Mein Kind ist wichtiger als die Liebe: Sophienlust Extra 50 – Familienroman
Von Gert Rothberg
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Über dieses E-Book
In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg.
Henrik rieb sich verschlafen die Augen. Er hätte sich gern noch einmal auf die andere Seite gedreht und weitergeschlafen. Aber draußen war es bereits hell. Gleich würde Mutti hereinkommen und ihm erklären, dass es höchste Zeit sei, endlich aufzustehen und zu frühstücken. Seine Lehrerin wollte schließlich pünktlich mit dem Unterricht anfangen und nicht auf den Nachzügler warten. Aber der Junge hatte gar keine Lust, aufzustehen und in die Schule zu gehen. Er richtete sich ein wenig auf und blickte zum Fenster hinaus. Draußen ging ein kalter heftiger Schneeregen nieder. Wie richtige Sturzbäche rann das Wasser an den Fensterscheiben herunter. Fröstelnd kroch Henrik unter die Decke zurück. Auf seinem Nachttisch lag ein Buch mit wunderschönen Tieraufnahmen. Andrea hatte es ihm am Tag zuvor geliehen. Selig war er damit losgezogen. Tiere liebte er sehr. Dass seine Schwester einen Tierarzt geheiratet hatte und ein eigenes Tierheim besaß, das fand er einfach Klasse. Niemand in seiner Klasse hatte eine solche Schwester wie er. Henrik hätte gern in dem Buch auf seinem Nachttisch geblättert, aber er wusste, seine Mutti konnte jeden Augenblick hereinkommen. Da hörte er auch schon ihre raschen Schritte draußen auf dem Flur. Nun machten sie vor seiner Zimmertür halt. Vorsichtig wurde die Klinke heruntergedrückt.
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Buchvorschau
Mein Kind ist wichtiger als die Liebe - Gert Rothberg
Sophienlust Extra
– 50 –
Mein Kind ist wichtiger als die Liebe
Tinis Mutter braucht lange, um dies zu erkennen!
Gert Rothberg
Henrik rieb sich verschlafen die Augen. Er hätte sich gern noch einmal auf die andere Seite gedreht und weitergeschlafen. Aber draußen war es bereits hell. Gleich würde Mutti hereinkommen und ihm erklären, dass es höchste Zeit sei, endlich aufzustehen und zu frühstücken. Seine Lehrerin wollte schließlich pünktlich mit dem Unterricht anfangen und nicht auf den Nachzügler warten.
Aber der Junge hatte gar keine Lust, aufzustehen und in die Schule zu gehen. Er richtete sich ein wenig auf und blickte zum Fenster hinaus. Draußen ging ein kalter heftiger Schneeregen nieder. Wie richtige Sturzbäche rann das Wasser an den Fensterscheiben herunter. Dabei war schon Mitte April …
Fröstelnd kroch Henrik unter die Decke zurück. Auf seinem Nachttisch lag ein Buch mit wunderschönen Tieraufnahmen. Andrea hatte es ihm am Tag zuvor geliehen. Selig war er damit losgezogen. Tiere liebte er sehr. Dass seine Schwester einen Tierarzt geheiratet hatte und ein eigenes Tierheim besaß, das fand er einfach Klasse. Niemand in seiner Klasse hatte eine solche Schwester wie er.
Henrik hätte gern in dem Buch auf seinem Nachttisch geblättert, aber er wusste, seine Mutti konnte jeden Augenblick hereinkommen. Da hörte er auch schon ihre raschen Schritte draußen auf dem Flur. Nun machten sie vor seiner Zimmertür halt. Vorsichtig wurde die Klinke heruntergedrückt.
Rasch kniff Henrik die Augen zu und hoffte, einen recht natürlichen Schläfer abzugeben.
»Henrik!«, rief Denise von Schoenecker leise. »Henrik, es ist Zeit zum Aufstehen! Das Frühstück wartet schon.«
Der Junge tat, als erwache er gerade eben aus tiefstem Schlummer. Um diesen Eindruck noch zu unterstreichen, gähnte er fürchterlich. Dabei riss er seinen Mund so weit auf, dass ihm die Kinnladen wehtaten und er einen Schreck bekam. Ob er sich die Kinnladen ausgerenkt hatte? Doch als er gleich darauf zum Sprechen ansetzte, bemerkte er, dass noch alles funktionierte. »Ist Nick schon aufgestanden?«, erkundigte er sich und blickte seine Mutti treuherzig an.
Denise lächelte.
»Das hoffe ich«, antwortete sie.
»Genau kann ich es dir allerdings nicht sagen, mein Liebling. Nick hat heute doch in Sophienlust übernachtet. Erinnerst du dich nicht mehr?«
Henrik nickte. Da kam ihm eine prima Idee. Er blickte zum Fenster hinaus und behauptete: »Mutti, du wolltest mich doch heute selbst zur Schule fahren. Aber du könntest dir die Fahrt ersparen und mich einfach einen Tag hier in Schoeneich lassen. Die Lehrerin ist bestimmt nicht böse darüber, und du musst bei dem scheußlichen Wetter nicht raus. Mir würde es gar nichts ausmachen, einen ganzen Tag allein hier zu bleiben.« Hoffnungsvoll schaute er seine Mutter an.
Denise musste lachen. »So einfach geht das nicht, Henrik. Du weißt doch, jedes Kind muss in die Schule. Nur dann nicht, wenn es krank ist.«
Henrik starrte nachdenklich vor sich hin. Dann verkündete er mit Grabesstimme: »Mutti, ich glaube, ich habe mich erkältet. Na ja, bei dem scheußlichen Wetter draußen …« Anklagend deutete er zum Fenster.
Denise erschrak. »Tut es dir irgendwo weh, mein Liebling? Hast du Kopfschmerzen? Oder Halsschmerzen?«
Vorsichtshalber erklärte Henrik: »Mir tut einfach alles weh, Mutti. Aber am schlimmsten der Bauch.«
Blinddarm, fuhr es Denise durch den Kopf. Dann legte sie die flache Hand auf die Stirn ihres Jüngsten. Die Stirn fühlte sich kühl an. Aber das wollte nicht viel heißen.
»Ich hole gleich mal ein Thermometer«, sagte sie und verließ rasch das Zimmer ihres Sohnes.
Henrik überlegte krampfhaft. Nick und ein paar der größeren Kinder von Sophienlust hatten sich einmal darüber unterhalten, was man anstellen müsse, um die Quecksilbersäule auf dem Thermometer in die Höhe schnellen zu lassen. Aber es wollte Henrik einfach nicht mehr einfallen, was sie gesagt hatten. Schrecklich, dass er damals nicht aufgepasst hatte!
Denise erschien mit dem gläsernen Instrument und klemmte es Henrik unter den Arm. Dann setzte sie sich auf den Rand seines Bettes und wartete, was das Thermometer anzeigen würde.
Jetzt wurde es Henrik tatsächlich heiß unter der Bettdecke. Gleich würde Mutti wissen, dass er sie nur angeschwindelt hatte. Und plötzlich begann er sich zu schämen. Mutti belog Nick und ihn nie. Was würde sie jetzt bloß von ihm denken? Würde sie ihn vielleicht nicht mehr so liebhaben wie früher? Ein schrecklicher Gedanke!
»Du, Mutti«, begann Henrik vorsichtig.
»Ja, mein Liebling?«
»Eigentlich … Also, eigentlich tut mein Bauch kaum noch weh. Wirklich nicht.«
Erwartungsvoll schaute er zu seiner Mutti auf. »Es war bestimmt nichts Schlimmes. Wo es doch so schnell wieder vergangen ist.«
Denise holte das Thermometer unter dem Arm ihres Jüngsten hervor und warf einen kurzen Blick darauf. Sie unterdrückte ein leises Schmunzeln. »Ich glaube, diesmal kommst du noch einmal mit dem Leben davon, Liebling. Jetzt aber raus aus dem Bett! Wir werden ganz schön flitzen müssen, wenn wir noch rechtzeitig in die Schule kommen wollen.«
Henrik schob traurig eine Zehenspitze aus dem Bett. »Es ist kalt. Ich werde bestimmt einen Schnupfen kriegen«, behauptete er. Doch da hatte seine Mutti das Zimmer bereits wieder verlassen.
Henrik hatte gerade seine sparsame Toilette beendet – einmal mit dem angefeuchteten Waschlappen über das Gesicht gefahren, die blonden Haare mit den gespreizten zehn Fingern gekämmt – da wurde erneut die Tür seines Schlafzimmers geöffnet. Diesmal stand sein Vater auf der Schwelle.
Henrik erschrak. Ob Mutti gepetzt hatte? Ob Vati nun gekommen war, um ihm eine Standpauke zu halten? Aber eigentlich sah er ganz freundlich aus. Nein, geradezu lustig, fand Henrik. Die Lachfältchen um seine Augen waren zusammengezogen. Auch um seine Mundwinkel zuckte es.
Alexander von Schoenecker legte den Arm um die Schulter seines Sohnes. »Na, nun rück schon damit heraus«, sagte er grinsend. »Was hast du in der Schule ausgefressen? Eine Fensterscheibe eingeworfen, oder was sonst? Du brauchst keine Angst zu haben, ich schimpfe bestimmt nicht sehr. Schließlich war ich einmal genauso alt wie du – und wahrhaftig kein Engel.«
Zuerst hatte Henrik seinen Vati verständnislos angeschaut. Nun grinste er ebenfalls. »Ausgefressen hab ich gar nichts, Vati«, gestand er. »Es war bloß so schön warm im Bett. Und draußen schneit und regnet es durcheinander. Außerdem hab ich so’n interessantes Buch von Andrea gekriegt. Da hab ich gedacht, wenn ich noch ’n bisschen im Bett bleiben und das Buch betrachten könnte …«
Henrik schaute zu seinem Vater auf. »Schlimm, Vati?«
Alexander musste sich wieder das Schmunzeln verbeißen. »Sagen wir mal so: Wenn du nie im Leben etwas Schlimmeres anstellst als das, dann wollen wir die ganze Geschichte vergessen. Aber nun nichts als runter und gefrühstückt.«
*
Als in der Schule die Pause kam, regnete und schneite es noch immer. Außerdem pfiff ein scharfer Wind. Darum hatte man den Kindern erlaubt, ihr Frühstücksbrot in den Klassenräumen zu verspeisen.
Henrik hatte das Brot und den Apfel ausgepackt, den seine Mutti ihm mitgegeben hatte. Er stellte sich damit ans Fenster und blickte hinab in den Schulhof, der an diesem Tag wie ausgestorben dalag. Ein sehr ungewohntes Bild, fand der Junge. Aber da entdeckte er plötzlich das Mädchen im hintersten Winkel des Schulhofs.
Nein, zuerst entdeckte Henrik nur einen roten Fleck. Er kniff die Augen ein wenig zusammen, um besser sehen zu können, und stellte fest, es war ein Kind in einem hellroten Pullover und schwarzen Hosen. Es hatte lange blonde Haare, die an beiden Seiten mit roten Schleifen zusammengebunden waren. Ein Mädchen also, schloss Henrik messerscharf.
Das Kind stand mitten im Schneeregen, hatte den Kopf an einen Baumstamm gelehnt und bewegte ruckartig die Schultern. Es weint, dachte Henrik erschrocken. Außerdem wird es bald nass sein bis auf die Haut, wenn es in diesem Hundewetter stehen bleibt. Und dann kriegt es einen Schnupfen.
Henrik hatte in Sophienlust schon viele traurige Kinderschicksale miterlebt. Deshalb zog sich sein kleines Herz nun voller Mitleid zusammen. Ich muss ihr helfen, dachte er aufgeregt. Ich muss runtergehen und sie fragen, was ihr fehlt.
Henrik warf seinen angebissenen Apfel und das Brot auf seinen Tisch, schlüpfte in die Windbluse und sauste hinunter in den Schulhof, bevor die Lehrerin ihn zurückhalten konnte. Langsam näherte er sich dem weinenden Mädchen. Er sah, dass dessen schmaler Körper geradezu von Schluchzen geschüttelt wurde.
Henrik blieb stehen und überlegte. Was sollte er bloß zu der Kleinen sagen? Sie sollte nicht denken, dass er neugierig sei. Er wollte ihr wirklich bloß helfen. Schade, dass seine Mutti nicht in der Nähe war. Sie fand in solchen Situationen immer den richtigen Ton.
»Hm!« Henrik räusperte sich. Dann blieb er abwartend stehen.
Aber das Mädchen schien ihn gar nicht gehört zu haben. Es weinte weiter. Das klang so trostlos, dass der weichherzige Henrik am liebsten mitgeweint hätte.
Nun machte er einen Schritt vorwärts und legte vorsichtig die Hand auf die Schulter des Mädchens, dessen Pullover – genau wie er vermutet hatte – patschnass war.
Das Kind fuhr herum und funkelte ihn wütend an. »Was willst du?«, rief es. »Lass mich allein!« Dann presste es beide Hände vor das Gesicht und weinte weiter.
Henrik trat ratlos von einem Fuß auf den anderen. »Nichts will ich von dir«, entschuldigte er sich. »Das heißt, ich wollte dich fragen, ob ich dir nicht helfen kann. Außerdem kriegst du einen Schnupfen, wenn du hier draußen stehen bleibst.«
»Das ist mir egal«, entgegnete das Mädchen schluchzend. »Vielleicht komm ich dann auch in ein Krankenhaus. Das wär mir bloß recht.«
»Was, du willst in ein Krankenhaus?«, rief Henrik entsetzt. »Dorthin geht doch keiner freiwillig. Da