Die Kinder der Bosheit: Kriminalroman
Von Ralph Ardnassak
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Über dieses E-Book
"Du fährst schon nach Hause!", befiehlt Guntram Seidel dem Sohn in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet: "Es wird bei mir heute später. Ich lasse mich dann nach Hause fahren!"
Als der Sohn mit dem Auto verschwunden ist, drückt Guntram Seidel auf den Klingelkopf aus Edelstahl neben dem Schlossportal.
Theo Ferstner öffnet die Tür. Fragend und widerwillig mustert er Guntram Seidel.
"Wer sind Sie? Was wollen Sie?", fragt er unfreundlich und arrogant.
"Hauptzollamt Dresden!", sagt Guntram Seidel mit fester Stimme, während seine zitternde rechte Hand bereits in die Tasche der Regenjacke fasst und nach dem Griff der Pistole tastet.
"Ich muss sofort mit Ihrer Frau sprechen! Es geht um Straftaten im Zweckverband!"
"Um Straftaten…?", stammelt Theo Ferstner jetzt fassungslos.
Aber da ist seine Frau schon heran und steht in ihrem roten Kimono zitternd neben ihrem Mann. Alle Selbstsicherheit ist plötzlich von ihr verschwunden.
Wortlos zieht Guntram Seidel die Pistole aus der Tasche seiner Regenjacke, entsichert und feuert vierzehnmal auf die Frau, die im Kugelhagel und im Pulverdampf zusammenbricht.
Guntram Seidel sieht ihr Blut spritzen, sieht sie die Arme hoch reißen und die Einschusslöcher in Stirn, Hals, Brust und Bauch. Er feuert noch, als die Frau als regloses Bündel auf dem Fußboden neben ihrem Mann liegt. Er will ganz sicher gehen, dass so etwas nicht überlebt. Er will ganz sicher gehen, dass so etwas nie wieder anderen Menschen dasjenige antut, was ihm in den letzten 17 Jahren angetan wurde.
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Die Kinder der Bosheit - Ralph Ardnassak
I
Und ich will meinem Volk Israel einen Ort setzen und will es pflanzen, dass es daselbst wohne und nicht mehr in der Irre gehe, und es Kinder der Bosheit nicht mehr drängen wie vormals und seit der Zeit, dass ich Richter über mein Volk Israel verordnet habe.
2. Samuel 7, 10
Diese Nation ist von Menschen vieler Nationen gegründet worden. Sie ist auf dem Prinzip gegründet worden, dass alle Menschen gleich sind und dass die Rechte aller Menschen eingeschränkt werden, wenn die Rechte eines Menschen bedroht sind. Dies ist ein Problem, das uns alle angeht. Es gibt heute arbeitslose Neger. Verglichen mit den Weißen ist ihre Zahl zwei- bis dreimal so groß. Unzulängliche Ausbildung, Zuzug in die großen Städte, Unfähigkeit, Arbeit zu finden, verweigern ihnen die gleichen Rechte. Wir können nicht zu 10 % der Bevölkerung sagen, ihr könnt dieses Recht nicht haben. Eure Kinder können nicht die Chance haben, ihre Begabungen zu entfalten. Dass die einzige Möglichkeit, ihr Recht zu bekommen, darin bestehe, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Ich glaube, wir schulden ihnen und uns ein besseres Land!
John F. Kennedy, 35. Präsident der USA, sprach diese Worte, die mit Sicherheit einer der Gründe für seine als Tat eines Einzeltäters verbrämte Hinrichtung waren! Heute, in der Bundesrepublik Deutschland, die sich demokratisch nennt, gehören 10 % der Bevölkerung annähernd 90 % des Vermögens. Eine immer größere Anzahl von Bürgern wird von Bildung, Kultur und von der Teilhabe an einem menschenwürdigen Dasein ausgeschlossen und sagt nichts dazu oder sieht teilnahmslos zu, wie eine Clique von einer Handvoll superreicher Familien das Land in eine Diktatur verwandelt, die Regierung instrumentalisiert und die Gesetze und die Menschenrechte öffentlich mit Füßen tritt. Das hat weder etwas mit Demokratie zu tun, noch mit Menschenrechten oder mit Menschenwürde! Es ist eine Verhöhnung all jener Begriffe und eine Schande für die Reichen und Regierenden, ebenso für die dumme und teilnahmslose Masse Volk, die all dies in schafsdummer Ergebenheit wortlos duldet! Die Gier und Skrupellosigkeit der Eliten und die dumpfe Teilnahmslosigkeit des Volkes, sie bedingen einander wechselseitig und treiben sich gegenseitig zu immer neuen Höhen! Es ist eine einzige Schande!
Guntram Seidel ist jetzt 76 Jahre alt. Ein beinahe biblisches Alter, wie er sich auszudrücken pflegt, angesichts all der erschreckenden Fülle von persönlichem Leid und Elend, welche in den letzten beiden Jahrzehnten über ihn gekommen ist, wie weiland die Sintflut über das Land der Gottlosen.
Guntram Seidel ist ein Kind dieses Landstriches, in welchem er, ähnlich wie vor ihm schon Eltern und Großeltern und die lange Kette seiner Ahnen, die sich irgendwann in der Zeit vor dem Dreißigjährigen Kriege im Dunkel der Geschichte verlor, seit dem Tage seiner Geburt lebt.
Er ist ebenso sehr ein Kind dieser Landschaft, wie die Föhre mit ihren leuchtend gelben, mitunter sogar ein wenig rötlich schimmernden Stämmen, die ihren charakteristischen herb-aromatischen Duft vor allem in der Gluthitze der scheinbar immer wärmer werdenden Sommer verbreitet, wie der Tee sein Aroma unter dem sprudelnd kochenden Wasser in der kleinen verwohnten Küche zu verbreiten pflegte, wenn seine Frau Else, Gott hab sie selig, sich ihren Lindenblütentee am Abend dort aufbrühte.
Guntram Seidel ist ein Teil dieser Landschaft, wie die glitzernde Furche des breiten und träge fließenden Stroms, der sie durchzieht; wie die Moränen und Urstromtäler und die im Sonnenlicht schimmernden Spiegel der Seen, mit den Wimpernsäumen der raschelnden Schilfwälder, die sie begrenzen und den langen, silbrig-grau verwitterten Stockreihen der Reusen der alten Fischer.
Guntram Seidel ist ein Teil dieser Landschaft, wie ihr von Wäldern und Heiden geprägtes Tiefland; wie ihre Urstromtäler und großflächigen Luchgebiete, die man in vielen Jahrzehnten mühseliger und schmutziger Plackerei durch Meliorationsarbeiten in Wiesen und Weiden umgestaltet hat; wie ihre nährstoffarmen sandigen und lehmigen Böden, von denen es hieß, Landwirtschaft lohne sich nicht auf ihnen, so dass seit dem 13. Jahrhundert die sonst beinahe allgegenwärtigen Rodungsmaßnahmen unterblieben und vor allem auf ihren wenigen Höhenzügen nurmehr Kiefern und das scheinbar ewige Heidekraut gedeihen.
Guntram Seidels ledriges und wettergegerbtes Gesicht, das den Anflug einer ohnmächtigen Resignation und Verzweiflung erkennen lässt, wie diese im Ergebnis regelmäßig wiederkehrender existenzieller Schicksalsschläge im Antlitz empfindsamer Menschen gedeihen, erinnert mit seinen Furchen und Falten an die Tätigkeit der eiszeitlichen Eis- und Gesteinsmassen, die diese im Gesicht seiner Heimat hinterließen.
Wie die fünf großen Ströme dieser Landschaft, zu denen zahlreiche kleine Nebenflüsse und Bäche hin strömen, so zieht sich ein Gewirr tieferer und weniger ausgeprägter Falten und Linien durch das gelbliche und matt vom Schweiß glänzende Gesicht Guntram Seidels, das unter dem Gestrüpp des schütteren grauen Haares zu glimmen scheint, wie eine verlöschende Tranfunzel im kühlen Herbstwind.
Wie Eiszeit, Erosion, Wind und Wasser und die rodende Axt und die tief pflügende Pflugschar ihre charakteristischen Zeichen in der Landschaft hinterlassen und sie gezeichnet haben, so haben sich das persönliche Leid, die unerbittliche Wucht regelmäßiger und die Seele bis ins Mark erschütternder Schicksalsschläge sowie die Last jahrzehntelanger schwerer körperlicher Arbeit in das Gesicht von Guntram Seidel eingegraben.
Buschig, als wäre er ein Eulenvogel, stehen die grauschwarzen Borsten seiner wuchernden Augenbrauen nach oben und auf der Nase sitzt ihm, schief und bestimmt ein halbes dutzend Mal mit der klobigen Kombizange selbst wieder zurecht gebogen, um das Geld für den Optiker zu sparen, eine beinahe unförmige Stahlbrille mit fettigen und verschmierten Gläsern, wie sie vor Jahrzehnten einmal in Mode gewesen ist.
Bekleidet ist Guntram Seidel, wie immer, wenn er ins Dorf und unter die Leute geht, mit einer grob gestrickten fettigen Strickjacke, deren Gewebe an den Ellenbogen bereits hauchdünn ist, auf deren Kragen und Schultern sich unzählige weißliche Schuppen und einige seiner beim Kämmen vor dem Spiegel ausgefallenen grauen Haarsträhnen ausgebreitet haben.
Unter der Strickjacke trägt Guntram Seidel ein einfaches kariertes Hemd, aus dessen Kragen ein graues Büschel der Behaarung hervor lugt, die seine eingefallene Brust ziert, wie ein Fell. Die Beine stecken in ausgewaschenen Jeanshosen, die Füße in grauen Socken und ausgelatschten braunen Schnürschuhen mit abgestoßenen Spitzen und schief gelaufenen Haken.
Guntram Seidel sitzt gebeugt auf dem Stuhl und betrachtet die Lichtflecken der Morgensonne auf dem ausgebleichten Linoleum. Er hat seine dürren Hände mit den langen krummen Fingern und den ewig nicht geschnittenen, stets ein wenig schmutzigen und brüchigen Fingernägeln, ineinander gefaltet, als wolle er beten. Doch erinnern diese Hände eher an die Krallen eines Raubvogels. Überhaupt erinnert der ganze Mann, wie er krumm und eingefallen auf seinem Stuhl hockt, mit den buschigen Augenbrauen, dem wachsamen und unsteten Blick, der breiten Nase und der trotz der Zahnprothese wie eingefallen wirkenden Mundpartie, an einen Raubvogel. An einen ganz und gar hilflosen Raubvogel.
Guntram Seidel sitzt krumm, wie ein Kutscher auf seinem Bock. Er sitzt vornüber gebeugt und sein Atem geht heftig, wie bei einem erschöpften Jagdhund nach der Hatz, so dass sich der Busch des grauen Haares, der aus seinem Hemdkragen heraus ragt, deutlich wahrnehmbar hebt und senkt.
An diesem Morgen sitzt Guntram Seidel im Wartezimmer des Arztes, wie so oft.
Er achtet nicht auf die anderen Menschen, die auf den Holzstühlen entlang der Wand sitzen und ihn verstohlen mustern oder in einer der abgegriffenen Illustrierten lesen, die auf dem einzigen niedrigen Tisch in der Mitte des Wartezimmers zwischen Vasen mit gelblichen Kunstblumen liegen.
Meist sind es ältere Menschen, die ihre Gehstöcke zwischen ihren Knien halten, während sie sitzen und beide Hände darauf abgestützt haben.
Meist sind es ältere Menschen, die ein Rezept brauchen, für ein Medikament, das den Blutdruck senken oder den Herzschlag normalisieren soll oder die Schmerzen in den alten Gelenken lindern.
Das Wartezimmer füllt sich. Immer mehr Menschen tasten sich hinein, überblicken zuerst suchend den Raum, finden endlich einen freien Stuhl, setzen sich ächzend und brummen erst dann, akustisch kaum zu vernehmen, einen angedeuteten Gruß in die Runde.
Im Raum verbreitet sich jene eigentümliche Mischung von Gerüchen, wie sie von vielen unterschiedlichen Menschen ausgeht, die an einem Ort zwangsweise beisammen sind.
Es riecht nach Seife und Schweiß, nach Rasierwasser und frisch geputzten Schuhen, nach Weichspüler und nach dem Atem von Menschen, die gerade erst eine Tasse Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht haben.
Ab und zu scharrt einer der Sitzenden mit dem Fuß über das Linoleum, so dass es, des Sandes unter den Sohlen wegen, ein Geräusch gibt, wie vom Sandpapier, das über Holz fährt. Hin und wieder gibt es ein scharrendes Geräusch, wenn einer seinen Stuhl bewegt. Das Papier der Illustrierten raschelt beim Umblättern und der Atem derjenigen, die offenen Mundes sitzen, geht laut und schwer in den Raum. Manchmal dringen ein Husten und ein Röcheln in die Stille oder ein halblautes Flüstern zwischen Zweien, die gemeinsam in die Sprechstunde gekommen sind und die zusammen gehören.
Guntram Seidel blickt nur auf die tanzenden Lichtflecken auf dem Fußboden. Er weiß, dass er von diesen Menschen hier nichts zu erwarten hat. Und dass sie ihn neugierig aus den Augenwinkeln heraus beobachten. Ihn, den Querulanten, der sein Wasser nicht zahlen kann und der sich immer wieder mit den Mächtigen im Landkreis angelegt hat.
In dem kleinen und inzwischen übervollen Wartezimmer des Arztes herrschte eine gedrückte und gleichzeitig angespannte Atmosphäre.
Alles schien so, als würden diejenigen, denen es finanziell noch halbwegs gut ging, weil sie den Richtigen in der Verwandtschaft oder Bekanntschaft hatten oder weil sie ganz einfach Glück gehabt hatten, die Anderen, die richtig arm dran waren, selbst hier noch belauern.
Es herrschte eine Atmosphäre, als könne jederzeit irgendein Streit oder eine Auseinandersetzung ausbrechen und man müsse sich dafür rüsten, indem man schwieg, seine Kälte und Unnahbarkeit zum Ausdruck brachte.
Es schien, als würden Neid, Missgunst und Misstrauen hier im Wartezimmer unter den Patienten sitzen und mit ihnen darauf warten, dass Schwester Bärbel endlich durch die Tür treten würde, um den nächsten Patienten aufzurufen.
II
Nachdem Guntram Seidel gut zwei Stunden im Wartezimmer gesessen und gewartet hatte, nachdem immer wieder Patienten ins Arztzimmer herein gerufen worden waren, um dann, ein Rezept in der Hand, wieder hinaus zu kommen, öffnete sich endlich die Tür und die blonde Schwester Bärbel, die er schon als Kind gekannt hatte, steckte den Kopf hindurch und ins Wartezimmer und flötete mit hoher Stimme: „Herr Seidel bitte!"
Guntram Seidel schlurfte in den Vorraum des Sprechzimmers, wo die Schwester hinter ihrem Tresen saß. Er wusste, dass nun, wie immer, zuerst der Blutdruck gemessen wurde.
„Morgen, Kindchen!", sagte Guntram Seidel mit müder und ein wenig tonloser Stimme, setzte sich unaufgefordert an den Tisch und knöpfte den rechten Hemdsärmel auf.
Bärbel, vielleicht um ihre Verlegenheit zu bemänteln, redete ihn stets in der dritten Person an.
„Er weiß