Leid und Elend sich oft hinter einem Kinderschicksal verbarg. Viele Kindertränen hatte sie schon gesehen und viel Trauer in den Kinderaugen gelesen.
Meistens fühlten sich die Kinder in Sophienlust sehr wohl und glücklich, aber hin und wieder gab es auch Kinder, die immer traurig waren und nur selten lachten. Diese Kinder hielten sich stets im Hintergrund. Dann hieß es aufzupassen, damit diese Kinder nicht zu kurz kamen. Gerade diese Kinder brauchten doppelte Liebe und Aufmerksamkeit.
Schwester Regine wurde das Herz oft schwer, wenn sie an diese Kinder dachte. Sie hätte gern sehr viel mehr für diese Sorgenkinder getan, aber das war sehr schwer, und außerdem sollte sie ihre Liebe gerecht unter alle Kinder verteilen. Da sie wusste, dass auch das beste Heim kein Elternhaus ersetzen konnte, war Schwester Regine immer sehr glücklich, wenn einer ihrer Schützlinge ein neues Zuhause fand. Es gab ja viele Ehepaare, die ein Adoptivkind suchten. Trotzdem dauerte es oft sehr lange, bis es wirklich zu einer Adoption kam.
Jetzt seufzte Schwester Regine unwillkürlich laut auf. Wie lieb- und gedankenlos doch die Menschen oft waren. Für viele war so ein Kind weiter nichts als ein Objekt. Man nahm es zunächst einmal mit, und wenn das Kind nicht zusagte, dann brachte man es einfach wieder in das Heim zurück.
Die unmöglichsten Dinge hatte die Kinderschwester schon erlebt. Die Leidtragenden waren dabei natürlich immer die Kinder, die mit so großen Hoffnungen zu den neuen Eltern gegangen waren, weil sie sich alle nach einem Elternhaus und nach Liebe sehnten.
Es konnte gar nicht ausbleiben, dass die Gedanken Schwester Regines jetzt zu der kleinen Karin abschweiften, die vor einer guten Woche von einem Ehepaar abgeholt worden war. Gerade für Karin wünschte sich Schwester Regine sehr liebevolle Menschen, die es verstanden, auf das kleine vierjährige Mädchen einzugehen, das ganz besonders scheu und unbeholfen war und auch nicht so ansprechend wirkte wie die anderen Kinder. Hinzu kam, dass Karin bereits mit einem Herzfehler geboren worden war. Wie sich jetzt bei einer sehr gründlichen Untersuchung herausgestellt hatte, würde eine Operation das Kind retten können. Das Ehepaar, das Karin vor Kurzem zur Probe mitgenommen hatte, sollte sich finanziell gut stehen, sodass die Möglichkeit bestand, dass es etwas für Karin tat.
Arme kleine Karin, dachte Schwester Regine bedrückt. Das Schicksal dieses Kindes lag ihr ganz besonders am Herzen. Karin war noch keine zwei Jahre alt gewesen, als sie nach Sophienlust gebracht worden war. Ein Kollege von Frau Dr. Anja Frey, der in einem großen Kinderkrankenhaus als Chefarzt arbeitete, hatte die junge Ärztin auf das Kind aufmerksam gemacht, weil er gewusst hatte, dass Dr. Anja Frey die Kinder in Sophienlust ärztlich betreute. Es war ihm nicht schwergefallen, die Ärztin für das Kind zu interessieren. Als diese daraufhin mit Denise von Schoenecker über die kleine Karin gesprochen hatte, war Denise sofort bereit gewesen, das Kind in Sophienlust aufzunehmen.
Karins Mutter war bei der Geburt des Kindes gestorben. Sie war noch sehr jung gewesen, fast selbst noch ein Kind. Ihre Familie hatte sich vollkommen von ihr losgesagt gehabt, und der Vater von Karin, ebenfalls noch sehr jung, war schon lange vor Karins Geburt tödlich verunglückt. Für das junge Mädchen waren die vielen Schicksalsschläge wohl zu viel gewesen. Die junge Mutter war seelisch und körperlich ein gebrochener Mensch gewesen, als Karin zur Welt gekommen war. Sie hatte für immer die Augen geschlossen, als Karin ihren ersten Schrei getan hatte.
Seitdem Karin nach Sophienlust gekommen war, hatte Denise von Schoenecker sich immer wieder bemüht, für Karin ein liebevolles Plätzchen zu finden. Es war ihr großer Wunsch gewesen, für Karin Adoptiveltern zu gewinnen. Aber das war bei diesem Kind ganz besonders schwer gewesen. Wer nahm schon ein Kind, das nicht gesund war? Gewiss konnte Karin gesund werden, aber eine Operation würde sehr viel Geld kosten, da diese Operation nur in Amerika durchgeführt werden konnte.
Schwester Regine blickte geistesabwesend zu der dichten Laubkrone über sich empor. Sie dachte daran, wie glücklich Denise von Schoenecker gewesen war, als vor etwa einem halben Jahr ein älteres Ehepaar bereit gewesen war, Karin bei sich aufzunehmen. Die beiden hatten erklärt, dass sie Karin adoptieren wollten, wenn sie sich gut bei ihnen einleben würde. Doch leider war das Kind schon nach drei Wochen nach Sophienlust zurückgebracht worden. Karin entspreche nicht den Anforderungen, die man an ein Kind stelle, hatte es geheißen. Sie sei zu still und scheu, sie spreche kaum und mache immer einen bedrückten und traurigen Eindruck. Man wolle aber ein fröhliches und anschmiegsames Kind haben.
Alle Einwendungen von Denise, dass man es doch noch einmal versuchen solle, und dass das Kind Zeit brauche, um sich einzugewöhnen, war umsonst gewesen.
Karin aber war danach noch verschlossener und noch scheuer geworden. Sie kam seitdem allen Menschen mit Misstrauen entgegen. Es sah ganz so aus, als habe sie seitdem Angst, sich noch einmal an einen Menschen anzuschließen. Sogar den anderen Kindern war sie oft aus dem Weg gegangen. Nur zu Denise und zu ihr, Schwester Regine, hatte sie sich etwas zugänglicher gezeigt.
So war es kein Wunder, dass Denise von Schoenecker von ganzem Herzen wünschte, dass Karin diesmal mehr Glück mit ihren zukünftigen Adoptiveltern habe. Wenn Schwester Regine aber an das Ehepaar Radtke dachte, das Karin in seinem großen dunklen Mercedes abgeholt hatte, dann wurde ihr das Herz schwer. Frau Radtke hatte gar keinen günstigen Eindruck auf sie gemacht. Sie hatte etwas oberflächlich und affektiert auf sie gewirkt. Frau Radtke war bestimmt kein mütterlicher Typ. Schwester Regine konnte sich ganz und gar nicht vorstellen, dass sie es verstand, auf ein Kind wie Karin einzugehen.
Bis jetzt hatte Schwester Regine noch nicht mit Denise von Schoenecker über ihre Befürchtungen gesprochen, aber sie wusste, dass ein so feinfühliger Mensch wie Denise von Schoenecker ebenfalls oft besorgt an das kleine Mädchen dachte. Sie, die selbst Schweres hatte durchstehen müssen, konnte sich wunderbar in fremdes Leid hineinversetzen und nahm an jedem Schicksal regen Anteil.
Schwester Regine wusste, dass hinter Denise von Schoenecker eine harte Zeit gelegen hatte, bevor sie ihren jetzigen Mann, Alexander von Schoenecker geheiratet hatte. Mit ihrem ersten Mann, Dietmar von Wellentin, war Denise nur ein kurzes Glück beschieden gewesen. Dietmar war sehr jung gestorben, und da Denise von seiner Familie nicht anerkannt worden war, weil sie Tänzerin gewesen war, hatte sie nach dem Tod ihres Mannes völlig mittellos dagestanden. Sie war gezwungen gewesen, ihren kleinen Sohn Nick in ein Kinderheim zu geben, um den Lebensunterhalt für sich und das Kind verdienen zu können. Erst nach dem Tod von Sophie von Wellentin, der Großmutter ihres verstorbenen Mannes, war es ihr besser gegangen. Die alte Dame hatte ihren Urenkel Dominik, oder Nick, wie er genannt wurde, das Gut Sophienlust mit dem Wunsch vererbt, aus dem alten Herrenhaus ein Heim für elternlose Kinder oder solche, die Geborgenheit und Liebe benötigten, zu machen. Bis zur Großjährigkeit ihres Sohnes Nick verwaltete Denise von Schoenecker den Besitz.
Schwester Regine war so in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie erschrocken zusammenfuhr, als die Kinder jetzt laut schreiend den breiten Kiesweg, der zum Herrenhaus führte, entlangstürmten. »Tante Isi, Tante Isi«, schrien sie dabei. »Fein, Tante Isi, dass du zu uns in den Park kommst. Hast du ein bisschen Zeit für uns? Spielst du etwas Schönes mit uns?« So riefen die Kinder durcheinander und drängten sich dicht an die schlanke schöne Frau heran, ihre geliebte Tante Isi.
Denise von Schoenecker strich liebevoll über die blonden und braunen Kinderköpfe. »Heute müsst ihr allein spielen, Kinder. Ich bin nur in den Park gekommen, weil ich etwas mit Schwester Regine zu besprechen habe. Sie ist doch hier draußen bei euch?«
»Sie sitzt dort auf der Bank«, riefen alle im Chor und deuteten auf die Bank, auf der Schwester Regine saß. »So, dann lauft nur wieder zu euren Puppen und spielt schön.«
Die Kinder sahen etwas enttäuscht zu Denise von Schoenecker auf, aber dann liefen sie lachend auf die Wiese zurück, während Denise von Schoenecker mit raschen Schritten auf die Bank zuging,