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Malleus communisticarum oder der Stiefel Gottes: Roman einer Entmenschlichung
Malleus communisticarum oder der Stiefel Gottes: Roman einer Entmenschlichung
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eBook324 Seiten3 Stunden

Malleus communisticarum oder der Stiefel Gottes: Roman einer Entmenschlichung

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Über dieses E-Book

Er kannte weder die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels, keine einzige Zeile davon, die er beide allein aufgrund der Tatsache verabscheute, weil sie das verhasste kommunistische Regime beständig zu seiner Legitimierung heran zog. Aber wie jene ließ er sein Gesichtshaar üppig wuchern und sprießen, um dadurch wie sie seine Verachtung des herrschenden Establishments zum Ausdruck zu bringen.
Glatt rasiert war nämlich in jenen Jahren vornehmlich die Staatsmacht gewesen. Glatt rasiert waren Honecker und Mielke und Ihresgleichen. Glatt rasiert waren die Parteifunktionäre und die Bonzen aller Hierarchiestufen, an deren Revers das Bonbon, das Parteiabzeichen, blitzte wie eine Eintrittskarte in die bessere Gesellschaft der DDR. Glatt rasiert waren die Vopos, die Stasis, die Offiziere, die Schließer in den Gefängnissen, die Spitzel und Aufpasser und die FDJ-ler, die die Fahnen und Fackeln zu den Republikgeburtstagen an der hölzernen Tribüne in der Karl-Marx-Allee mit all den winkenden Greisen um den vertrottelten und autoritären Honecker vorbei trugen!
Glatt rasiert waren die Schuldirektoren und die Generaldirektoren der volkseigenen Kombinate! Glatt rasiert waren die Offiziersschüler. Glatt rasiert und dressiert waren die gegenwärtigen und die künftigen Eliten der sozialistischen Gesellschaft der DDR! Die privilegierten Leistungssportler und die Schriftsteller, die gehätschelten Künstler, die Ideologen und Strategen und die Wirtschaftslenker. Die Jagdgenossen Honeckers, die linientreuen Familien, die nicht auffallen, sondern aufsteigen wollten und die mit dieser Angst, um ihre Pfründe gebracht zu werden, all die tausend Ungerechtigkeiten des Regimes erst ermöglichten.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum23. Dez. 2014
ISBN9783738010367
Malleus communisticarum oder der Stiefel Gottes: Roman einer Entmenschlichung

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    Buchvorschau

    Malleus communisticarum oder der Stiefel Gottes - Ralph Ardnassak

    I

    Die Rache ist eine Art von wildwachsen-

    der Gerichtsbarkeit, die das Gesetz, je

    mehr die menschliche Natur dazu hin-

    neigt, umso dringender ausrotten

    sollte.

    (Francis Bacon)

    Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

    (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 101, Satz 1)

    Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Straftat gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

    (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 103, Satz 2)

    Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.

    (Bärbel Bohley)

    Gelegentlich kam es in den neuen Bundesländern im Zusammenhang mit den Ereignissen der „Wende", der sogenannten friedlichen Revolution, zur Selbsttötung von Menschen. Darunter waren politisch Verantwortliche unterschiedlicher Ebenen, aber auch einfache Bürger. Die Motive waren verschieden und komplex, sie reichten offenbar von Angst vor Rache und juristischer Vergeltung bis hin zur Einsicht der kommenden eigenen Perspektivlosigkeit, Scham oder Schuldgefühlen.

    Studien und diverse Artikel, unter anderem im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, negieren das Problem oder bezeichnen es offen als DDR-Nostalgie (http://www.spiegel.de/einestages/selbstmorde-nach-der-wende-a-946683.html). Die exakte Zahl der wendebedingten Suizidhandlungen ist bis heute ungeklärt. An einer emotionslosen und sachlichen Aufklärung der Problematik besteht aktuell offenbar keinerlei Interesse.

    Diejenigen mögen auch einmal die gerechte Strafe erhalten, die mich zu diesem Schritt trieben.

    (aus dem Abschiedsbrief des LPG-Vorsitzenden der Harzgemeinde Rieder, Helmut Dube, verfasst vor seinem Suizid)

    II

    Der einstige Minister ohne Geschäftsbereich hatte es vollbracht! Er hatte sich, gegen die Widerstände zahlreicher politischer Gegner, ja selbst gegen die Widerstände verschiedener seiner eigenen Anhänger, durchgesetzt!

    Er wusste, es kam im Leben eines Menschen entscheidend darauf an, sich durchzusetzen, vor allem dann, wenn dieser Mensch sich für einen bedeutenden Menschen hielt, der sich dazu berufen fühlte, Geschichte zu schreiben, um auf diese Weise selbst in die Annalen der Historie einzugehen!

    Die letzten Jahre, die Jahre der politischen Wende, sie waren zweifellos turbulent gewesen. Sie hatten ihn, so fühlte er sich jedenfalls, von ganz unten nach ganz oben gespült. Dorthin, wo er meinte zu fühlen, dass sich ein zumindest angemessener Platz für ihn befände. Dorthin, wo er meinte, hingehören zu müssen. Er fühlte sich wie ein Getretener, der nun endlich selbst dazu berufen war, zum Stiefel Gottes zu werden und kräftig zu treten!

    Eigentlich meinte er oft, dass die Bezeichnung Stiefelknecht Gottes für ihn, den einstigen Jugendpfarrer und jetzigen Politiker, passender gewesen wäre, aber andererseits fand er auch, dass jetzt nicht die Zeit für Bescheidenheit war. Zu lange schon war er bescheiden gewesen, hatte er kleine Brötchen gebacken. Zu kleine, ja eigentlich mickrige Brötchen, wie er fand. Und wer jetzt leise und bescheiden war, in dieser neuen Zeit des Aufbruchs, der eitlen Spreitzerei, der Erhebung von Ansprüchen und der Umverteilung von Macht, Ämtern und Vermögen, der würde es später umso schwerer haben, der würde niemals mehr Gehör finden!

    Er hatte sie erlebt und kennengelernt, die vielen politischen Mitkämpfer und Kollegen, wie sie, sobald Opposition gefahrlos möglich geworden war, aus ihren Löchern heraus gekrochen kamen, in denen sie sich ganz komfortabel eingerichtet hatten, um nun auf Opfer zu machen und lauthals nach Vergeltung zu schreien, um sich auf diese Weise in Szene zu setzen und eine, oftmals späte, Karriere einzufordern, für die es, angesichts des fortgeschrittenen Alters und des einsetzenden rücksichtslosen Gedränges um Pfründe und Ämter, keine zweite Chance mehr geben würde. Bereits in einigen Jahren, das ahnten die Meisten, würden alle lukrativen Posten auf diese Art schon vergeben und somit verloren sein!

    Der einstige Minister ohne Geschäftsbereich hatte viel über die französische und die russische Revolution gelesen. Er wusste, dass der Volkszorn ungerecht, dumm, dafür aber geradezu allmächtig und gefürchtet war. Er hatte erlebt, wie die johlenden Massen, die an den Montagen auf den Straßen Leipzigs unterwegs gewesen waren, die allmächtige Staatsmacht, bestehend aus dem gefürchteten Ministerium für Staatssicherheit, der Nationalen Volksarmee, der Volkspolizei und den Kampfgruppen, einfach hinweg gejohlt und hinweg demonstriert hatte! Es war eine eindrucksvolle Lektion gewesen, wie der Volkszorn einiger zehntausend Demonstranten die einst omnipotente Staatsmacht dazu bewegt hatte, völlig kampf- und widerstandslos den Schwanz einzuziehen, ja mehr noch, sich schließlich in die Demutsgeste zu begeben und sich so unter tausenden von quälenden Rechtfertigungs- und Schuldanerkenntnistiraden die eigene wirtschaftliche Existenzgrundlage willig und ergeben entziehen zu lassen.

    Die Erkenntnis der Möglichkeit, sich wie einst Napoleon an die Spitze dieses unberechenbar, aber allgegenwärtig kochenden Volkszornes zu stellen, um sich wie jener kurzleibige Korse davon zum höchsten Ruhm empor tragen zu lassen, hatte ihm eine regelrechte Gänsehaut beschert und er hatte damals sofort beschlossen, zu einer solchen Art Volkstribun zu werden!

    Im Grunde verabscheute er sein Volk, von dem er meinte, es habe sich zum Knecht und Büttel zweier Diktaturen in Folge machen lassen. Erst zum Büttel der Hitlerschen Diktatur und dann zum Büttel Stalins. Ein solches Volk war nicht nur dumm und berechnend, es war vor allem vollkommen amoralisch und ohne jedweden Ehrbegriff, wie er fand. Es handelte aus reinem Opportunismus, indem es sich sofort und bereitwillig jeder neuen Art von Macht andiente.

    Es war gefährlich, sich der wechselnden Gunst eines solchen Pöbelhaufens anzuvertrauen und darauf seine eigene wirtschaftliche Zukunft zu gründen! Andererseits war es jedoch auch einfach, denn man brauchte nur auf die beinahe stündlich wechselnden Forderungen des Volkes zu lauschen, stets noch eins drauf zu setzen und diese Meinung dann mit Vehemenz und lautstark in der Öffentlichkeit zu vertreten. Schon war der Volkstribun oder der basisdemokratische Politiker geboren!

    Der Minister ohne Geschäftsbereich hatte also beschlossen, dass es ihm zustehen würde, ein wichtiger Mann in der deutschen Geschichte zu werden und dass dies am einfachsten über den Weg des Volkstribuns zu bewerkstelligen sei. Also schickte er sich an, ein solcher Volkstribun zu werden! Ein Mann wie Luther, den Willen des Volkes in der rechten und den protestantischen Glauben als Waffe in der linken Faust!

    Mitunter plagten ihn deswegen Ansätze eines schlechten Gewissens. Er sagte sich, dies aber nur in ganz wenigen lichten Momenten, dass er im Grunde doch eitel sei. Aus seiner theologischen Ausbildung wusste er nämlich noch, dass Eitelkeit eine Sünde darstellte. Sie war deswegen eine Sünde, weil sie das Denken des Menschen von Gott ab- und stattdessen zum eigenen Körper und zu dessen Äußerlichkeiten hinlenkte.

    Aber dann beruhigte er sich sogleich mit der Erkenntnis, dass er schließlich ein protestantischer und kein katholischer Theologe sei. Rechnete schließlich lediglich die katholische Theologie die Eitelkeit als Superbia zu den Haupt- oder Todsünden des Menschen, den peccati mortiferi, zu denen weiterhin Avaritia, Luxuria, Ira, Gula, Invidia und Acedia, nämlich Habgier, Wollust, Selbstsucht, Rachsucht, Missgunst und Ignoranz gezählt wurden.

    Im Grunde war er jetzt, angesichts der Wende, sogar ganz besonders glücklich darüber, dass er Protestant und nicht Katholik war. Hätte die Wende in Bayern oder in Baden-Württemberg stattgefunden, so wäre es sicherlich für ihn vorteilhafter gewesen, Katholik zu sein. Nicht aber hier, in der Mitte Deutschlands, der Heimat und Zufluchtsstätte Luthers, wo man das protestantische Bekenntnis noch immer mit Rechtschaffenheit, Opposition gegen die kommunistische Obrigkeit und mit dem Ideal der lange verpönten bürgerlichen Lebensformen a la Graf Stauffenberg in Verbindung brachte. Nein, daran konnte kein Zweifel mehr bestehen, die letzten Monate und Jahre hatten es einmal mehr eindrucksvoll belegt: Bot früher, vor der politischen Wende, das in rotes Kunstleder gebundene SED-Parteibuch die Gewähr für Karriere und Aufstieg, so war in der neuen Zeit mit dem protestantischen Glaubensbekenntnis nunmehr dafür eine wichtige Voraussetzung geschaffen. Zumal, wenn man sie mit ein wenig Opfergeruch, ob nun gerechtfertigt oder nicht und einigen Beziehungen zu wichtigen und einflussreichen Personen aus dem Westen der Republik, anreichern und würzen konnte. Eine interessante Mischung, wie er fand und hoffentlich genau die richtige Art von Tinte, um damit den eigenen Namenszug mit fester Hand und auf ewig ins Buch der Geschichte eintragen zu können!

    Mitunter wurde es allerdings schwierig, den Menschen seines Umfeldes begreiflich zu machen, dass Forderungen, die er selbst an sein Umfeld stellte, für ihn nicht gelten durften und dass er selbst, der pausenlos kritisierte und schwadronierte, grundsätzlich außerhalb jeder Art von Kritik stand. Er hatte gelegentlich sogar Angst, die Menschen könnten dies erkennen und ihn, den Angreifer, deswegen in ihrer rigorosen Aufbruchsstimmung selbst angreifen, ihn hinweg fegen, so wie die Französische Revolution einst ihre eigenen Anführer und Köpfe hinweg gefegt und guillotiniert hatte. Aber zu seiner Erleichterung erkannte er auch, dass der deutsche Charakter anders war. Er war eher geneigt, sich der Macht zu beugen und der Charakter des deutschen Volkes zur Macht ließ sich wohl am ehesten mit einem Gleichnis von Konfuzius beschreiben, wonach sich das Gras stets dem über es hinweg fegenden Wind beugte. Und die Staatsmacht war nun einmal der Wind in Deutschland und das Volk war das Gras. Das war vor der politischen Wende so gewesen und es würde zweifellos nach der politischen Wende noch ebenso sein. Von dieser Tatsache konnte man das Volk jedoch ablenken, indem man seinen Zorn bündelte, ihn kanalisierte und lenkte. Man musste ihm nur vermitteln, dass es während der 40 Jahre DDR um sein Recht auf Reisen, auf Wohlstand, auf Bananen und Westgeld betrogen worden war. Und zwar von einigen wenigen alten Männern und jenen Organisationen, die sie lenkten und steuerten. Besonders ließ sich da der Hass auf das Ministerium für Staatssicherheit instrumentalisieren! Wer damit beschäftigt war, Menschen aufzuspüren, die ihn einst bespitzelt hatten, erregte sich möglicherweise weniger darüber, dass er entlassen wurde, weil sein Betrieb gerade abgewickelt worden war. Innenpolitik bestand stets auch in der Kunst, Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen, auf denen man dem Volke Schuldige zum Steinigen präsentieren konnte, damit man ihm unterdessen unbemerkt das Fell über die Ohren ziehen durfte.

    Wer sich schuldig fühlte oder damit rechnen musste, sich möglicherweise schuldig fühlen zu müssen, der muckte nicht auf und dessen Gegenwehr fiel weniger selbstbewusst und offensiv aus, wenn man ihm Hemd und Hose wegnahm! Schließlich durfte sich glücklich schätzen, wer nicht gelyncht, sondern am Leben gelassen wurde!

    Ja, auch dies war ein weites Feld gewesen, ein Thema über welches er erhitzt debattiert hatte! Das bestraft und abgerechnet werden musste, stand außer Frage. Es ging lediglich um die Diskussion, wie weit dabei zugehen zu war und wie konkret vorgegangen werden sollte. Wenn er sich also zum Wortführer jener aufgeheizten Stimmen und Stimmungen aus dem Volke machen würde, die Rache und Bestrafung für tatsächlich oder vorgeblich erlittenes Unrecht forderten, wenn er sich an die Spitze eines noch zu schaffenden Revolutionstribunales stellen und dem Volke dasjenige Blut geben würde, nach dem es gierig forderte, dann würde er selbst zum Danton, zum Martial Joseph Armand Herman, zum Antoine Quentin Fouquier-Tinville der Moderne und damit unsterblich werden!

    III

    In jenen Jahren, als er noch ein einfacher und bedeutungsloser Jugendpfarrer gewesen war, den die Öffentlichkeit noch nicht kannte und beachtete, hatte sich der Minister ohne Geschäftsbereich einen strotzigen und struppigen Vollbart wachsen lassen, so wie einst Karl Marx und Friedrich Engels.

    Er kannte weder die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels, keine einzige Zeile davon, die er beide allein aufgrund der Tatsache verabscheute, weil sie das verhasste kommunistische Regime beständig zu seiner Legitimierung heran zog. Aber wie jene ließ er sein Gesichtshaar üppig wuchern und sprießen, um dadurch wie sie seine Verachtung des herrschenden Establishments zum Ausdruck zu bringen.

    Glatt rasiert war nämlich in jenen Jahren vornehmlich die Staatsmacht gewesen. Glatt rasiert waren Honecker und Mielke und Ihresgleichen. Glatt rasiert waren die Parteifunktionäre und die Bonzen aller Hierarchiestufen, an deren Revers das Bonbon, das Parteiabzeichen, blitzte wie eine Eintrittskarte in die bessere Gesellschaft der DDR. Glatt rasiert waren die Vopos, die Stasis, die Offiziere, die Schließer in den Gefängnissen, die Spitzel und Aufpasser und die FDJ-ler, die die Fahnen und Fackeln zu den Republikgeburtstagen an der hölzernen Tribüne in der Karl-Marx-Allee mit all den winkenden Greisen um den vertrottelten und autoritären Honecker vorbei trugen!

    Glatt rasiert waren die Schuldirektoren und die Generaldirektoren der volkseigenen Kombinate! Glatt rasiert waren die Offiziersschüler. Glatt rasiert und dressiert waren die gegenwärtigen und die künftigen Eliten der sozialistischen Gesellschaft der DDR! Die privilegierten Leistungssportler und die Schriftsteller, die gehätschelten Künstler, die Ideologen und Strategen und die Wirtschaftslenker. Die Jagdgenossen Honeckers, die linientreuen Familien, die nicht auffallen, sondern aufsteigen wollten und die mit dieser Angst, um ihre Pfründe gebracht zu werden, all die tausend Ungerechtigkeiten des Regimes erst ermöglichten.

    Glatt rasiert und sauber, so meinte der Minister ohne Geschäftsbereich, trug das Regime, das sich dreist Arbeiter- und Bauern-Staat nannte, ungeniert seine Bestialität zur Schau!

    Er aber, der sich seinerzeit stets auf das Wort Gottes berufen und seinen persönlichen Trost daraus bezogen hatte, der meinte, für die Bedrängten und Verfolgten da sein zu müssen, wie jeder gute Hirte seit Jesus und Petrus, er trug seinen üppig wuchernden Vollbart vor sich her, wie er selbst noch aus dem Kragen des Talars heraus wuchs, als wäre er ein Angehöriger jener rebellischen und selbstbewussten Bauern, die sich weiland um den unglücklichen Thomas Müntzer geschart und gegen die adelige Obrigkeit aufbegehrt hatten. Wie Moses seinen üppigen Vollbart einst stolz gegen den Pharao gereckt hatte, gestützt auf jenen mystischen Stab, den der Gott der Israeliten mit der Fähigkeit versehen hatte, Zauber zu wirken und Wunder zu vollbringen, so hatte der Minister ohne Geschäftsbereich seinen eigenen wuchernden Vollbart gegen die Vertreter der Staatsmacht der DDR gereckt, gestützt auf seinen Glauben, von dem er meinte, er könne das Wunder vollbringen, auch jene Tyrannei eines Tages zu brechen.

    Verächtlich hatte er einen bestimmten Parteibonzen damals seines Büros verwiesen, der ihn eifernd daran gemahnen wollte, wonach in der Bibel geschrieben stand, dass alle Obrigkeit doch gottgewollt sei.

    Heute hatte sich der Minister ohne Geschäftsbereich jedoch den Gegebenheiten angepasst. Er hatte sich sofort und trotz heftiger Reaktionen seiner irritierten Haut, den Vollbart rigoros abrasiert, sobald er in das gesamtdeutsche Parlament eingezogen war und den muffigen Talar, der immer nach Schweiß und Räucherkerzen und nach Aufrechtsein und Trotz gerochen hatte, gegen einen teuren Anzug eingetauscht, der beim Sitzen im Schritt kniff und nach Wohlstand und Machtfülle duftete. Ein teurer Anzug, in dem er sich anfangs noch ein wenig unbeholfen, zunehmend jedoch immer sicherer, bewegte.

    Und immer wenn er heute vor politischen Freunden davon sprach, dass die neue Obrigkeit doch von Gott gewollt und eingesetzt worden sei, vor Freunden, die ihn erzürnt daran erinnern wollten, für welche Ideale sie im Herbst 1989 doch eigentlich auf die Straße gegangen waren, so sandte er ein Stoßgebet gen Himmel, dass sich niemand an seine Polemik gegen die frühere Obrigkeit erinnern möge!

    Er begriff, dass die Wende tatsächlich etwas mit einem physischen und gedanklichen Umwenden und Umdrehen zu tun hatte und dass auch ein Opfer der DDR-Diktatur wie er, der einstige Jugendpfarrer, nicht umhin kommen würde, sich zu wenden und sich vollständig zu drehen, sofern er in der neuen Zeit politisch und wirtschaftlich noch irgend Bestand haben wollte.

    Und immer dann, wenn ihm noch Zweifel kamen, immer dann, wenn seine Frau ihm leise mahnend zu raunte: „Du musst Dich arrangieren! Nutze doch endlich die Gunst der Stunde! Und mach Dir deswegen keine Gedanken!", dann kamen ihm ganz leise und ganz am Grunde seines Wesens Bedenken deswegen, wie sie gerade im Begriff waren, gegen jene Spitzel und Mitläufer vorzugehen, die sie in ihren Schlupflöchern unnachsichtig aufstöberten, um sie quasi gewaltsam heraus zu zerren und in das Licht des Tages, heraus, in die lodernde Flamme des unaufhörlich befeuerten Volkszornes. Waren nicht auch jene nur Leute wie er gewesen, die sich angepasst hatten, so wie er sich jetzt anpasste? Und war es nicht gerade eine grundlegende Eigenschaft des Menschen, sich anzupassen, sich der Evolution zu beugen, so wie er es jetzt tat?

    Aber diese Gedanken schob er sogleich mit dem inneren Argument zur Seite, dass jene sich mit dem Bösen arrangiert hatten, während er selbst doch im Begriff war, sich mit dem Guten zu arrangieren!

    Aber war eine politische und wirtschaftliche Theorie nur allein deswegen gut, weil sie gerade zufällig siegreich war?

    Und sehr fern wetterleuchtete eine vage Befürchtung durch sein Hirn, er könne möglicherweise eines Tages ebenso für jenes zur Rechenschaft gezogen werden, was er gerade anderen Menschen vorwarf oder antat.

    Aber auch diese vage Befürchtung schob er sogleich beiseite, denn er wusste, dass ein Volkstribun nur dann ein Volkstribun sein konnte, wenn er, selbst das eigene Leben verachtend, vollkommen frei von Angst war und auf diese Weise agieren konnte, wie einst Heinrich Kramer, wie Giulio Antonio Santorio, wie Tomás de Torquemada, wie Danton oder wie Andrei Wyschinksi und Roland Freisler!

    IV

    Die Vorfahren des Ministers ohne Geschäftsbereich stammten samt und sonders aus Ostpreußen, wo die Männer als Handwerker, meist als Dachdecker oder Zimmerleute, ihr Auskommen gefunden hatten.

    Die Tatsache, von Zimmerleuten abzustammen, machte den Minister ohne Geschäftsbereich bereits seit frühester Jugend stolz, stellte dieser Umstand doch bereits eine wichtige Parallele zu einer wesentlichen biblischen Gestalt dar, dem Messias!

    Umso stolzer war er auch ob der Tatsache, dass sein Vater mit Vornamen Jakob hieß und einer von zwölf Brüdern war. Der spätere Minister ohne Geschäftsbereich wurde schließlich zu Beginn der 1940er Jahre, noch in der kleinen ostpreußischen Kirche seiner heimatlichen Gemeinde, auf den Namen Josef getauft.

    Josef, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, wurde zum erklärten Lieblingssohn seines Vaters Jakob. Schon früh inspirierten den Jungen die Wundergeschichten aus der Bibel und er fühlte sich zum Messias und zum Heilsbringer der ganzen Welt berufen.

    Der junge Josef liebte es, sich in Laken zu hüllen, sich mit dem Ruß des Ofens die Konturen eines schwarzen Vollbartes ins Gesicht zu malen, um so stundenlang in der elterlichen Wohnung zu wandeln, wobei er mitunter so stark von seiner eigenen Allmacht und seinem vorgeblichen Sendungsauftrag inspiriert wurde, dass er von seinen Eltern und von seinen vier älteren Brüdern ernsthaft und mit großem Nachdruck verlangte, sie sollten sich aus Ehrfurcht vor ihm auf den Boden werfen. Die finstere und ingrimmige Ernsthaftigkeit, mit der er dieses immer wieder wütend von seinen Brüdern verlangte, führte schließlich dazu, dass die Brüder die biblische Josefsgeschichte ebenso ernst nahmen, indem sie ihren jüngsten Bruder einfach in einen ausgetrockneten Brunnen warfen.

    Als der grollende Donner der Geschütze und Panzer der sich nähernden Roten Armee immer bedrohlicher aus dem Osten über die Felder und Ebenen herüber klang, hatten die Parteigrößen die Evakuierung Ostpreußens zunächst verboten, nachdem der Führer, getreu seinen Erlebnissen aus dem Westen im Ersten Weltkriege, einige der wichtigsten Städte der Provinz zu sogenannten „Festen Plätzen" erklärt hatte.

    Die Furcht vor den Russen, Gerüchte über verübte Gräueltaten der Russen, in Verbindung mit dem allmählichen Zusammenbrechen jeder staatlichen Ordnung in der Provinz, hatten schließlich jedoch buchstäblich in allerletzter Minute in jenem bitterkalten Januar des Jahres 1945 dazu geführt, dass sich auch die Eltern mit ihrem damals knapp fünfjährigen Sohn Josef von Ostpreußen aus auf die Flucht zu ihrer Verwandtschaft im nahezu ausgebombten Berlin begaben.

    Die Gefahr, möglicherweise im Chaos der Reichshauptstadt in die Bombenangriffe zu geraten, wog ihnen angesichts der zahlreichen Gerüchte von Luftschutzbunkern und Flaktürmen in Berlin, weniger schwer als die Möglichkeit, auf heimischem ostpreußischem Boden von den heranrückenden Russen massakriert zu werden, wie die Bewohner jener Grenzdörfer, die von Wehrmacht und SS nach ihrer anfänglichen Einnahme durch die Rote Armee noch einmal zurück erobert werden konnten.

    Da bereits kein einziger Zug mehr nach dem Reichsinneren fuhr, musste die in letzter Minute kopflos organisierte und hastig durchgeführte Flucht der Familie des späteren Ministers ohne Geschäftsbereich unter den nur denkbar schlechtesten Bedingungen erfolgen.

    Es herrschte tiefster Winter und beinahe stündlich drohte die vollständige Abschnürung des Landweges ins Reich durch die Rote Armee, so dass sich ein Großteil der Flüchtenden vollkommen schutzlos den immer heftiger aufflammenden Kampfhandlungen und dem Zorn der unbarmherzig vorstoßenden Russen ausgesetzt sah.

    Immer wieder, während sie irgendwo vor Kälte und Schneetreiben in verlassenen Gutshäusern, Gehöften und Feldscheunen verzweifelt Schutz suchten, jammerte Vater Jakob hilflos davon, er habe irgendwo irgendjemanden sagen hören, dass es in diesem Kriege keine Zivilisten gäbe und die deutsche Zivilbevölkerung, gerade jedoch jene von Ostpreußen, der noch das Stigma der Schlacht von Tannenberg anhaftete, daher durch die Russen nicht geschont würde. Sie müssten daher letztendlich alle hilflos auf der Flucht sterben.

    Josef, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, träumte sich noch immer, selbst unter jenen dramatischen und bedrohlichen Ereignissen des bitterkalten Januar 1945, ins Heilige Land!

    Er sah sich als jenen Josef, der den Mordversuch seiner Brüder in einer Zisterne überlebt hatte und der nun nicht inmitten eines zerlumpten, frierenden und zunehmend verzweifelten Flüchtlingstrecks Entwurzelter und Heimatloser gen Westen zog, sondern er träumte sich in

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