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Unter Barbaren: Roman
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eBook273 Seiten3 Stunden

Unter Barbaren: Roman

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Über dieses E-Book

Eine mitteldeutsche Kleinstadt in den frühen 90-er Jahren. Es ist die Zeit unmittelbar nach der politischen Wende in der ehemaligen DDR. Viele Betriebe sind abgewickelt, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Zahlreiche Menschen meinen, in hemmungslosem Egoismus, sozialer Härte und brutaler Ellenbogenmentalität, bis hinein in innerste familiäre Strukturen, das Heilmittel zu Prosperität und persönlichem Glück erkannt zu haben und leben dies hemmungslos aus.
Um der Arbeitslosigkeit zu begegnen, werden viele Betroffene durch Fördergelder der EU und des Bundeslandes angeregt, sich selbständig zu machen. Dazu müssen sie flankierend einen Kurs der Erwachsenenbildung besuchen, in dem ihnen betriebswirtschaftliche Inhalte vermittelt werden sollen. Unter den Kursteilnehmern sind viele gescheiterte Existenzen, die lediglich die Fördergelder abschöpfen möchten und an den Lehrinhalten völlig desinteressiert sind. Jens Klatt, 35 und Vater einer kleinen Tochter, ist durch Vermittlung seines patriarchalischen Schwiegervaters als Dozent bei einem solchen Bildungsträger angestellt, der Existenzgründer in die Selbständigkeit begleitet. Von Existenzangst geplagt, hat Klatt mit Sozialneid und Intrigen zu kämpfen. In seiner Familie, die in unmittelbarer Nähe zu den kontrollsüchtigen Schwiegereltern wohnt, herrscht soziale Kälte. Seine Frau, die ihn nur als Geldquelle betrachtet, hat einen Liebhaber. Mit diesem will sie sich von Klatts Ersparnissen eine Eigentumswohnung kaufen. Klatt, der keine Chance hat, gegen Frau und Schwiegereltern anzukommen, gibt immer nach, um sein Kind nicht auch noch ganz zu verlieren.
Um dem privaten und beruflichen Druck zumindest zeitweise zu entrinnen, hat Klatt angefangen, zu trinken. Affären mit anderen Frauen scheitern an deren Desinteresse, mit ihm eine tiefere Beziehung einzugehen oder am zu großen Altersunterschied.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Nov. 2014
ISBN9783847617785
Unter Barbaren: Roman

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    Buchvorschau

    Unter Barbaren - Ralph Ardnassak

    I

    Wenn Dummheit und Rohheit straflos blieben,

    was würde dann aus dieser Welt, welche Welt?

    Hans Fallada

    Humanität besteht darin,

    dass nie ein Mensch

    einem Zweck geopfert wird.

    Albert Schweitzer

    Unter Barbaren

    Die größte moralische Tat seit Anbeginn aller Ethik würde derjenige vollbringen, der in den Menschen eines bewirken könnte: Scham über sich selbst!

    Die indianischen Denker hatten es erkannt: Der Mensch ist des Menschen Wolf!

    Unsere körperlichen Fähigkeiten gepaart mit dem Ergebnis der Evolution, unserem Intellekt, verwenden wir zielstrebig darauf, unsere Artgenossen von möglichen Pfründen abzudrängen!

    Frei von natürlichen Feinden, sind wir unser eigener geworden!

    Keine andere Spezies gibt es unter der Sonne, die ein derartiges und bewusstes Maß an Grausamkeit und Rohheit im Umgang mit der eigenen Art an den Tag legt!

    Keine Kultur, keine Institution oder Organisation, von uns erdacht, konnte dies ändern!

    Die antike Tragödie: „Besserung durch Mitleiden", alle Weltreligionen: die Forderung nach Selbstlosigkeit und Nächstenliebe, das Ideal der westlichen Demokratie: Gleichheit aller vor dem Gesetz und Achtung der Menschenwürde, das Uniformitätsideal des Kommunismus: Befreiung des Menschen von Ausbeutung durch Menschen - sie alle haben versagt!

    Blind und taub für die Leiden unserer Mitmenschen, unfähig zur Besserung, selbstgerecht und maßlos, kultivieren wir ein Ethos des Egoismus, trotzen wir jeder Selbstkritik, jeder Scham, führen wir Kriege, brandschatzen und morden wir, vergewaltigen wir Frauen und Kinder, verurteilen wir zum Tode und inszenieren Exekutionen, stehlen, belügen, betrügen, foltern, drohen, massakrieren und terrorisieren wir in einem nie da gewesenen Ausmaß!

    Den Schrei handverlesener Zeitgenossen nach Menschlichkeit und Wärme belächeln wir, in unseren Tagen, da der Wert eines Menschen an seiner Rentabilität oder an seinem verfügbaren Einkommen gemessen wird! Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Mutter Theresa - arme Irre, unfähig, aus ihren Ideen Kapital zu schlagen, faszinieren sie uns nicht annähernd so, wie Josef Wissiaronowitsch Stalin, Adolf Hitler oder Saddam Hussein. Ein Kult des Primitiven fesselt uns, die hemmungslose Bewunderung des starken Leittieres!

    Wir negieren die altruistische Liebe, Partner sind Vehikel zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit! Dabei betäuben wir unsere Sinne vor der Realität unseres Seins mit Spendenaufrufen, mit Kleidersammlungen, Stiftungen und Armenküchen!

    Wir leben im Eisernen Zeitalter!

    Dem Tierreich entwachsen, sind wir Tiere geblieben! Ein Zwitterwesen: mit animalischen Instinkten behaftet, aber mit Geist ausgestattet, den wir uneingeschränkt in den Dienst der Vernichtung unserer Artgenossen zu stellen vermögen!

    Was uns vom Tierreich unterscheidet, benutzen wir zielstrebig dazu, unsere Welt roher und animalischer zu gestalten, als es das Tierreich je war! Das Tierreich kannte kein Ethos; wir kennen das Ethos des Egoismus!

    Kein Tier jagt nach Plan, kein Tier erlegt ein anderes ohne die Notwendigkeit der Nahrungsbeschaffung!

    Wir aber haben uns eine Barbarei geschaffen, schlecht verhüllt durch einen Vorhang der Kultur und wohlgefügter Gesetzeswerke!

    Dabei ist es nicht immer die große Barbarei der Vernichtungskriege und Ausrottungsdogmen der Diktaturen, die tiefe Wunden in den Seelen schlägt. Es ist die kleine, leise, alltägliche Barbarei in uns allen: das Schweigen und die Lieblosigkeit des Ehepartners, die Häme der

    Kollegen, die Schande der Arbeitslosigkeit, die Gnadenlosigkeit des selbstgerechten Chefs im Umgang mit dem grippekranken, überlasteten Angestellten, die Kaltschnäuzigkeit der Beamten, die perfide Funktionalität des Gesetzestextes!

    Es mag vielgestalte Möglichkeiten geben, gegen die kleine Barbarei des späten 20. Jahrhunderts zu protestieren: vom halb unterdrückten Aufschrei, bis zum allabendlichen Trinken oder dem Selbstmord!

    Welchen Weg wir auch gehen mögen, niemals dürfen wir aufhören, uns gegen die Barbarei, welches Gesicht sie auch trägt, zu stellen!

    Dieser Kampf kann im schonungslosen Benennen von Akten der Barbarei bestehen, wo auch immer sie uns begegnen mögen! Er kann auch mit Menschlichkeit geführt werden, mit Wärme, wie schwer es auch fallen mag!

    Das Räderwerk unserer Gesetzesmaschinerie, die Texte unserer Rechtsverordnungen, können Humanität nicht leisten! Allein wir können das!

    Wir sind berufen, eine Alltagskultur der Wärme und Menschlichkeit zu schaffen, damit die Barbarei sich nicht unter uns fortpflanzt!

    II

    Die Stadt liegt an der Saale, beiderseits des Flusses, wie viele Städte an seinen Ufern, geteilt in die Berg- und die Talstadt.

    Im unteren Saaletal liegt die Stadt. Alt und ehrwürdig der Stadtkern um das Schloss, den man mit Mühe vor dem Verfall bewahrt. Schiefergedeckte Dächer mit Türmchen, Gauben und Wetterhähnen, verspielte Fassaden, Erker, säulengerahmte Türen. Erinnerungen an die Blütezeit der Stadt in den Goldenen Zwanzigern: feinstes, solidestes Bürgertum atmend.

    Nun wieder Sanierungsobjekt, begehrt bei Zahnärzten, Maklern, Notaren.

    Imposantestes Bauwerk: das Schloss mit dem dicken Eulenspiegelturm über dem Fluss. Konglomerat mehrerer Stilepochen und zurückdatierbar bis auf das 10. Jahrhundert.

    Lauschig, die Schlossgärten zu Füßen des Bauwerkes, einst Arznei- und Gewürzgärten.

    Gern besucht: der Bärenzwinger im Schloss, aufwendig erneuert. Die Stadt muss sich präsentieren.

    Unten schimmert die Saale. Sie hat sich erholt seit der Stilllegung der hiesigen Papierfabrik. Die treibenden weißen Schaumkronen sind verschwunden.

    Beinahe vierzigtausend Seelen zählt die Stadt, bekannt nicht nur wegen des Schlosses, dem Kurhaus, der Flutbrücke, den Kirchen, dem Tierpark und dem Carl-Maria-von-Weber-Theater.

    Bekannt auch ob der hohen Zahl an Arbeitslosen: sechsundzwanzig Prozent in Stadt und Landkreis! Bundesrekord!

    Wie in vielen ostdeutschen Städten klafft auch hier die Schere: die sauberen Fassaden der innerstädtischen Geschäfte buhlen um die knapper werdende Kundschaft. Auf den wenigen Parkplätzen vor den Geschäften stehen attraktive Limousinen deutscher Bauart. In den ruhigen baumreichen Wohnlagen an den Saaleufern: die Villen und Reihenhäuser derer, die es geschafft haben; nun aber der Notwendigkeit unterworfen, Wohlstand und Angepasst sein zu demonstrieren. Mancher hat einen Sitz gekauft im Theater, fünfhundert Mark teuer, und prangt ein Messingschild darunter, versehen mit dem Namenszug des edlen Stifters.

    Nahe beim Schloss, das Sozialamt der Stadt. Dichtgedrängt davor, die Hoffnungslosigkeit mit Bierdosen in den Händen, Kinderwagen schaukelnd. Am südlichen Stadtrand: das Neubau-viertel, von dem die Statistik sagt, jeder Dritte sei hier arbeitslos und älter als vierzig Jahre. Unruhepotential, das Fördermittel narkotisieren helfen! Hier wohnen die Hoffnungs- und die Mutlosigkeit. Vergraben in Alkoholismus und Promiskuität, sucht man Vergessen oder ergeht sich in Anklagen gegen die, die Arbeit haben und Angst, sie wieder zu verlieren. Vergraben in Kleingärten mit standardisierten Lauben und sonnabendlichen Kegelpartien, sind die Fußballergebnisse längst wichtiger als Politik. Die Tageszeitung liest man hier kaum: zu teuer das Abo! Resignation geht um. Ganze vierzig Menschen rafften sich auf zum bundesweiten Aktionstag gegen die Arbeitslosigkeit. Man hofft auf ein Wunder in Gestalt eines Jobs in den wenigen Rumpfbetrieben in oder vor der Stadt. Die weniger Anspruchsvollen hoffen auf eine Maßnahme oder auf einen Lottogewinn.

    Hat man die leichte Anhöhe hinter sich gelassen, am nördlichen Rand der Saalestadt mit dem Schloss, dem Kurhaus und den Kirchen, die Anhöhe, die sie den Gutsberg nennen, eine der wenigen Erhebungen in der tischartig ebenen Landschaft, dann ist man der Stadt und ihren Staus entronnen.

    Und die Fernverkehrsstraße führt nun beinahe schnurgerade hinauf nach dem Norden, bis nach Magdeburg, beinahe schnurgerade durch weite Felder, öffnet zögernd den Blick auf verloren wirkende Ortschaften darin, ohne Namen, die im Gedächtnis haften und immer weiter hinauf, durch die Börde, bis in die Altmark.

    Aber schon hier oben, auf dem Gutsberg, jenseits der Stadt im Tal der Saale, über ihren Dächern, schien es nun, als hätte man, nahe einem schweren Himmel, nichts weiter vor sich, als die Straße, die ins Nirgendwo führen musste.

    Weit und öd liegen die Felder, Felder bis zur Krümmung des Horizonts, kaum ein Baum, selten ein dürrer Strauch, kahl, in der flimmernden Hitze des Sommers, in den Stürmen des Herbstes, unter dem klaren Frosthimmel des Winters.

    Nichts als Acker: Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben, uferlose Versuchsfelder! Unterbrochen nur vom matten Strang der Schienen der Bahnlinie von Könnern nach Calbe, selten belebt

    noch, von der trägen und schmutzig-rötlichen Silhouette des einzigen klobigen Triebwagens, der aus Rentabilitätsgründen immer seltener fährt.

    Die Öde der Felder: unterbrochen nur von den Resten des stelzigen Wachturms am westlichen Horizont, rostigen Antennenpeitschen daneben über aufgeschütteten Erdwällen und löchrigem Stacheldraht – zerfallende Hinterlassenschaft der abgezogenen Sowjetarmee, verwaister Ort, gefürchtet, seit vor Jahrzehnten ein eifriger Wachposten vom Turm eine späte Radfahrerin beschoss, immer schon gemieden, auch, weil es hieß, hier waren Atomraketen gelagert.

    Die Öde der Felder, selten noch unterbrochen durch die Kirchturmspitzen einzelner Orte abseits der Straße, Nadeln im trüben Licht unter schwerem Himmel. Eine Straße in bleierner Landschaft. Es fließt der Strom des Verkehrs hektischer, eiliger, durch die Öde der Felder, durch das trübe Licht, zu einem Ziel hin, jenseits von hier!

    Etwa auf halber Strecke zwischen der Stadt im Tal und dem dürren Kirchturm der Ortschaft Neugattersleben, noch jenseits des verlorenen, hässlichen Haltepunktes Sprenzfeld an der Bahnlinie nach Calbe, links der Straße: um den backsteinernen Schornstein des Heizwerkes - die öde Anhäufung uniformer Gebäude, deren älteste auf das hier ansässig gewesene Junkerswerk und die Fliegergarnison zurückgehen. Uniforme Gebäude zwischen Bäumen, mitten im Acker, der Stadtteil gleichen Namens wie der Haltepunkt. Und die Aussicht: Felder bis zum Horizont, gegen die aufgehende Sonne die Umrisse von grauen Industrielandschaften.

    Die Zementwerke in der Nienburger Gegend.

    Jens Klatt, fünfunddreißig Jahre alt und seit neun Jahren in dieser Gegend, steigt mit müdem Schritt die Treppen im Flur des Miethauses hinauf wie jeden Tag. Es ist ein Miethaus, wie unzählige andere, die in Städten zwischen Rostock und Suhl stehen. Mief von lange getragenen Schuhen und Küchengerüche erfüllen den Flur. Es ist Nachmittag, und Klatt steigt die Treppen hinauf ohne den Blick zu heben, bis ganz nach oben, wo seine Wohnung ist. Eine Wohnung wie viele hier: sechzig Quadratmeter, drei Zimmer, Balkon, Zentralheizung. Eine Wohnung, in der er ein Fremdkörper geblieben ist.

    Klatt hat Feierabend. Er ist ein Privilegierter, denn er hat Arbeit, eine gut bezahlte noch dazu. Haustarif, in Anlehnung an den Bundesangestelltentarif Ost: das sind zweitausendsechshundert netto! Klatt hat diese Arbeit. Er hat sie durch Fürsprache seines Schwiegervaters, Karl-Dieter Schrock bekommen. Und Schrock, der Patriarch, wird nicht müde, ihm dies unter die Nase zu reiben, verbunden mit dem Hinweis, dass Arbeit heutzutage Gnade ist, bei offiziell vier Millionen Arbeitslosen bundesweit und einer Quote von sechsundzwanzig Prozent hier im Landkreis.

    „Also, alter Freund, hört er Schrock deklamieren, „nur wer ein Einkommen hat, hat ein Recht auf Familie! Ohne Einkommen springst Du besser gleich in die Saale!

    Klatt zieht die Schultern ein. Er ist vor seiner Wohnungstür angekommen. Die Tapete im Flur des Treppenhauses hängt in Fetzen herab. Das scheint niemanden zu stören. Warum sollte es ihn dann stören?

    Klatt schließt die Wohnung auf und blickt auf die rote Leuchtdiode des Anrufbeantworters. Dort blinkt es zweimal. Klatt kennt die beiden Nachrichten. Kristina Schrock, seine Schwiegermutter, hat sie gesprochen. Sie vermisst ihre Handcreme. Wer soll sie schon weiter haben, als er, Klatt, vor dem nichts sicher ist, auch nicht die Handcreme!

    Aus der Küche dringt der ätzende Geruch nach kaltem Rauch. Der überquellende Aschen-becher steht auf dem Küchentisch, daneben noch immer eine halb leere Kaffeetasse mit roter Lippenstiftspur am Rand!

    „Faules Arschloch!", murmelt Klatt, und er sieht sich ängstlich und hastig um, ob ihn vielleicht jemand gehört hat, aber niemand ist da. Dann schließt er die Wohnungstür. Er verspürt eine überwältigende Müdigkeit und zugleich diesen Durst auf Bier, wie jeden Tag. Aber noch ist es später Nachmittag. Und wenn er jetzt trinkt, wird er einschlafen, das weiß Klatt. Also trinkt er nicht, noch nicht. Das ist besser so, denn bald kommt der Bus aus der Stadt mit seiner Tochter, und er hat noch viel zu tun: Betten bauen, aufräumen, Wäsche abnehmen und zusammenlegen, nasse Wäsche aufhängen, Geschirrspüler einräumen, Mülleimer wegbringen, damit es nicht wieder Ärger gibt, wenn sie kommt!

    Klatt fühlt sich müde und ausgebrannt wie ein Greis. Er weiß nicht, ob es das Frühjahr ist oder irgendetwas anderes, dass jede Kleinigkeit, die zu tun ist, ihm schwer wird.

    Mit müden Bewegungen räumt Klatt den Geschirrspüler ein, den sie von den Schrocks bekommen haben, wie beinahe die gesamte Wohnungseinrichtung. Dinge, die verpflichten; Dinge, die oft hervorgeholt werden, um Klatt zu beschämen.

    Klatt nagt mit den Schneidezähnen an seiner Unterlippe, zieht kleine Hautfetzen aus der Oberfläche, bis ein Blutgeschmack seinen Mund erfüllt. Klatt stapelt schmutziges Geschirr in den Korb des Geschirrspülers, zuletzt ihr Weinglas von gestern Abend und ihre Kaffeetasse vom Morgen mit der Lippenstiftspur am Rand.

    Klatt wird unruhig. Der Durst auf Bier wird stärker. Aber er weiß, dass er jetzt noch nicht trinken darf. Es würde nicht bei einem Bier bleiben, das weiß Klatt. Er würde hastig ein zweites, vielleicht ein drittes Bier trinken. Er würde seine Arbeit nicht schaffen. Es könnte Ärger geben, wenn sie kam. Ärger, Brüllerei und wochenlanges Schweigen, das Klatt nur noch schwer erträgt. Klatt ist schwach. Und er braucht einen Menschen, einen Menschen, der ihm zuhört, zu dem er zurückkehren kann in Not und Leid. Sie aber, sie verweigert sich ihm, wenn er nicht funktioniert. Sie straft ihn mit Schweigen und Verachtung. Sie kann das, denn sie ist stark. Sie braucht niemanden, vielleicht die Schrocks, ihre Eltern. Ihn aber, den Menschen Klatt, braucht sie nicht! Mag sein, dass sie sein Einkommen braucht, die Zwosechs netto, ihn aber, den Menschen Klatt braucht sie nicht! Sie, Mirjam, seine Frau. Seine Frau, die ihm nie eine Frau war. Sie ist die einzige und folgsame Tochter Schrocks geblieben, nie aber seine Frau geworden. Eine Frau ist dem Mann eine Buhne im Chaos. Sie ist ein Ort der Zärtlichkeit und des Friedens. Ein Platz des Trostes, wie der Mutterschoß. Nie ist sie ihm das gewesen!

    Fremd und feind ist sie ihm geblieben. Schwer kalkulierbar, ein Fremdkörper, eine offene und schwärende Wunde! Er nennt sie deshalb bei sich immer nur „die Schrock. Er kann von ihr nicht anders denken. Sie ist „die Schrock und sie bleibt „die Schrock". Zuviel ist zwischen ihnen gewesen. Viel zu viel. Und Klatt weiß, dass er bereits zu lange geblieben ist, dass er verloren hat. Aber auch das ist jetzt egal. Es spielt für Klatt keine Rolle mehr zu siegen oder zu verlieren. Er hat hier auszuhalten, bei dem Kind, das er liebt, bis zum Untergang seiner selbst, wenn es sein muss. Er hat auszuhalten, wie ein Infanterist im Schützengraben, in die Brustwehr gekrallt und mit dem Ziel, nur zu überleben, in den Boden gekrallt auszuharren oder zu sterben, aber noch nicht zu weichen. Klatt harrt also aus, bei der Schrock, erträgt ihr Schweigen, ihre Launen, ihre Wut. Erträgt eine Ehe, die keine ist! Des Kindes wegen erträgt Klatt und hält aus und weil er irgendeinen Menschen braucht, wie kalt der auch sei. Einen Strohhalm in dieser Welt der Barbarei. Die Schrock ist sein Strohhalm, und sie weiß es genau. Das gibt ihr Macht. Macht über Klatt, die sie ausspielt!

    Er, Klatt, ist ein Vehikel ihres Glücks geblieben. Ein gesichtsloses Einkommen, austauschbar theoretisch durch jedes andere Einkommen!

    Klatt hat den Geschirrspüler eingeräumt. Er zieht feuchte Wäschestücke aus der Trommel der Waschmaschine und stapelt sie in einer blauen Plastikschüssel. Der schrille hässliche Schrei der Wohnungsklingel lässt ihn hochschrecken. Er weiß, es ist sechzehn Uhr, der Hortbus ist da. Es muss sein Kind sein. ‘Hat einen Schlüssel, aber benutzt ihn nicht! Hat ja einen lebendigen Schlüssel!’, denkt Klatt. Aber er bezwingt sich und öffnet die Wohnungstür. Er gibt seinem abgehetzten Kind einen fast schüchternen Kuss und nimmt ihr den schweren Scout-Ranzen ab.

    Klatt fragt mechanisch, ob das Essen geschmeckt hat und nach Neuigkeiten. Er ist froh, als sein Kind in sein Zimmer geht und sich den Fernseher einschaltet. Klatt weiß, dass er ein schlechter Vater ist. Ein resignierter, am Leben verzweifelter Vater kann kein guter Vater sein! Er hat keine Träume mehr, keine Ruhe des Herzens, keine Sicherheit, keinen Humor! Dinge, die ein Kind braucht, wie die Luft zum Atmen. Klatt wollte seinem Kind soviel geben. Nichts davon kann er mehr tun. Was ihm bleibt, ist sein bisschen verzweifelte, entsagende Liebe und der Wunsch, sein Kind möge ihn niemals verachten. Dennoch liebt Klatt sein Kind. Er liebt es mehr, als alles andere auf der Welt. Es ist der Grund seines Ausharrens hier. Es ist der Grund seines Leidens und Schweigens!

    Aber trotzdem ist Klatt am liebsten allein. Ganz allein! Er fürchtet die Menschen! Es kostet soviel Kraft, ihnen zuzuhören, mit ihnen zu reden! Und sie drängen einen ab, sie wischen einen vom Tisch, wie ein lästiges Insekt! Sie sehen nur sich selbst, nicht den Anderen! Man konnte sich nicht bewahren im Umgang mit ihnen. Nein, man war ihnen ausgeliefert, sie ordneten einen ihren Zielen unter, spannten einen vor ihren Karren, gewissenlos. Sie zwangen ihn dazu, Dinge zu tun, die nicht die seinen waren, sich selbst aufzugeben, unterzugehen. Und stumm und hilflos sah er zu, ließ es geschehen, feige, ängstlich, Tag um Tag! Deshalb war er lieber allein, ganz allein. Doch immer allein konnte niemand bleiben, auch Klatt nicht! Nein, auch Klatt nicht! Da griff er wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm aus Frau und Kind, wieder und wieder, hastig und in Not. Und meist griff er ins Leere!

    Klatt war ausgebrannt und leer. Die Arbeit war getan, die Betten, das Geschirr, die Wäsche - alles. Und es konnte nun deshalb keinen Ärger mehr geben mit der Schrock, keine Vorwürfe, keine Brüllerei und kein Schweigen. Klatt sieht den Kühlschrank und denkt an das Bier darin, an die barmherzige Decke aus Alkohol und Nacht, die er braucht, um nicht wahnsinnig zu werden, nicht Hand an sich zu legen und auszuhalten in der Barbarei für sein Kind. Er sieht den Kühlschrank und öffnet ihn schnell. Hastig gießt er sich ein Pils ein und trinkt es in schnellen Zügen aus. Er wird ein wenig ruhiger. Müdigkeit steigt in ihm auf. Draußen, vor den Fenstern, zieht die Dämmerung ihre grauen Schleier. In den anderen Neubaublocks brennt Licht hinter vielen Fenstern. Eilig lässt Klatt die Jalousien herunter und zieht die Gardinen zu. Er will nicht, dass ihn jemand sieht, wenn er trinkt. In den Blocks, erbaut vor Jahrzehnten für die Mitarbeiter der einstigen Hochschule für Land- und Nahrungsgüterwirtschaft Bornburg-Sprenzfeld, wohnt vielerorts die Verzweiflung. Die politische Säuberung der Hochschule und die Umstrukturierung haben ihren Tribut gefordert. Der eiserne Besen - die Personalkommission entschied auch hier über berufliches Sein oder Nichtsein. Schrock, Klatts Schwiegervater, hat ihr angehört und mit gekehrt. Seine Fürsprache hob Klatt in den Sattel. Er wurde Dozent. Klatt hat also Arbeit. Er ist ein Privilegierter! Er

    kam, als viele gingen. Das macht ihn verwundbar! Konkurrenz, so lehrt es Klatt in seinen Betriebswirtschaft - Seminaren, ist dem Tierreich entlehntes Verhalten, trägt den Sieg des Gesunden über das Schwache in sich! Konkurrenz, so lehrt es Klatt immer wieder,

    gibt es unter den Unternehmen, um Beschaffungsquellen und Absatzmärkte. Konkurrenz, auch das lehrt Klatt, gibt es unter den Arbeitnehmern, um Lohn und Gehalt! Also sieht Klatt sich vor, um sein Einkommen nicht zu verlieren, das einen Menschen ausmacht, wie Schrock, sein Schwiegervater nicht müde wird, zu deklamieren.

    Schrock muss es wissen. Er ist geachtet und gefürchtet: Geschäftsführer, CDU-Mitglied und Stadtrat, Mitglied des Städtischen Bauausschusses, Inhaber eines Sitzes im Carl-Maria-von-Weber-Theater. Ein Machtmensch, der die Machtausübung über andere Menschen braucht, der keinen Widerspruch, keine andere Meinung duldet. Der den Schmerz und die Demütigung nicht fühlt, die er damit anderen bereitet. Er lebt in der Macht, wie ein Fisch im Wasser. Und er meint, er gebraucht sie gerecht. Er erdrückt jede eigenständige Ansicht in seinem Schatten. Er war wie eine Kiefer im Wald der Gesellschaft. Eine Kiefer, deren aggressive Nadelschicht den Boden bedeckt und kein anderes Wachstum duldet. Kein junger Baum kann gedeihen in seinem Umkreis. Schrock muss es wissen, und er gibt vor, alles zu wissen. Auch, dass ein Einkommen den Menschen ausmacht. Ein Einkommen, nicht aber sein Wissen, sein Können, seine Seele, seine Menschlichkeit! Er hat diese Welt nicht gemacht, sagt Schrock. Sie sei nun einmal barbarisch, und man müsse sich anpassen, um nicht unterzugehen. Sie, Mirjam, die Schrock, hängt an seinen Lippen, den Lippen ihres Gottes. Sie ist gläubig. Sie glaubt an die Weisheit und Allmacht Schrocks. Sie ist sein erster Jünger. Er Klatt, steht dabei, entsetzt und machtlos vor soviel Kälte! Er, Klatt, ist schwach und allein. Die Schrock aber ist stark! Klatt bräuchte sie. Die Schrock aber braucht ihn nicht. Sie ist nicht allein wie er, sie hat ihre Eltern, die im Nachbarblock wohnen und durch das Wohnzimmerfenster bis auf den Tisch von Klatt sehen können, wenn sie wollen. Aber Klatt ist allein! Er hat sich aufgegeben mit Haut und Haar, bereits damals, bei seiner Hochzeit. Er hat alles aufgegeben, um ihretwillen und nichts dafür bekommen: seine Heimat, die Mark Brandenburg, ihre Seen und Kiefernwälder, die er liebte; seine Familie, die er höchstens noch zweimal im Jahr sieht; seine Freunde, seine Ideen, seine

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