Dein Tod wird uns nicht scheiden: Tagebuch einer Trauer
Von Günter Franzen
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Über dieses E-Book
Eine bewegende Suche nach einer Sprache, die den Tod überwindet.
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Buchvorschau
Dein Tod wird uns nicht scheiden - Günter Franzen
Günter Franzen
Dein Tod wird uns
nicht scheiden
Tagebuch einer Trauer
Impressum
© KREUZ VERLAG
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011
Alle Rechte vorbehalten
www.kreuz-verlag.de
Umschlaggestaltung und Konzeption: Agentur R.M.E
Eschlbeck / Hanel / Gober
Umschlagmotiv: © STOCK4B / mauritius images
Autorenfoto: © Isolde Ohlbaum;
Familienfoto: privat
ISBN (E-Book) 978-3-451-80077-1
Meinen Töchtern
Franka und Sarah
Inhalt
Aus und vorbei
Ohne sie
Bei Aldi
Im Hades
Kurztherapie
Ferngespräche
PhotoScape
Auf dem Holzweg
Unter Männern
Der süße Brei
Nachttalk
Kehraus
Ballast
Melis
Unheilig
Es war einmal
Milde Gaben
Zuspruch am Morgen
Auf der Flucht
Bruderherz
Am schönen Moos
Guter Gott
Comeback
Friendscout
Hemd und Rock
Ihr Tagebuch, bei Nacht gelesen
Nachbemerkung
Literatur & Quellen
»Niemals sind wir ungeschützter gegen das Leiden, als wenn wir lieben, niemals hilfloser unglücklich, als wenn wir das geliebte Objekt oder seine Liebe verloren haben.«
Sigmund Freud
Aus und vorbei
25. Mai 2009
Wir sind heute hier zusammengekommen, um Abschied von Franziska zu nehmen, Frankas Mutter, meiner Frau. Ich habe mich trotz des anhaltenden Zustandes der Fassungslosigkeit entschlossen, selbst zu Ihnen und euch zu sprechen, weil es mir unerträglich wäre, aus fremdem Mund ein falsches Wort zu vernehmen, und wenn auch ich den richtigen Ton verfehlen sollte, dann muss ich das nur vor Franziska und mir selbst verantworten.
Liebe Schwiegereltern, ich glaube euer Befremden gespürt zu haben, als ich euch mitteilte, dass ich mich am heutigen Tag des Beistands durch einen Geistlichen nicht versichern würde. Es tut mir leid, damit Vorstellungen und Gefühle gläubiger, mir nahestehender Menschen zu verletzen, aber meine in den vergangenen zwölf Monaten zum Himmel geschickten Stoßgebete sind durchweg unerhört geblieben, und ich habe Gott, unseren Herrn, einmal mehr als derart rachsüchtig und gnadenlos erlebt, dass es mir heute unmöglich ist, die Tröstungen durch einen seiner Stellvertreter auf Erden anzunehmen. Ich sage es in Zorn und Verzweiflung: Er hat uns im Stich gelassen, also muss es – gewiss mehr schlecht als recht – auch ohne ihn gehen.
Die Frau, die am Morgen des 16. November 1992 auf meinem Weg zur Arbeit von Heddernheim ins Frankfurter Uniklinikum an der Station Fritz-Tarnow-Straße in die U-Bahn stieg, trug hochhackige, schwarze Wildlederstiefel, einen dunkelblauen, taillierten Wollmantel und eine tief in die Stirn gezogene Baskenmütze, unter der blaue Augen hervorblitzten; ein Augenpaar, das ich bis zum Ende meiner Tage nicht vergessen werde. Ihr Blick glitt wach und offen über die müden, hinter Büchern und Zeitungen verschanzten Fahrgäste hinweg; Ausdruck einer unerschrockenen, dem Menschen zugewandten Neugier, von der ich erst sehr viel später erfahren sollte, dass diese Eigenschaft nicht nur mich, sondern auch andere in ihren Bann schlug: Kollegen, Freunde, Patienten. Als die Unbekannte an der Hauptwache die U-Bahn verließ, ging ich wie von unsichtbaren Fäden gezogen hinter ihr her – »errötend folgt er ihren Spuren« –, und erst als sich diese Spuren im Menschengewirr der B-Ebene verloren, wurde ich der Fragwürdigkeit meines Treibens inne und ließ davon ab.
Wenige Monate später saß ich als Gast im Plenum eines psychoanalytischen Fachkongresses, und weil der Hauptvortrag gähnende Langeweile verströmte, wandte ich mich den vorderen Bankreihen zu und fuhr wie elektrisiert hoch, als ich eine moosgrüne, von einer Art Maulwurfkragen gezierte Cordbluse erblickte, aus der sich ein sehr zarter, sehr stolzer Nacken erhob. Wenn ich sage, dass es mir gelang, sie in der Kaffeepause in ein Gespräch zu verstricken, gibt das den Charakter unseres Austauschs nur unzulänglich wieder. Ich redete haltlos wie ein Wasserfall: von der schicksalhaften Begegnung in der U-Bahn, meiner Lebensgeschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart, von dem Bedürfnis, sie wiederzusehen, und als das Bekenntnisstakkato in dem Wunsch gipfelte, mit ihr ein Kind zu haben, schaute sie mich an, als ob ich von Sinnen sei, was ja auch zweifellos der Fall war. Sie beendete meinen manischen Monolog mit dem Hinweis, ihren Kaffee selbst bezahlen zu wollen, und der nüchternen Feststellung, dass ich verheiratet sei und bereits ein Kind hätte.
In den folgenden Jahren machte ich ihr aus der Ferne den Hof, schickte selbst gekochte Zitronenmarmelade, einen schwarzen Porzellanpanther als Salzstreuer und jede Menge lyrisch gesättigter Grußpostkarten, aber bei Licht betrachtet wollte ich eigentlich immer nur spielen, immer weiterspielen, ohne etwas zu riskieren; Symptom einer lang gestreckten, bis zum 50. Lebensjahr ausgedehnten Pubertät im rotgrünen Juste-Milieu – 1460 vergeudete Tage, die Franziska, Franka und mir in der Bilanz unseres Lebens fehlen.
Am 22. August 1997 lud sie mich zur Pilzsuche in den im Hintertaunus gelegenen Werheimer Forst ein. Pilze fanden wir keine, aber wir kamen uns näher. Als sie am Ende eines lichtdurchfluteten, von scheuen Zärtlichkeiten gesäumten Tages in ihren betagten Golf kletterte, sagte sie mir, dass sie sich auf mich einlassen wolle, aber nicht als Geliebte; den Status habe sie hinlänglich genossen: Als ich in dieser Nacht ihrem davonfahrenden Auto hinterherstarrte, wusste ich, dass die Tändelei vorbei war, dass diese Frau keine Vagheit des Herzens dulden würde, und dass ich springen musste. Ich sprang und habe es nie bereut.
Die Zeit unserer Zweisamkeit war kurz, aber Franziska lehrte mich in dieser Zeit, die Welt mit ihren Augen zu sehen. Im Herbst desselben Jahres fuhren wir für eine Woche nach Davos. An einem kalten, sonnigen Tag wanderten wir zu dem auf 2300 Metern Höhe gelegenen Wandfluh-Joch. Die in gleißendes Licht getauchte Bergstation war menschenleer, und wir lagen Hand in Hand auf den zusammengeschobenen Holzliegen, um auszuruhen. Ich gab mich dem Duft ihrer erhitzten, schweißnassen Haut hin, und sie deutete mit dem Finger auf einen leuchtenden, smaragdfarbenen, in das ferne Alpenpanorama eingelassenen Flecken: »Flechten«, sagte sie, »ein Meer von Flechten, siehst du sie?«, und so gab sie den Dingen einen Namen, für die ich bislang keinen hatte. Ihr Sinn für die Schönheit der Welt und die ungeheure Vielfalt des Lebens ging in diesen und vielen anderen glücklichen Momenten auf mich über, und sie hat mich an einer Lebendigkeit teilhaben lassen, die mir nicht in die Wiege gelegt war: »Deutsche Klinke«, schrieb Wolfgang Neuß über mich und die Männer meiner Generation, »immer so niedergedrückt.«
Weil mich Franziska in ihren letzten, mir hinterlassenen Aufzeichnungen wieder und wieder beschworen hat, um unseres Kindes Willen im Angesicht ihres Todes nicht in Schwermut und Versteinerung zu verfallen, möchte ich versuchen, ein letztes Mal ihrem Wunsch nachzukommen, was mir überraschend leichtfällt, wenn ich an Franka denke.
Wir haben sie mit allen Fasern unserer Herzen herbeigesehnt, und als dieses zartrosige Wesen am 3. April 1999 das Licht der Welt erblickte und Franziska es mir nach der Entbindung in den Arm legte, war ich von einer Seligkeit durchdrungen, von der ich 52 Jahre lang nicht zu hoffen gewagt hatte, dass sie mir je zuteilwerden könnte.
Sie war 39, sie war mit Leib und Seele Psychoanalytikerin, und sie war mit Leib und Seele Mutter und schenkte ihrem Kind ihre uneingeschränkte, vorbehaltlose Zuneigung, so, als habe das innere Programm der Mutterschaft die ganze Zeit über in ihr bereitgelegen. Seit Franka ihre Sprachfähigkeit erlangte, spielten die beiden nach dem sonntäglichen Aufwachen im Elternbett ein Spiel, das darin bestand, die Fingerkuppen der großen mit der der kleinen Hand zu verbinden. Dann flüsterte Franziska: »Strom der Liebe« und Franka antwortete: »Strom der Liebe.«
Ich hoffe inständig, dass das zehnjährige Bad im Meer der mütterlichen Liebe ausreicht, um unsere Tochter vor den Fährnissen und Verletzbarkeiten der weiblichen Existenz zu schützen, und ihr ermöglicht, das Erbe Franziskas anzutreten, das in einer, wenngleich knappen, so doch sehr frohen Botschaft besteht: Es ist wunderbar, eine Frau, es ist wunderbar, eine Mutter zu sein. Wenn ich jetzt so vor Ihnen und euch stehe und rede und rede und drohe, kein Ende zu finden, beschreibt das die Situation der letzten Wochen unserer Dreisamkeit. Es gehörte zum abendlichen Einschlafritual, dass ich Franziska und Franka Geschichten vorlas, kreuz und quer durch die Jugend- und Weltliteratur: Astrid Lindgren, Ottfried Preußler, Anton Tschechow und zuletzt Fritz Mühlenwegs Abenteuerepos In geheimer Mission durch die Wüste Gobi. Es begann mit 30 Minuten und steigerte sich von Abend zu Abend bis zu anderthalb Stunden. Ich las und erzählte in zunehmender Panik wie Scheherazade zur Abwendung des über ihr schwebenden Schwertes, bis Franziska am Ende sagte: »Es ist genug, Liebster, ich bin müde.« Wir sind auf der Reise durch die Wüste Gobi bis zur Seite 593 vorgestoßen: »Aber die Hügel waren rund, die Berge sahen aus wie bei Anbeginn der Welt, und die Karawanenstraße zog durch das breite Tal nach oben. Sie schwankte nicht nach links und sie bog nicht nach rechts. Sie führte von Sutschou nach Barkul oder Uljassutai, das war ihre Aufgabe. An Gold dachte keiner der Vorüberziehenden mehr.«
Die Karawane zieht weiter, liebe Franka, und wir beide werden allein herausfinden müssen, welche Kapitel auf uns warten und welcher Weg für uns der beste ist.
Wenn dieser Weg für unser Kind geebnet, wenn die Arbeit des Lebens getan und die Zeit reif ist, dann will ich dir, ohne zu zögern, überallhin folgen, meine Liebste, um von deinen Armen umfangen zu werden: Into the Great Wide Open.
~
Ohne sie
Juni 2009
Der wahre Souverän unseres Gemeinwesens ist der Überdruss. Im Sommer diesen Jahres lässt er über einen seiner Pressesprecher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verkünden, dass die Saison für Bücher über Krebs und Tod beendet sei: »Erzählt von dem, was zählt, und nicht von Tumormarkern. Erzählt vom Leben. Das Ende kennen wir schon.« Damit spricht er zweifellos einer Leserschaft aus dem Herzen, die sich aufgrund der demografischen Entwicklung vorwiegend aus den schlagfesten und witterungsbeständigen Best Agern der Jahrgänge 1930 bis 1950 rekrutiert, die sich nicht nur ans Leben klammern, wie es der Autor besungen wissen will, sondern auch die der Apotheken-Umschau entnommene Glücksformel kennen, mit der es bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auszudehnen ist: Mülltrennung und Heilfasten, Bachblütentherapie und Wassertreten, Bio-Kost und Gemütsschonung und nach dem letzten Fango vollzieht sich das Finale womöglich so schmerzfrei, reibungslos und geräuscharm wie der Etagenwechsel in einem Wellness-Hotel der Fünf-Sterne-Kategorie.
Das Ende kennen wir schon? Sie werden ihr Wunder erleben, und davon, dass es kein blaues sein wird, könnten die jährlich 200 000 Krebstoten ein Lied singen, wenn sie denn eine Stimme hätten.
Wenn es zutrifft, dass der typische Angehörige der studentischen Protestgeneration unter anderem daran zu erkennen ist, dass es ihm bis ins Rentenalter vergönnt ist, unter Umgehung der in der bürgerlichen Restgesellschaft üblichen Reifungsprozesse, wie eingefroren in der Gestalt des Adoleszenten zu verharren, kann ich von mir sagen, dass mein Bad im Jungbrunnen des Alternativmilieus vor zwölf Jahren mit Anfang 50 vergleichsweise früh und jäh endete. Getrieben von dem, was der Essayist Michael Rutschky als Erfahrungshunger bezeichnete, ein Zustand, in dem das kollektive Ideal der Weltrevolution im Verlauf seines Scheiterns auf die Abmessungen einer individuellen Utopie der Unbestimmtheit, des Vagierens, der Strukturlosigkeit, der Entgrenzung und der radikalen Selbstverwirklichung schrumpfte, machte ich zu diesem Zeitpunkt einer Frau den Hof, die als Psychoanalytikerin meine halbherzige Werbung über mehrere Jahre mit einer Mischung aus Verwunderung und klinischem Interesse hatte über sich ergehen lassen und der an einem schönen Augusttag des Jahres 1997 angesichts meines unverbindlichen Geplänkels endgültig der Geduldsfaden riss: »Wenn du mich mit deiner poetischen Suada wirklich meinst, musst du dich entscheiden: Take it or leave it!«
Ihr Ultimatum, lebensklug und frei von Frivolität, verwandelte den blinkenden Talmipanzer des narzisstischen Blenders in das schäbige Kleid eines Narren, der, ausgestattet mit dem Habitus der moralischen und theoretischen Überlegenheit des undogmatischen Linken, alles in trügerischen Einklang zu bringen suchte: die Launen mit den Gelegenheiten, das Gewünschte mit dem Vorhandenen und das literarische Kunstgewerbe mit der Herstellung vorübergehender Erregungszustände: Dies bisschen Lust will Ewigkeit? Das Repertoire hatte sich offensichtlich erschöpft, und als die kühle Selbsterkenntnis ins gewöhnliche Selbstmitleid zu kippen drohte, ging mir ein Licht auf. Da war es doch endlich, das herbeigesehnte sehende Gesicht; offene Augen, die dich umfangen und halten mit Wissen und Güte, Verlangen und Hingabe, Wärme und Vertrauen. Ich war dem Menschen begegnet, der mir bestimmt war von Anbeginn, von dem ich wusste, dass er zu mir passte wie keiner vor und nach ihm, und weil das so war, bedurfte es nur eines Wortes: »Ja.«
Danach war alles ganz einfach. Unter dem Müll postmoderner Auswegsfülle, aus den verleugneten und verschütteten Quellen zweier katholischer Kindheiten sprang jenseits verschlissener Liebesschwüre ein Gefühl unauflöslicher Verbundenheit auf, ein von heiligem Ernst beflügelter Glaube, der den romantischen Furor und die wechselseitige physische Anziehung aufhob, ohne sie zu unterwerfen: Du und Ich, Treue um Treue bis in alle Ewigkeit.
Credo quia absurdum, das heißt, es ist gewiss, weil es unmöglich scheint, und nach 20-monatiger Adventszeit bestaunten eine nicht mehr ganz junge Frau und ein Mann in fortgeschrittenem Alter das atmende Wunder, das sie selbst hervorbringen durften: »Ein Kindelein so zart und fein, das soll euer Freud und Wonne sein.« Ein dankbares Paar, eine Handbreit über den Niederungen des Alltags, zitternd vor Glück, das, gleichermaßen unverdient wie uneinklagbar, zweifellos von oben kommt. Und Gott war mit den Liebenden, zehn Jahre oder 3650 Tage und Nächte lang. Bis zum Morgen des 15. Juni 2008.
Der Engel, der die Vertreibung verkündet, ist kein mit dem Flammenschwert drohender Cherubim, sondern der stets freundlich lächelnde Leiter der onkologischen Abteilung des St.-Markus-Krankenhauses. Er kann nach mehrwöchigen diagnostischen Anstrengungen und dem erfolglosen Einsatz panzerbrechender Antibiotika ausschließen, dass es sich bei der anhaltenden Atemnot um das Symptom eines grippalen Infekts, einer Bronchitis oder einer Pneumonie handelt. Er spricht mit fremden Zungen und seine Stimme hat einen dünnen metallischen Klang: »Bronchialkarzinom Stadium IV. Maligner Pleuraerguss. Weichteilmetastase linker Oberarm.«
Im Andachtsraum der Klinik sinkt sie mir weinend in die Arme: »Halt mich fest, ich bin verloren. Das wird die Hölle. Bring die Kleine aus der Schusslinie.«
Da, wo die Haut besonders dünn, durchscheinend und