Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Jahre unter ihnen: Roman
Jahre unter ihnen: Roman
Jahre unter ihnen: Roman
eBook107 Seiten1 Stunde

Jahre unter ihnen: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Sein "autobiographischstes Buch" nennt der Autor diesen Roman. Fast nichts stimmt dem Leben nach; aber alles ist gerade so durchlebt.
Als Architekt hat der Bruder ein Leben lang gearbeitet, bevor er "auffällig" wird. Er fälscht Urkunden, überzieht Gerichte mit Klagen, veruntreut Gelder und vertreibt Gerichtsvollzieher mit dem Jagdgewehr. Und weder Banken, Versicherungen, Gläubiger und Behörden noch Richter und Staatsanwälte entnehmen seiner Post die einfache Botschaft, nämlich, daß er längst den Verstand verloren hat. Im Gegenteil, die Regeln, nach denen sie den Fall verwalten, tragen selbst Züge des Wahnsinns. Aus einem halben Dutzend Pappkisten mit Briefschaften rekonstruiert der Erzähler die letzten Lebensjahre des Mannes, der von Kindheit an ein glühender Verehrer Friedrichs des Großen von Preußen gewesen ist und bis zuletzt hofft, etwas Rettendes wie das "Mirakel des Hauses Brandenburg" von 1763 könne auch ihm widerfahren. Der Bruder stirbt an Alzheimer. Seine letzten Klagen gelten dem Staat, dem "kommunistischen" Pfleger, der Forstwirtschaft. In einem fremden Land lebt der Erzähler weiter. Hier ist Arbeit "Mangelware", und in hohem Ansehen steht, wer sie "schafft". Eine Architektin entscheidet sich für ein besseres Leben: als Taxifahrerin. Eine Liebe geht zu Ende und läßt den Erzähler verwüstet zurück. In einem Dorf im Süden freundet er sich mit einer geisteskranken Frau an. Es ist Sommer und Nacht, als auch er das Pferd umarmt. In der einen Welt kommt nur, wer Geld hat, überall hin, aber nicht mehr raus.
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum26. Nov. 2012
ISBN9783835323827
Jahre unter ihnen: Roman

Mehr von Hermann Peter Piwitt lesen

Ähnlich wie Jahre unter ihnen

Ähnliche E-Books

Biografien – Literatur für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Jahre unter ihnen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Jahre unter ihnen - Hermann Peter Piwitt

    1.

    KUNERSDORF

    Der Rest vom Mond herunter. Sagen wir: Schrödingers Rinne. Oder Rille. Da ist noch keiner von ihnen. Da kommt so schnell auch keiner hin. Da hätten sie auch noch ein Stück zu laufen vom mare cognitum; mit ihren Rückstartgestellen und Flaggen, den Familienfotos und den in den Staub geritzten Initialen.

    So ist man unter sich. Die bestürzende, fast mit Händen zu greifende absolute Schwärze des Taghimmels, der Luft, die plötzlich gleißende Helligkeit einer unerbittlichen Sonne, das Gefühl, in die Kindheit zurückversetzt zu sein beim Springen, beim Schweben, beim Weichfallen unter den Bedingungen verminderter Schwerkraft: Alles ist abgelegt unter die Bestände alltäglichen Verstehens und Hantierens. Intakt sind die Versorgungssysteme. Zu hören im Druckanzug das Zischen des Sauerstoffs und das unablässige Surren des zirkulierenden Kühlwassers. Nur die Stimmen der Bodenkontrolle sind verstummt. Die Funkverbindungen erloschen. So weit, so gut. Feiner grauer Staub, Steine, Krater. Ein Schlachtfeld. Auch das ist wie immer. In diesem Moment, da, von Rauchschwaden fast ganz verdeckt, am Horizont der Planet aufgeht. Zu erkennen von hier aus nur die südliche Polkappe mit den hineinragenden Kaps der beiden Kontinente, im Norden. Versteht sich.

    Wenden wir uns ab. Alles ist gesagt. Getan. Es ist alles aufgegeben. Das ist nichts Neues. Das ist erledigt. Das war von Anfang an erledigt. Nie haben wir etwas anderes erwartet, als die Städte brannten. Nie etwas anderes, als daß sie wieder brennen würden. Wir klopften den Mörtel von den Ziegeln. Wir trugen sie zu den Sammelstellen und nahmen das Metall dafür entgegen. Das Metall, erinnert euch! und wie es sich anfühlte. Das Papier. Sein Glanz, seine Glätte, seine Festigkeit, die Farben, die Bilder drauf. Sein verheißungsvoller Duft. Das Geräusch, das es zwischen den Fingern machte. Ein Pergament, eine Urkunde jeder Schein. Und Kartoffeln gleich kiloweise, hatte man nur davon! Brot, Tabak, nahezu alles ließ sich dagegen eintauschen. Verstehe, wer will.

    Beim Metzger in der Frühe der Herr Schreie. Oder Schreit. Ein Bein war ihm zu kurz. Und mit jedem Schritt tauchte sein Kopf hinter seinen frischen Auslagen auf und wieder ab. Darauf, daß ihm der hohe orthopädische Stiefel am Fuß von Geburt an gewachsen war, bestand der Vater. An seinem Kittel herum knöpfte Schreit, als fröre ihn. Er trennte das verlangte Viertel vom Gehackten und wog es mit seinen Gewichten aus. Er rollte die Ware mit der Linken in ein Stück Butterbrotpapier. Aus Daumen und Zeigefinger der Rechten formte er einen Kreis: Nicht wahr? Die Kälte in der Frühe! Das Säckl: Ganz klein! Er lachte.

    Der Vater ließ sich herausgeben. Das wollen wir denn aber doch überhört haben! rief er, schon in der Tür. Er drohte mit dem Finger. Er wollte witzig sein. Wir waren zu dritt. Er, der Bruder und ich. Dieser Schreie. Oder Schreit, sagte er. Wo er doch seinerzeit schon eine Kriegsverletzung fälschlich geltend gemacht hat. Schwamm drüber.

    Draußen am Himmel jagten Wolken dahin, verdunkelten sich, türmten sich auf und gaben die Sonne wieder frei. Wind stand auf den Pfützen, schob die Baumkronen zusammen, strich ihre Flanken glatt. Am Tag zuvor hatten die Eltern uns das neue Geld gezeigt. Den Zweier, den Fünfer, den Zwanziger-Schein. Wir durften sie anfassen. Daran riechen. Die gutgenährten und trainierten Frauen und Männer, die darauf abgebildet waren, in leichten antiken Gewändern zwischen Globen, Schriftrollen, Zirkeln und Ährenbündeln, mit Lorbeerkränzen in den Händen oder über Schrifttafeln gebeugt: Ich kannte sie aus Schwabs »Sagen des klassischen Altertums«, aus den Geschichtsbüchern der Brüder. Jetzt in unvertrauten, lichten Farben, lila auf orange, blau auf grün, braun/violett, auf großen, heiteren Lappen kehrten sie uns aus der Neuen Welt zurück.

    Es war Juni und kühl. Der Bruder meinte, es röche nach Schnee. Du meinst, Dir ist, als röche es danach, sagte er Vater.

    Es ist jetzt viele Jahre her, daß in einer psychiatrischen Anstalt mit noch nicht sechzig Jahren der Bruder starb. Viele Jahre lang hielt er sich dort auf. Anfangs in einer geschlossenen Abteilung. Dann, als man glaubt, sein unbändiger Wille, wieder freizukommen, habe sich verbraucht, läßt man ihn einem Gärtner zur Hand gehen; und zur Zufriedenheit der Aufsichtskräfte pflanzt er Blumen und Sträucher, so wie wir es als Kinder taten in dem großen verwilderten Garten vor der Stadt. Schon vorher hat er sich im Haus nützlich gemacht. Hat Topfpflanzen begossen und bei Müll und Geschirr mitangefaßt. Daß er um so eher entlassen würde, je anstelliger er sich zeige, hat ihn der beauftragte Pfleger ermahnt; daß es gelte, durch Folgsamkeit das Vertrauen der behandelnden Ärzte zu gewinnen. Als ich ihn ein letztes Mal lebend sehe, erkennen wir einander nicht mehr. Er liegt regungslos im Bett und sieht aus fast zugewachsenen, glasigen Augen an mir vorbei wie aus einem von Möbeln und Kleidern, Gardinen und Geschirr leergeräumten Haus. Sie führten mich aus dem Zimmer. Seinerzeit, als man ihn, an einem strahlend blauen Wintermorgen, aus dem von ihm angemieteten Haus holte, hatte er noch die Kraft gehabt, die Kellertür mit einem mannshohen Panzerschrank zu blockieren. Als sich das Räumkommando endlich doch Einlaß verschafft hat in die völlig verwahrloste Wohnung, ziehen sie ihn im Obergeschoß unterm Bett vor. Vom Nachtschränkchen nahm ich ein paar Bücher an mich. Sie handelten von dem preußischen König, der wie durch ein Wunder, durch den Tod seiner russischen Erzfeindin, eine schon verlorene Sache zu seinen Gunsten hatte wenden können. In die Seiten, die sich damit befaßten, waren Lesezeichen eingelegt.

    Dynast. Im fünfzigsten Jahr ist der Dynast, als er die dezimierte Armee ein letztes Mal ins Gemetzel schickt. Er gesteht Vertrauten Gründe dafür ein, weshalb er den Kontinent in Krieg gestürzt hat: Dünkel, Ruhmsucht, die Genugtuung, seinen Namen in den Zeitungen und dereinst im Buch der Geschichte zu lesen. Er feixt auf der Höhe des Kriegsglücks, daß er Europa mit dem epidemischen Kriegsbazillus infiziert habe wie eine Kokotte ihre Galane mit gewissen schmerzhaften Beweisen ihrer Gunst. Er ruft den philosophierenden Brieffreund aus Paris zur Ordnung, den der Ehrgeiz, wie Seneca einen jungen Fürsten zu führen, ebenso treibt wie die Furcht, wie der Römer zu enden. Werden Sie denn niemals aufhören, Sie und ihre Amtsbrüder, die Erde zu verwüsten? hat dem Jüngeren der Alte zu schreiben gewagt. Werden Sie endlich Philosoph! bekommt er zur Antwort; räsonieren sie nicht. Daß es für Schöngeister erlaubte Freiheiten und unerlaubte Unverschämtheiten gebe, warnt der Dynast. Jetzt greint er. Was für klägliche Narren sie gewesen seien. »Für den Augenblick des Lebens mit Behagen zerstört die Meisterwerke des Gewerbefleißes. Und hinterlassen nur ein verhaßtes Andenken an unsere Verwüstungen und alles daraus entstehende Unheil.«

    Der Dynast ist von Vaters wegen ein verschlagener Mensch. Ist er das? Oder denkt er nur zuviel? Laut? Über seine Kräfte hinaus? Der Dynast hat heucheln müssen von Kind an, um sich vor Schaden zu schützen. Herangewachsen, heuchelt er, um ihn zuzufügen. Don’t think twice, schreibt ihm aus London ein Rhys, Earl of Gower. Denken Sie, was Sie wollen. Nur nicht laut. Wenn Sie aber handeln, sorgen Sie dafür, daß die Schweinerei gelingt. Und sie wird für rechtens gelten.

    Im fünfzigsten Jahr fehlt dem Dynasten die Hälfte aller Zähne. Aber über Zahnschmerzen oder Läuse nie das Zeichen einer Klage. Im Geschmack der Zeit interessiert ihn sein Körper: Koliken, Aderlässe, Klistiere, der Morgenschweiß. Er ist nicht großgewachsen. Groß sind seine Augen und stehen vor, wie nach vorn geschraubt der Kontrolle wegen, daß ihm nichts entgeht. Rotbraungebrannt ist ihm (Landmannshaut) das Gesicht wie das seiner Soldaten. Im gewöhnlichen Rock seines Garderegiments zu Fuß, nur kenntlich am achteckigen Stern auf der Brust, teilt er mit ihnen die Strapazen der Kriegszüge. Das Strohlager, Nässe, Kälte und schlaflose Nächte; und reitet mit ihnen mehr als einmal mitten ins Feuer. Daß er zerrissene Glieder, Wundfieber, Typhus und von Blut und Schmutz starrende Verbände nicht mit ihnen teilt, trägt seiner Legende nichts ab. Lieber mehr Tote, als die Zahl der Invaliden im Staat durch Amputationen zu vermehren, lautet eine Geheimorder. Weil er mit den schlimmsten Übeln, mit Kirche und Religion, die Geduld verliert, heißt man ihn tolerant. Ihm genügt Gott. Und daß man ihm pariere.

    Daß er Frauen nicht liebt, schreibt das Volk ihm als Sparsamkeit zu. Daß er tagaus tagein im

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1