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Foodguide Jüdische Küche: Geschichten – Menschen – Orte – Trends
Foodguide Jüdische Küche: Geschichten – Menschen – Orte – Trends
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eBook713 Seiten6 Stunden

Foodguide Jüdische Küche: Geschichten – Menschen – Orte – Trends

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Über dieses E-Book

"Jüdische Küche ist heute in aller Munde: Kochbücher, Filme und Szenerestaurants vermitteln ein schillerndes Bild – das aber immer nur einen kleinen Ausschnitt zeigt. Die jüdische Küche ist ebenso alt wie vielfältig, weitverzweigt wie mehrdeutig. Vor der Shoah war sie über fast ganz Europa verbreitet.
Dieser Foodguide erkundet diesen Kosmos in seiner Verwobenheit mit den jeweiligen nationalen Küchen und zugleich mit der jüdischen Kulturgeschichte. Was ist heute noch oder wieder da? Wo kann man Jüdisches probieren und wie schmeckt es? Das Spektrum reicht von koscherem Sushi in Marseille über Bagel und Pastrami in Berlin bis zu deftigem Tscholent in Budapest oder gefülltem Gänsehals in Krakau und der israelisch geprägten Levante-Küche. Dabei schauen die Autorinnen und Autoren nicht nur in die Kochtöpfe, sondern auch in die Küchen, sprechen mit Gästen, Köchinnen und Köchen – eine Einladung, über das Essen die Vielfalt jüdischer Kulturen in Europa zu entdecken."
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum27. Jan. 2023
ISBN9783955656034
Foodguide Jüdische Küche: Geschichten – Menschen – Orte – Trends
Autor

Gunther Hirschfelder

Gunther Hirschfelder hat seit 2010 die Professur für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg inne. Publikationen u. a.: Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute; Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (2 Bde.)

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    Buchvorschau

    Foodguide Jüdische Küche - Gunther Hirschfelder

    Jüdische Esskultur: Geschichte(n) — Speisen — Imaginationen. Eine Einführung

    ECKPFEILER EINER JÜDISCHEN KULINARIK

    Jüdische Kultur bewegt sich in Deutschland und Europa in einem Spannungsfeld: Wachsender Antisemitismus drängt sie in die Defensive und oft auch ins Verborgene. Gleichzeitig wird sie zur Identifikationsfolie einer jungen, selbstbewussten Generation.

    Im „FoodGuide Jüdische Küche Geschichten – Menschen – Orte – Trends" steht das Essen im Mittelpunkt. Ernährung ist Spiegel der Kultur. Alle Menschen haben zu allen Zeiten gegessen; daran lassen sich nicht nur Traditionen, sondern auch Alltage, Ideale, Hierarchien, Wünsche und Beharrungstendenzen ablesen. Schließlich kann man über das Essen jüdische Kultur auch in ihren täglichen Ausprägungen aufzeigen. Dabei sind die Nachrichten aus der Küche keine Skandale, sondern immer gut: Gleich gibt es etwas Leckeres! Wobei dies in der Vergangenheit oftmals nicht so selbstverständlich war wie in der westlichen Gegenwart. Bei der Beschäftigung mit jüdischen Esskulturen sieht man schließlich: Jüdische Küche war und ist eng verwoben mit anderen europäischen Küchen, sie haben sich stets gegenseitig beeinflusst, sind ohne einander gar nicht verstehbar und werden hier deshalb als Bedeutungs- und Bedingungsgeflecht gelesen.

    Die jüdische Küche gibt es ebenso wenig wie die Jüdin, den Juden oder das Judentum. Jüdische Esskultur ist so vielfältig und mitunter widersprüchlich wie die Menschen, die sie zubereiten und leben. Sie ist streng koscher oder koscher light, sephardisch und aschkenasisch, orthodox, liberal und alles dazwischen, israelisch und arabisch, zentralasiatisch, italienisch und amerikanisch, oft urban, alltäglich und feierlich, Produkt von Starköchen und alltäglicher Happen zwischendurch. Jüdische Esskultur war und ist durch die Kaschrut, durch religiöse wie weltliche Feier- und Fastentage geprägt. Heute werden die allgemeinen oder feiertagsgebundenen Speisevorschriften teils strikt gehalten, teils weit ausgelegt, sodass sich Alltags- von Festtagsküche mitunter kaum noch unterscheidet.

    Jüdische Esskultur ist uralt und erfindet sich dennoch ständig neu, gilt oftmals als traditionell, strikt und verstaubt, kommt aber trendy und supermodern auf den Tisch. Jüdische Esskultur ist Barcelona und Jerusalem, Frankfurt und Tel Aviv. Wer sich auf die Suche nach ihr macht, muss ins osteuropäische Schtetl um die Wende zum 20. Jahrhundert reisen oder auch in das Strasbourg der Gegenwart. Denn wie jüdisches Leben war jüdische Küche nicht nur – sie ist und isst. Und zwar sehr lebendig, vieldeutig und nahbar. Jüdische Esskultur findet sich nicht nur in allen Zeiten, sondern in aller Welt. Überall dort, wo Jüdinnen und Juden und alle Menschen, die sich als solche verstehen, leben und kochen. Diaspora, Migration und Vertreibung hatten zur Folge, dass sich aus der Verbindung regionaler und lokaler Küchen mit überlieferten Rezepten und Speisegesetzen ganz eigene Formen und Küchenstile entwickelten. Kaum eine Küche ist so vielfältig und abwechslungsreich wie die jüdische. Fusion ist jüdischen Kochtraditionen von jeher vertraut; moderne Foodtrends wie die Levante-Küche bringen eine eklektizistische Mischung aus Gerichten und Geschmackswelten der östlichen Mittelmeergebiete und des arabischen Raumes auf den Teller. Die Frage, wer den Hummus, die Falafel oder Pita erfunden hat, spielt hier kaum eine Rolle – Hauptsache es schmeckt, und das ist meistens der Fall.

    Der FoodGuide lädt Sie auf eine kulinarische Reise durch das jüdische Europa und seine Esskulturen ein. Bestimmt kommt dabei Appetit auf, und zum Fernweh gesellt sich der Eindruck, Bekanntes im Lichte jüdisch-europäischer kulinarischer Verflechtungskulturen neu zu betrachten.

    Lassen Sie es sich schmecken!

    Der große Rahmen — Kaschrut & koscher

    Wie in allen Küchensystemen finden sich auch in den jüdischen Esskulturen Vorschriften, die identitätsbildend waren und heute noch sind. Diese Gesetze der jüdischen Küche – Kaschrut genannt – legen in Geboten und Verboten fest, welche Speisen nach religiösem Verständnis zum Verzehr geeignet sind. Etymologisch lässt sich das Wort Kaschrut von kascher herleiten, was so viel wie geeignet, tauglich bedeutet. Im Jiddischen wurde aus dem Hebräischen kascher dann koscher.

    In der Systematik einer koscheren Küche sind neben den einzelnen Lebensmitteln auch ihre Kombination und die Art der Verarbeitung beim Kochen zu beachten. Jüdische Speisegesetze gehen also weit über das rein Stoffliche hinaus. Die Kaschrut teilt Lebensmittel grundsätzlich in drei Gruppen ein:

    1.koscher = Speisen bzw. Lebensmittel sind zum Verzehr geeignet.

    2.treife = Nicht-Koscheres. Es darf von observanten Jüdinnen und Juden nicht verzehrt werden.

    3.parwe = neutrale Lebensmittel. Können mit Fleisch und Milch kombiniert werden.

    Neben der Tauglichkeit der Lebensmittel sind auch geeignetes Geschirr, der richtige Zeitpunkt der Ernte und die Überwachung des Herstellungsprozesses durch eine:n Rabbiner:in Merkmale korrekter koscherer Ernährung. Auch textile Stoffe, religiöse Gegenstände oder eine Tora-Rolle können koscher sein – oder eben nicht. Es ist also gar nicht so einfach herauszufinden, wann, wie und ob ein Lebensmittel oder eine Speise überhaupt koscher ist.

    TIERE ALS NAHRUNG

    Grundsätzlich ist das Fleisch von Raubtieren – egal, ob Vogel, Fisch oder Landräuber – treife und darf nicht verzehrt werden. Gleiches gilt für Aas und gewaltsam zu Tode gekommene Tiere, beispielsweise durch Jagd. Treife leitet sich vom hebräischen Terefah ab, was Gerissenes, also im erweiterten Sinn gewaltsam zu Tode Gekommenes bedeutet.

    Die Gebote zur Frage, welche Tiere verzehrt werden dürfen, finden sich in der Tora mehrfach, etwa bei Wajikra/Levitikus/3. Mose 11,3 ff. Danach sind wiederkäuende, pflanzenfressende Paarhufer koscher, beispielsweise Rinder, Ziegen, Schafe oder auch Rehe. Treife sind Schwein, Hase und ein kleiner Nager, der Klippdachs, da sie nicht alle genannten Kriterien erfüllen. Besonders beim (Haus-)Schwein begegnen immer wieder Deutungsversuche, weshalb ein so genügsames Nutztier tabuisiert wurde. Diese Erklärungen führen nicht selten hygienische Gründe ins Feld und beziehen sich beispielsweise auf Trichinen (Fadenwürmer), die Schweine befallen und leicht auf den Menschen übertragbar sind. Allerdings werden Trichinen durch einfache Veredelungsprozesse wie Pökeln oder Kochen abgetötet und somit unschädlich. Das Hygiene-Argument ist also nicht wirklich tragfähig. Überzeugender sind die theologischen Antworten: Es handelt sich um ein direktes Gebot des Schöpfers, das keinen weiteren Spielraum für Interpretationen erlaubt. Ziel dieser Speisevorschriften ist eine Heiligung der menschlichen Seele – nicht des Körpers! Ohne die geistig-seelischen Gedankenwelten ist jüdische Esskultur nicht begreifbar.

    Einfacher gestaltet sich das Gebot für Tiere, die im Wasser leben: Fische sind zum Verzehr geeignet, sofern sie Schuppen und Flossen besitzen, wie etwa Karpfen, Lachs oder Hering. Für die weiteren im Wasser lebenden Säuge-, Schalen- und Kriechtiere wie Wale, Hummer oder Krabben und Muscheln bedeutet dies, dass sie nicht koscher sind. Eine Ausnahme der Flossen-und-Schuppen-Regel, die einer älteren rabbinischen Auslegung geschuldet ist, stellt der Aal dar: Zwar handelt es sich biologisch gesehen um einen koscheren Fisch, aber seine Schuppen sind so klein, dass sie kaum zu erkennen sind und der Aal nach wie vor als treife gilt. Von den Vögeln sind Greifvögel und Aasfresser treife, z. B. Adler, Geier oder Rabe. Demnach wären eigentlich alle anderen Geflügelarten koscher. Jedoch grenzt auch hier eine rabbinische Auslegung ein, die vage besagt, dass nur jenes Geflügel koscher ist, das bereits von früheren jüdischen Gemeinden verzehrt wurde. Zudem wurde in antiker rabbinischer Literatur beschrieben und angenommen, dass mit dem Verzehr des Fleisches, das Teil des menschlichen Körpers wird, der Mensch sich auch einen Teil des Charakters der Tiere einverleibt. Daher sind als gewalttätig angesehene Tiere tabu, da jüdische Menschen in der rabbinischen Idealvorstellung friedlich leben und das Leben achten sollten. Dies bedeutet, dass etwa Huhn, Ente, Gans und Taube koscher sind, seit etwa 40 Jahren auch die Wachtel. An diesem Beispiel lässt sich die Plastizität innerhalb des Judentums veranschaulichen. Wird es womöglich auch der Aal einmal auf die koscher-Liste schaffen?

    MILCHIG UND FLEISCHIG

    Zentral für die jüdische Küche ist die Unterteilung in fleischige und milchige Ausgangsprodukte – sie dürfen in der koscheren Küche auf keinen Fall kombiniert werden. Die Tora führt entsprechende Regeln mehrfach auf, am exponiertesten in den Geboten zu den Hochfesten: „Du sollst das Böcklein nicht kochen in seiner Mutter Milch." (Shemot/Exodus/2. Mose 23,19). Die Eindeutigkeit dieses Gebotes führt in gläubigen Haushalten oft dazu, dass auch das Kochgeschirr farblich und räumlich getrennt wird. Komplett ausgestattete separate milchig- und fleischig-Küchen in ein und demselben Haushalt sind bei den Strenggläubigen Standard. In der koscheren Gastronomie werden meist entweder milchige oder fleischige Speisen angeboten. Neue Produkte wie vegane Kochsahne auf Sojabasis eröffnen in jüngster Zeit ganz neue Möglichkeiten.

    Lebensmittel, die weder milch- noch fleischhaltig sind, dürfen mit allen anderen koscheren Lebensmitteln kombiniert und verzehrt werden. Es handelt sich um neutrale Lebensmittel, die als parwe bezeichnet werden. In diese Kategorie fallen Fisch, Geflügel- und Fisch-Eier sowie Hülsenfrüchte, zudem Getreide, Obst und Gemüse.

    SCHÄCHTEN

    Das koschere Schlachten eines Tieres ist bedeutend für die Einhaltung der Kaschrut und wird als Schächten bezeichnet. Der Schächter/die Schächterin oder Schochet muss in der Gemeinde bzw. beim zuständigen Rabbinat bekannt und anerkannt sein. So muss der Schochet – oftmals war es der Gemeinde-Rabbiner oder Kantor in einer Doppelfunktion, heute sind es meist professionell geschulte Schlachter:innen, die unter rabbinischer Aufsicht stehen, im Geist des Mahidrim (der Gewissenhaftigkeit) handeln und darauf achten, dass das zu schächtende Tier so wenig wie möglich leidet. Die Vermeidung von Leid ist ohnehin der zentrale Aspekt, weshalb gejagtes und gewaltsam gewonnenes Fleisch treife ist.

    Beim Schächten wird das Tier kopfüber oder auf der Seite liegend positioniert. Mit einem speziellen Messer, dessen geprüfte Klinge sauber, scharf und unbeschädigt sein muss, werden dann in einem schnellen Schnitt Luft- und Speiseröhre, beide Halsschlagadern und benachbarte Venen samt Vagus-Nerven durchschnitten. Durch das rasche Ausbluten und den unmittelbaren Blutdruckabfall tritt eine schnelle Betäubung ein, und nach wenigen Augenblicken ist das Tier tot. Das Ausbluten ist für das folgende Koschermachen wichtig, weil es verboten ist, Blut zu verzehren, denn Blut gilt als Sitz der Seele des Tieres. Nach dem Schächten wird das Messer auf Unversehrtheit geprüft. Daneben wird eine Fleischbeschau vorgenommen, um sicherzustellen, dass es sich um ein gesundes Tier handelt. Ist das Tier frei von Makel, so wird es von anwesenden Rabbiner:innen als glatt koscher deklariert, was auf die gleichmäßig glatte Oberflächenstruktur einer gesunden Tierlunge zurückzuführen ist. Stellt sich ein noch so kleiner Makel heraus, eine Missbildung, Perforierung oder anderweitige Verletzung, wird das Fleisch als normal-koscher deklariert. Bevor das Fleisch abschließend zum Verzehr freigegeben wird, müssen die zerlegten Teile mit frischem Wasser gewaschen und gespült werden und mindestens eine Stunde in grobem Salz eingelegt werden, um auch das im Gewebe verbliebene Blut zu entfernen. Danach ist das Fleisch als koscher zum Kochen freigegeben. Jenem Fleisch, das gebraten oder gegrillt wird, muss das Blut nicht durch Salz entzogen werden, weil das Feuer, so die Vorstellung, sämtliches Blut aus dem Grillgut heraustreibt.

    In Deutschland ist das Schächten von warmblütigen Tieren grundsätzlich verboten. Ausnahmen bestehen nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2002, wenn von Mitgliedern einer Glaubensgemeinschaft aus religiösen Gründen lediglich Fleisch von geschächteten Tieren verzehrt werden darf. Das Urteil zielt auf die uneingeschränkte Religions- und Glaubensfreiheit ab, wie sie im Grundgesetz unter Artikel 4 verankert ist. Gleichzeitig verlangt das zum Staatsziel erhobene Tierschutzgesetz, Schlachttiere vor der Tötung zu betäuben, was allerdings für die religiöse Schlachtung nicht zulässig ist. Uns ist zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses FoodGuides kein Betrieb in Deutschland bekannt, der koscher schlachtet. Der Verkauf koscheren Fleisches ist in Deutschland allerdings erlaubt und mittlerweile auch online zu beziehen. Importiert wird das Fleisch aus den wenigen benachbarten Ländern, in denen das Schächten erlaubt ist. Einer der größten Anbieter für koscheres Fleisch firmiert etwa in Brüssel und vertreibt in seinem Onlineshop Produkte, deren Herstellung von Antwerpener, Amsterdamer, Straßburger und Londoner Rabbinaten überwacht wird. Der Einkauf koscheren Fleischs ist in den letzten Jahren immer komplizierter geworden. Erlaubt ist das Schächten nur noch in Frankreich, Spanien, Großbritannien, Irland und der belgischen Region Brüssel-Hauptstadt, während das Land Belgien ebenso wie die Niederlande und Deutschland das Schächten verbieten. Im Südosten Europas ist Schächten nur in Ungarn gestattet. Kein Wunder, dass die jüdische Küche heute eine so große Schnittmenge mit dem Vegan-Trend aufweist!

    KÄSE UND SONSTIGE MILCHPRODUKTE

    Beim Käse wird zwischen fest und weich unterteilt. Fester Käse wird mit Lab hergestellt, um das feste Casein von der flüssigen Molke zu trennen. Nicht-koschere Käsereien gewinnen das Lab meistens aus Kälbermägen, was aber mit der Kaschrut nicht vereinbar ist. Heute kann man Lab aus Bakterienstämmen gewinnen, was den so produzierten Käse koscher macht, sofern bei der Herstellung eine jüdisch-observante Person beteiligt ist. Weichkäsesorten wie beispielsweise Quark oder Hüttenkäse gelten nicht als Käse im engeren Sinne der rabbinischen Auslegungen und sind somit stets koscher. Prinzipiell gilt: Aus der Milch eines koscheren Tieres dürfen Butter oder Joghurt hergestellt werden, sofern keine weiteren nicht-koscheren Zusätze beigemischt werden.

    Die Kaschrut klingt heute vielleicht theorielastig, kompliziert und theologisch verbrämt. Warum ist sie dann so wirkmächtig? Viele sehen darin tiefe Sinnhaftigkeit und Symbolik. Der Düsseldorfer Rabbiner Benzion Dov Kaplan erklärt es ganz plastisch: „Paarhufer stehen erhöht, als würden sie Schuhe anhaben, und auch der Mensch soll erhöht stehen, er ist ja Geschöpf G’ttes, und so soll er sich auch fühlen. Und beim Fisch? Der Rabbi lacht. „Fische mit Flossen und Schuppen können auch gegen den Strom schwimmen. Und genau so soll sich der Mensch eigene Gedanken machen, er darf anders sein als die Masse, und um zu G’tt zu finden, muss man eben auch manchmal gegen den Strom schwimmen. Jüdische Küche lebt eben immer auch von Menschen und Geschichten.

    DER JOB DES MASCHGIACH – VERTRAUEN IST GUT, KONTROLLE IST BESSER!

    Ein Maschgiach ist eine vertrauenswürdige Person, die die Einhaltung der Kaschrut bei der Lebensmittelproduktion kontrolliert. Eine typische Alltagstätigkeit ist beispielsweise die Überwachung der korrekten Ausführung beim Schächten, die Kontrolle von koscheren Restaurants oder das Prüfen von Hühnereiern, welche kein Blut enthalten dürfen. Der Maschgiach ist von einem Rabbinat oder einer rabbinischen Institution wie beispielsweise Vaad HaKaschrut eingesetzt. Vaad HaKaschrut versteht sich in Deutschland als Serviceportal, das von Chabad-Rabbinern gegründet wurde, die wiederum ein Gremium bilden, das unterschiedlichste Betriebe ständig besucht, Herstellungsprozesse begutachtet und kontrolliert. Produkte, die unter dieser Aufsicht hergestellt oder veredelt wurden, tragen stets ein entsprechendes Siegel, das Hechscher genannt wird. Die weltweit bekanntesten Hechscher-Zertifizierungen sehen so aus:

    … UND DIE GETRÄNKE?

    Einfache alkoholfreie Erfrischungsgetränke, Wasser und Säfte sind in der Regel mit der Kaschrut vereinbar, denn sie finden dort keine Erwähnung! Jedoch: Je komplexer die Rezeptur und je mehr Zutaten für ein Getränk benötigt werden, desto genauer ist zu prüfen, ob die einzelnen Bestandteile auch korrekt geerntet, behandelt und verarbeitet wurden. Das strenge Gremium der Vaad HaKaschrut führt beispielsweise RedBull, Jacobs Instantkaffee, Arizona Ice-Tea oder die bekannten Erfrischungsgetränke von fuzetea auf ihrer Koscher-Liste, also alles Getränke mit einer relativ langen Zutatenliste.

    Klarer ist es beim Alkohol. Das wichtigste Getränk ist hier der Wein. Bei ihm und allen anderen alkoholischen Getränken ist eine rabbinische Kontrolle oder das Mitwirken einer jüdisch-observanten Person beim Herstellungsprozess notwendig. Eine besondere Regel gilt während der Pessach-Feiertage: es darf kein gesäuertes Getreide verzehrt werden und demnach dürfen keine Getränke getrunken werden, die aus Getreide gewonnen werden. Diese Regel schließt also Bier, Whiskey und Wodka ein, es sei denn, letzterer wurde aus Kartoffeln gebrannt.

    Ein bisschen was geht also immer, Le‘chajim – auf das Leben!

    Weiter Raum — leerer Raum

    Esskultur ist zunächst abhängig von Landschaft und Klima, denn die Landwirtschaft ernährt Stadt und Dorf; nur wer es sich leisten kann, kauft Güter aus der Ferne. So sind alle Küchen eng mit der sie umgebenden Region verzahnt. Die jüdische aber nicht ausschließlich. Sie wird bei Tisch gelebt. Neben dem zentralen Element der Befolgung der jüdischen Speisegesetze Kaschrut geht es vor allem um die Gemeinschaft bei Tisch. In jüdischen Haushalten finden wir eine Küche, die weniger stofflich oder geografisch konstituiert ist als vielmehr kulturell und sozial. Jüdisches Leben in Europa war kaum jemals mit Staats- und Sprachgrenzen deckungsgleich. Erzwungene Mobilität ist historische Konstante jüdischer Lebenswelten.

    Im sechsten Jahrhundert v. d. Z. wurden Jüdinnen und Juden aus ihrer Heimat Judäa ins babylonische Exil gezwungen. In der Antike folgten viele von ihnen als Kaufleute dann römischen Truppen bis in die entlegensten Winkel des Imperiums. 70 n. d. Z. wurde der Zweite Jerusalemer Tempel (Bet HaMikdasch) von römischen Truppen geplündert und zerstört, und Kaiser Hadrian erließ 135 n. d. Z. ein Ansiedlungsverbot für Juden in Jerusalem. Das Exil der Jüdinnen und Juden und ihrer Küche hatte endgültig begonnen und es sollte bis zur Gründung des Staates Israel 1948 währen. Daher gab es jüdische Esskultur seit der Antike überall dort, wo Jüdinnen und Juden siedelten, zunächst v. a. in den Handelsmetropolen.

    Seit dem Hochmittelalter treten jüdische Siedlungsgebiete dann deutlicher zutage. Sie lagen zunächst rund um das Mittelmeer, vor allem im Nahen Osten, in Griechenland und auf der Iberischen Halbinsel, daneben im Raum zwischen Rhein, Mosel und Ardennen. Jene Verfolgungen, die seit dem elften Jahrhundert einsetzten, brachten erneut eine große Zerstreuungswelle mit sich. Vor allem Ostmitteleuropa und Gebiete, die in den heutigen Staaten Polen, Belarus, Litauen, Ungarn und der Ukraine lagen, wurden zu einer Heimstatt jüdischer Kultur. Was und wie gegessen wurde, ist für diese frühe Zeit allenfalls bruchstückhaft überliefert. Es ist nur gesichert, dass die Kaschrut eine markante Rolle spielte.

    Mit der Wende zur Neuzeit, also seit dem frühen 16. Jahrhundert, treten die räumlichen Strukturen deutlicher hervor. Ausgehend vom ersten Ghetto, das in der damaligen Weltmetropole Venedig entstand, setzte sich vielerorts eine räumliche und lebensweltliche Isolation der jüdischen Bevölkerung durch. Sozioökonomisch motivierter Antisemitismus und religiös motivierter Antijudaismus beförderten ein ablehnendes Klima zwischen jüdischer Minder- und zumeist christlicher Mehrheit. Diese anti-jüdische Feindschaft gipfelte oft in Schmutzkampagnen, Hetzjagden und Pogromen. Nicht selten wurde jüdischen Räumen ein brutales Ende gesetzt.

    Durch die häufig gewaltsam herbeigeführten Wanderungsbewegungen erfolgte auch eine stärkere strukturelle Trennung der jüdischen Großgruppen: Die in Mittel-, Nord- und Osteuropa ansässigen Aschkenasim bilden bald die größte Gruppe, während die Sephardim, die heute etwa ein Drittel aller jüdisch gläubigen Menschen ausmachen, auf die im 13. und 14. Jahrhundert von der Iberischen Halbinsel nach Nordafrika oder Vorderasien vertriebenen Jüdinnen und Juden zurückgehen. Neben diesen dominierenden Gruppen gibt es außerdem die Mizrachim, Jüdinnen und Juden aus dem Nahen Osten, dem Kaukasus sowie dem indischen Raum, und die Bucharim aus Zentralasien, die vor allem mit der Staatsgründung 1948 ihre Heimat verließen, um sich in Israel anzusiedeln. Heute umfasst diese Gruppe kaum mehr 10 000 Personen – in vielen arabischen Ländern gibt es faktisch kein jüdisches Leben mehr.

    Vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchten viele Jüdinnen und Juden neue Freiheiten im Norden Amerikas.

    Vereinendes Element der unterschiedlichen jüdischen Gruppen waren neben der religiösen Prägung die Erfahrung von Marginalität und Migrationsdruck. Jüdisches Leben war einerseits breitflächig verteilt. Andererseits gab es durchaus ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und enge Kontakte zwischen den einzelnen Gruppierungen – auch wenn viele Jüdinnen und Juden im 19. Jahrhundert zum Christentum konvertierten und die Grenzen zwischen jüdischem und nichtjüdischem Leben, vor allem in Westeuropa und in den USA, bisweilen verschwammen.

    Jüdisches Leben und damit auch jüdische Esskultur waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verstreut: Die Schwerpunkte lagen in Ostmitteleuropa und den USA. Dazu kamen ein breiter Strang, der vom Vorderen Orient bis in den Mittelmeerraum reichte, ein regelrechter Flickenteppich im deutschsprachigen Raum Mitteleuropas, der seine Zentren in den großen Gemeinden wie Köln, Berlin, Breslau, Frankfurt am Main, Fürth, Basel und Wien hatte, aber auch mit markanten ländlichen Clustern etwa im Rheinland oder in Mittelfranken in Erscheinung trat. Einige dieser Raumeinheiten waren enger miteinander verbunden, andere weniger. Hinzu kamen Zentren jüdischer Reisekultur wie etwa das böhmische Karlsbad. Nachdem der Publizist Theodor Herzl (1860–1904) 1896 in seinem zionistischen Grundlagenwerk „Der Judenstaat" die Aufmerksamkeit auf Palästina gelenkt hatte, wurde zunehmend auch das Heilige Land (wieder) zum Bezugspunkt jüdischer Kultur.

    Wer sich mit jüdischer Esskultur beschäftigt, sollte sich kaum auf den Raum innerhalb heutiger Grenzen beschränken. Man wird jüdischem Leben und seinem Alltag allenfalls gerecht, wenn man Diaspora und Migration grenzüberschreitend berücksichtigt. Daran orientiert sich auch die Raumstruktur des vorliegenden Buches, das eben keine Fläche abbildet, sondern ein Netz, dessen Verästelungen weltweit einzigartig sind.

    Über lange Zeit hinweg hatte dieses Netz mehrere Zentren, wobei die prägendsten in Mittel- und in Osteuropa lagen. Das nationalsozialistische System, dessen Täter:innen und Anhängerschaft haben dieses Netz zerrissen. Die Mehrheit der Trägerinnen und Träger jüdischer Esskultur wurden systematisch ermordet, viele in den Suizid, einige wenige in Flucht und Exil getrieben. Die überlebende jüdische Esskultur bündelte sich im Nachgang der Schoah in Israel, den USA und Australien, aber auch in der Sowjetunion.

    Jüdisches Leben konnte nach 1945 wieder neu entstehen, derweil jüdische Communitys in den USA, Südamerika oder Australien durch den Zustrom von Displaced Persons wuchsen und sich diversifizierten. Dennoch blieb Europa der Bezugspunkt, anhand dessen sich Herkunft und Zugehörigkeit manifestieren. Zeugnisse dafür liefern unter anderem die jüdischen Bevölkerungsteile der ehemaligen Sowjetunion, die zu großen Teilen nach 1990 als sogenannte Kontingentflüchtlinge ihre Länder verließen, um sich u. a. in Deutschland niederzulassen. Ähnlich begründete Dezimierungen ihrer Mitglieder erfuhren Gemeinden in Mitteleuropa und dem Baltikum: Jüdische Kultur u. a. in Polen, Tschechien, Ungarn, Litauen und der Ukraine ist heute meist als touristisch inszeniertes Event anzutreffen und von ihren Ursprüngen in Praxis und Zweck weitgehend losgelöst.

    Doch auch darüber hinaus wandelt sich jüdische Esskultur mit dem Lauf der Geschichte und ihrer Trends: Die aschkenasische und sephardische Küche, die vormals Europa und seinen Nahraum unter sich aufgeteilt hatte und mit Gerichten und Gebäck wie Tscholent oder Hamantaschn füllten, begegnen nun modernen Interpretationen und Fusionen. Auch die Globalisierung wirkt daran mit: Nahöstliche, z. T. auch mizrachische Gerichte wie Falafel, Hummus oder Shakshuka sind in Israel ebenso verbreitet wie mittlerweile in weiten Teilen der urbanen westlichen Welt.

    Junge Menschen aus Israel oder den USA kommen bei Reisen nach Zentraleuropa ihrer Familiengeschichte auf die Spur oder lassen sich zeitweise in Großstädten wie Berlin nieder. Zusammen mit ihren aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Glaubensschwestern und -brüdern, die heute häufig schon der zweiten Migrationsgeneration entstammen, geben sie dem modernen Judentum ein markantes Gesicht, das wieder Sorgen- mit Lachfalten vereint. Seit geraumer Zeit prägen Menschen jüdischer Sozialisation damit die Kultur- und Foodszene an der Spree und anderswo und bringen jüdische Lebenswelten in einen Raum, in dem sie lange verschwunden oder unsichtbar waren. Die Hybridität der modernen jüdischen Küche und ihre Anschlussfähigkeit an diverse Ernährungsgewohnheiten sind auf der Höhe der Zeit. Sie schafft neue Anknüpfungsmöglichkeiten für einen Dialog über den Esstisch hinaus – ganz gleich, ob dieser in einer deutschen Mensa, einem amerikanischen Diner oder einem Imbiss am Mittelmeer steht.

    Das Jüdische in den regionalen Esskulturen – und das Regionale in den jüdischen – wird neu hervorgehoben und vielfältig ausgelegt. Allerdings passiert dies in einem überschaubaren Rahmen: Eine besondere Betonung jüdischer Restaurants bleibt vielfach aus. „Zum Israeli geht man, auch in Ermangelung eines flächendeckenden Angebots, nicht wie „zum Italiener oder „zum Vietnamesen". Die Selbstverständlichkeit einer spezifisch jüdischen Küche gibt es in Europa außerhalb des kleinen Kreises der jüdischen Gemeinden kaum mehr – oder vielleicht noch nicht wieder. Die Gegenwart jüdischer Räume ist architektonisch zu erkennen, an verschiedenen Sprachen zu hören und hier und dort auch zu schmecken. Jüdisches und seine Ausprägungen sind außerhalb Israels durchaus zu finden und wiederzuentdecken: Das jüdische Europa liegt heute im Krakauer Kazimierz, im Pariser Marais, in der Wiener Josefstadt, im Hamburger Grindelviertel und an vielen Orten mehr, die nicht auf den ersten Blick ins Auge stechen und weit mehr sind als die Summe ihrer Stolpersteine. Denn das Haus Israel hat viele Zimmer mit noch mehr Bewohner:innen und sie alle verfügen über eine eigene Küche – mindestens.

    Bezugspunkte — Jüdisch oder israelisch?

    Jüdisch ist, wer dem Judentum angehört – und israelisch, wer einen Pass des Staates Israel besitzt.

    Diese Definition ist weit weniger eindeutig, als sie auf den ersten Blick scheinen mag: Wer jüdischen Glaubens ist, kann zugleich Israeli sein – und andersrum. Doch nicht alle Menschen jüdischen Glaubens sind auch Israelis, ebenso wenig alle Menschen, die sich als Jüdin oder Jude verstehen und nicht alle Menschen mit israelischer Staatsbürgerschaft auch jüdisch säkular oder jüdisch observant sind.

    Die Begriffe „jüdisch und „israelisch werden häufig vertauscht und miteinander vermischt, obwohl sie zweierlei bezeichnen: „Jüdisch" ist im engeren Sinne, wessen Mutter jüdischen Glaubens ist, wer sich zum jüdischen Glauben bekennt oder zum Judentum konvertiert ist, im weiteren Sinne aber auch, wer Anhänger des Judentums mit seiner Kultur, seinen Traditionen und Philosophien ist.

    Die Einbettung in spezifische gesellschaftliche Kontexte formt den Glauben: Jüdisch sein kann man überall, da Religion zwar Ausdruck und Raum, aber keinen konkreten, geographischen Ort braucht und ebenso in Israel wie in den USA, Südafrika oder Deutschland praktiziert werden kann, vor Ort womöglich spezifische Prägungen durch die nationalen Gefüge und Traditionen erhält.

    „Israelisch" ist hingegen auf den 1948 gegründeten Staat Israel bezogen, der sich in seiner Unabhängigkeitserklärung als Nationalstaat des jüdischen Volkes bezeichnet. Dennoch leben hier nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch Menschen anderer Glaubensrichtungen: Etwa 75 % der gut neun Millionen Israelis ist jüdisch, das übrige Viertel ist u. a. muslimischen, drusischen oder christlichen Glaubens – oder fühlt sich keiner Religion zugehörig und ist dennoch Teil des Staatsvolkes. Israel hat eine eigene, mehrheitlich mediterran-levantinische Küche, die die Traditionen des Landes aufgreift, sich aber weniger an Speisevorschriften als an der lokalen Flora und Fauna orientiert und damit in erster Linie örtlich gebunden ist und mit aktuellen (Food-)Trends geht.

    Missverständlich oder stark konnotiert sind drei Begriffe, die außerdem in diesem Umfeld vorkommen: „mosaisch, „semitisch und „israelitisch. Wenngleich sich ersterer auf den alttestamentarischen Mose bezieht und als Alternative für „jüdisch verwendet wurde, ist er heute nicht mehr gebräuchlich. Nicht zuletzt, weil es sich nicht um eine Eigen-, sondern Fremdbezeichnung handelt. Wie sich das Christentum auf Christus bezieht, wurde imaginiert, dass sich das Judentum auf Moses beziehe, daher mosaisch. Diese Analogie ist jedoch theologisch falsch, da Moses im Judentum nicht der selbe Stellenwert zugeschrieben wird, wie Christus im Christentum. Der Begriff „semitisch wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Gegnern des Judentums geprägt, als der tradierte religiös motivierte Antijudaismus um eine rassistische Komponente erweitert wurde. In den Sprachwissenschaften bezeichnet „semitisch eine Sprachfamilie aus Vorderasien bzw. Nordafrika, u. a. Aramäisch, Arabisch und Hebräisch. Die Antisemit:innen bedienten sich des Wortes, um alten Stereotypen einen neuen pseudo-wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen. „Israelitisch wiederum geht auf die biblische Figur Jakob zurück, der den Beinamen Israel trug. Die Stämme, die aus seinen zwölf Söhnen entstanden, wurden folglich Israeliten, Kinder Israels, genannt. Alle drei Begriffe sind heute veraltet, im Falle von „israelitisch gar nur auf den Kontext der Tora beschränkt oder als Eigennamen jüdischer Gemeinden und Institutionen gebräuchlich, sodass einzig „jüdisch und „israelisch die sprachlichen Pole bilden.

    Das Jüdisch- und das Israelisch-Sein schafft durch Praxen und gedachte wie gelebte Zugehörigkeiten Lebenswelten bei den sich damit Identifizierenden. Sie finden ihre Begründung einmal in der Religion oder kultureller Zugehörigkeit und einmal im Nationalstaat oder, wie am Beispiel israelischer Jüdinnen und Juden oder jüdischer Israelis, in beidem. Dabei können sie miteinander einhergehen und sich ergänzen, aber ebenso als Teilidentitäten unabhängig voneinander bestehen oder gar in einen Konflikt miteinander treten. Gesellschaftliche Liberalisierung, die schwindende religiöse Autorität und die Rechtfertigung politischer Aktivitäten auf Basis des Glaubens sind heutzutage Streitpunkte.

    Für Außenstehende ist bereits die Frage, ob man von jüdischen Israelis oder von israelischen Juden spricht, kompliziert. Die Antwort hängt von der Identifikation der Angesprochenen ab. Auch kann die Rede vom „jüdischen Staat Israel" für Unmut bei der nichtjüdischen Bevölkerung sorgen. Dennoch ist das Jüdische in der Lebenswelt des modernen Israel omnipräsent. Das Land gilt Vielen als Inbegriff des Jüdischen und Religion spielt im Verständnis Israels eine große Rolle – allerdings gilt es auch hier, die Diskrepanz innerhalb des Landes zu beachten, so z. B. zwischen dem mondänen Tel Aviv und dem von allen Weltreligionen geprägten Jerusalem. In einem derart multiethnischen und multireligiösen Land ist nichts wirklich eindeutig; zumal allein das Judentum zahlreiche Facetten hat: Liberale oder Reform-Jüdinnen und -Juden begegnen hier konservativen Gläubigen. Die besonders strenge Form des Judentums, die (Ultra-)Orthodoxie, deren Zentren nicht nur in Israel, sondern auch in New York oder dem belgischen Antwerpen liegen, lehnt den Staat Israel in Teilen ab, da sie sich nicht in seiner multiethnischen Ausprägung erkennen, die zionistischen Ursprünge ablehnen oder sich nicht ausreichend religiös repräsentiert sehen.

    Einen Konsens darüber, welches das richtige Maß an Religiosität sei, gibt es nicht, da politische und soziokulturelle Unterschiede und ihre jeweiligen Gewichtungen der Einigung entgegenstehen.

    In Anbetracht der zunehmenden Loslösung vom Religiösen findet die kulturelle Komponente des Judentums bzw. der Judentümer oft stärkere Betonung als die Religion selbst. Das Glaubenszeremoniell tritt – nicht nur im Judentum – in den Hintergrund und wird zumeist an den Hohen Feiertagen betont. Vor allem jüngere Menschen erleben Religion im Alltag nur eingeschränkt und heben stattdessen Familie, Freunde und andere Werte an ihren Platz. Der Übergang zur postmodernen Lebensstilgesellschaft hat auch die jüdisch geprägte Kultur erfasst: Zahlreiche Menschen, die jüdisch sozialisiert wurden, definieren sich heute ohnehin über das kulturelle, weniger das religiöse Judentum. Für kulturelle Jüdinnen und Juden sind Traditionen womöglich noch feste Größen im Wochen- oder Jahresverlauf, aber sie folgen nicht unbedingt den detailreichen Speisevorschriften oder finden eigene Wege, das selbst gewählte Maß an Religiosität in ihren Alltag einzubinden. Religion in dieser Verlaufsform ist als Kultur auch in weltlichen Kontexten etwas geworden, das (wieder) praktikabel und alltäglich wird.

    Aus den oft verquickten Begriffen „jüdisch und „israelisch mag indes etwas Drittes entstehen, das sich kontextabhängig inmitten beider Traditionen als neues Muster kultureller Zusammenhänge herausbildet. Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Moderne finden dabei auf allen Ebenen, jüdisch und israelisch, aber nicht beschränkt darauf, ihre Entsprechungen und schaffen Zugehörigkeit. Schon seit geraumer Zeit ist eine Vielstimmigkeit an Judentümern Wirklichkeit: religiös und kulturell, in Israel und anderswo.

    Zum Weiterlesen:

    Ronen Steinke: Antisemitismus in der Sprache: Warum es auf die Wortwahl ankommt. Berlin 2020

    Schabbat – Von Kiddusch, Challot und Arbeitsverbot

    Der jüdische Wochenfeiertag ist der Schabbat – auch Sabbat, Schabbes oder Schabbos genannt –, der Tag, an dem G’tt nach seiner Weltschöpfung ruhte und sah, dass es gut war. Daher steckt in der Bezeichnung Schabbat auch die hebräische Zahl schewa, sieben. Dieser Ruhetag wird von observanten Jüdinnen und Juden wortwörtlich genommen; in Israel und mehrheitlich orthodoxen Vierteln, beispielsweise im New Yorker Williamsburg oder im jüdischen Antwerpen, steht das Leben zwischen Freitagnachmittag und Samstagabend still. Diese Stille ist auch auf den Auszug aus Ägypten zurückzuführen: Das Manna, das G’tt als rettende Speise vom Himmel regnen ließ, fand sich an jedem sechsten Tag in doppelter Menge, damit am siebten Tag kein Aufwand bei der Nahrungssuche betrieben werden musste. Der Schabbat als wöchentlicher Haltepunkt stiftet Orientierung im Fluss der Zeit und strukturiert die Woche.

    Heute beginnt der Schabbat mit Sonnenuntergang am Freitag und dauert bis zum Einbruch der Dunkelheit am Samstag. Sogar wenn besonders viel zu tun ist, wie in der Erntezeit, soll der Ruhetag eingehalten werden. Physische und kreative Tätigkeiten sind als 39 Melachot – den 39 Formen der Arbeit – tabu; aber es gibt auch etwas Auslegungsspielraum. Der Schabbat gilt in erster Linie der Arbeitsruhe, dem G’ttesdienst in der Synagoge, der Familie und dem Freundeskreis. Er ist damit sowohl Gabe als auch Pflicht – mit allen Chancen und Einschränkungen. Wenige Ausnahmen gibt es jedoch innerhalb einer Schabbatgrenze, dem Eruw, wie er in vielen orthodoxen Vierteln zu finden ist. Hier gilt etwa das Verbot, etwas zu tragen, das größer als eine Olive ist, nicht. Außerdem darf medizinisches Personal in der Not praktizieren; das Leben ist wichtiger als die Pflicht!

    Heute ist der Schabbat vielfältig und multifunktional. Er wird unterschiedlich gelebt, abhängig u. a. davon, wie streng oder frei die Schabbatgebote ausgelegt und gehalten werden. Ob im Familien- oder Freundeskreis, ob mit oder ohne G’ttesdienstbesuch, ob mit Tscholent oder Pizza, trotz seiner unterschiedlichsten Formen ist der Schabbat auch heute noch und über die Orthodoxie hinaus sinnstiftendes und gemeinschaftskonstituierendes Element jüdischer Kultur.

    Dabei kann man die Bedeutung des Schabbat auch abseits oder über das Religiöse hinaus würdigen: „Betrachtet man es aus sozialgeschichtlicher Perspektive, dann steckt ein ethischer, ein universeller, ja ein revolutionärer Aspekt im Schabbatgebot, dass nämlich jeder Mensch – ob Herr

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