Friederike Kerner und ihr Justinus
Von Utta Keppler
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Buchvorschau
Friederike Kerner und ihr Justinus - Utta Keppler
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Da wandert einer nach Tübingen, um zu studieren, und weiß noch nicht einmal, was. Wie eine gespannte Saite wartet er, halbbewußt und schüchtern und ängstlich zurückweichend vor einer eigenen Entscheidung, auf ein Zeichen.
Er glaubt an Zeichen, er meint, in irgendeiner heiligen Wolke oder unheiligen Zufälligkeit zu spüren, daß sie für ihn und gerade nur für ihn arrangiert worden seien, und ihn „führen" würden … und er will dieser Anleitung folgen. Er will? Eigentlich ist es ein Traumwandeln, kein Entschluß, kein Wollen.
So trödelt er hin und gelangt an ein altes breitgelagertes Fachwerkhaus vor der Stadt, schaut es an, spürt den Wind, der jetzt schon kühl wird – es ist Abend – und meint, ihn fragen zu sollen.
Und also kommt ihm zu Hilfe, was er erwartet, er deutet als Antwort, was ein anderer ärgerlich als Unordnung und Schlamperei, als Störung oder gar nicht beachten würde:
Vor ihm kreiselt aus der Haushöhe, von einem Fenstersims, aus der Öffnung in eine dunkle Stubentiefe das weißliche Papier herunter, tanzt ein paarmal vor ihm auf und ab und verwirbelt zwischen der Hauswand und dem Baumstamm daneben.
Er hebt es auf, natürlich. Er hat ein Zeichen erwartet und liest, was da steht, Hieroglyphen, kaum zu entziffern, chemisches Gekritzel, ein Rezept.
Als gewissenhafter Bürgersohn läutet er am Eingang – es ist ein Spital, ein Alten- und Ausdinghaus – und liefert das Gefundene ab. Dann läuft er getrieben der Stadt zu, er nimmt das Zeichen ganz ernst, er wird sich dort hinter den Toren melden, er will also Medizin studieren.
Das war Justinus Kerner, der nachher eher ein Mystiker und Magier, ein Seelenforscher und Gemütsarzt wurde, als ein empirisch gerichteter Doktor …
Tübingen – Tübingen! Das ist, seit er denken kann, ein geistiger Mittelpunkt, altes blühendes, sprühendes Zentrum der Ideen, Sammelpunkt der Denker, Heimstatt der Dichter – so sieht er’s und meint, mit dem Antritt des Studiums aller Weisheiten Born und aller Kernfragen Lösung entdeckt zu haben.
Sein Herkommen hat ihm die Ehrfurcht vor dem Wissen mitgegeben, die geistige Neugier, die das Ergründen und Begründen sucht, und doch auch dahinter und darüberhinaus das Tasten und Ahnen, den Wunsch, das „Unerforschliche ruhig zu verehren", wie es ihm der allverehrte Goethe angesagt hat.
Freilich hat der vorausgeschickt, als Bedingung und Vorspruch, es müsse „das Erforschliche erforscht" worden sein … und das, meint er, werde ihm doch auch gelingen.
Nur ist ihm, seinem Wesen nach, das ganz nüchterne, empirische „Erforschen" von jeher ein bißchen zuwider; ein wundergläubiges Staunen ist ihm gemäß: Schwingung der Baumäste, verschränkte, knorrig-zackige Sprossen vor dem violetten, rotgetönten Abendhimmel, Triller des Vogels im Geäst, Melodie und doch keine, und Geruch der aufgebrochenen Erde um den Quell – das sind alles Bilder, Klänge, für ihn gemeint und ihm zugesprochen; Weisungen endlich, keine Zwänge, aber lenkende leichte Bänder, deren Führung er sich gern überläßt.
Die Gassen sind holperig, die Häuser geneigte Steingesichter, und hie und da eine bröckelige Mauer. Eng ist mancherlei da drinnen, aber für ihn doch voller Gewisper und Geflüster, und wenn er – immer wieder – am Neckar steht, rührt ihn der ziehende Fluß an, als sei er verwandt und verschwistert, denn jetzt, wo er dazugehört, ist es doch ganz anders als bei den Besuchen früher.
Drüber das Schloß – dicke Türme, herrlich gemeißelte Tore, und überall die Bäume dabei, alte gebogene und frischere grüne, und ein wuselndes Leben mit vielerlei wimmelnden Gestalten, würdigen, steifen, hochgemuten und selbstgewissen, und anderen jungen, unruhig strömenden und strebenden, die sich erst selber finden möchten …
Er steht jetzt allein am Fluß, hinter der niedrigen Mauer und schaut; eigentlich wartet er, wie er immer horcht und wartet.
Er sinniert und weiß gleich, daß er von irgendeinem hören will, wer er selber eigentlich sei …
Das tun sie alle, sich suchen. Aber er hat es da vielleicht leichter als viele, weil er das gerundete, gegründete gute Elternhaus in Ludwigsburg hinter sich weiß, in dem er als vierter Sohn des Oberamtmanns und Regierungsrats Kerner nach der Mitte des September und gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts geboren worden ist.
Es sei ein klarer Tag gewesen, ein bißchen Morgennebel habe der Mutter, die in den Wehen lag, Bedrückungen auf der Brust gemacht, die aber danach, als das krebsrote Würmchen aus ihr ans Licht getreten, ganz leicht gewichen seien.
Man hat im Haus davon nicht weiter geredet, das gehörte sich nicht, aber die Hebamme hat es erzählt, als ihn die ältere Schwester einmal auf dem Arm gehalten, und die hat es als bedeutsam aufgenommen und ihm später weitergegeben.
Nur der Vater wäre weiter bedrückt gewesen, nicht wegen des Nebels, und noch weniger wegen seiner Geburt, obwohl er sehr sorgenvoll vor der Tür auf- und abgegangen sei.
Ihn preßte der Zweifel darüber, welchen Namen, den es als Signum und Wegzeichen zu tragen habe, er diesem vierten Kind auf den Weg geben solle? Da sei der Vater in den Bildersaal gegangen und habe den Namen des Ahnen gewählt, der ihm zuerst von seinem Porträt herunter in die Augen sähe; das war aber ein Herr Spezialsuperintendent Andreas Justinus Kerner, der um 1590 in Güglingen gewirkt hatte, der kleinen Stadt im Württembergischen, in der einmal nicht ganz dreißig Jahre danach die Mutter des großen Astronomen Johannes Kepler ihren Hexenprozeß gerade nur überstanden hatte – „und wenn ihr mir jede Ader aus dem Leibe ziehet, ich habe nichts zu bekennen", habe die gesagt.
Justinus, der Nachfahr und Student, kannte ein paar Züge dieser Geschichte, aber die starre, zielklare Antwort wäre ihm für sich selber nicht eingefallen. Er hätte eher auf ein flatterndes Papierchen gesehen und sich nach dem gerichtet – sei’s drum: Er war ein Dichter.
Da ist also etwas, das ihn mitgebildet hat oder haben könnte: Ein theologischer Anhauch und Zug zu Dogma, Würde und auch zur Transzendenz. Er spürt es genau.
Aber jetzt ist er mitten im Strudel, wenn er aus dem stillen Hinschauen auf den ziehenden Nachtfluß sich losmacht, und da schlendern und trappeln sie schon vorbei, ein Trupp Studenten in hohen Stiefeln, mit kleinem Cerevis, in hellen engen Hosen – sie stehen gedrängt unter der einzigen Laterne an der Brückenecke, gestikulieren und schwatzen, und gelegentlich schreit einer, irgendein Schimpf- oder Jubelwort; und er sieht eine lange Pfeife übers Geländer hängen, der weiße Porzellankopf ragt schon weit in die Tiefe, hebt sich zuckend und zuckelnd und lichtgestreift gegen den schwarzen Fluß da unten ab, der wie eine zähe Pechstraße aussieht in der Nacht, und dabei doch ganz unsichtbar lebendig ist, hinschwillt, murrt und murmelt und viel mehr weiß, als er sehen läßt.
Die wandernden und schwatzenden, die schwärmenden und streitenden Burschen sind jetzt ganz nah, sie umringen ihn und einer sagt laut: „Du, Neuer, bisch scho a Fux oder no net?"
Justinus schüttelt den Kopf und sie drücken ihn fragend und schreiend gegen das Geländer.
„I werd’s scho werde, wartet no …", sagt er ärgerlich und will sich nicht hetzen lassen, der langsame Fluß ist ihm nah und tröstlich in dem Gezeter.
„Lasset mi no …", sagt er noch, windet sich aus dem Gewühl und dreht gegen das Uhlandhaus zu, wo der alte Arzt wohnt, den er kennt – und wieder meint er es winken und deuten zu sehen –, der damals das Rezept unterschrieben hatte, das ihm ein Orakel schien.
Er ist dann fast unbemerkt vollends aus dem Studentenhaufen weggeschlichen und hat sich, weiter drüben, die Treppchen zum Neckar hinuntergedrückt, wo das Mauerwerk im rechten Winkel von der Brücke am Fluß entlanglief. Es war dunkel genug, daß er ungesehen dahinunter gelangte, hinter sich kleine Gärten und eng an die Hausmauern gefügte rankende Hecken.
Er sieht unter sich im Fluß eine Bewegung, einen Nachen, und diesmal ist der Ruderer ganz still, singt und ruft nicht und bewegt seinen schmalen schwarzen Fisch fast lautlos mit ein paar Ruderschlägen voran. Ein einsamer Mensch, ein trauriger vielleicht? Manchmal verschwindet das dunkle Gefährt unter den überhängenden Weidenzweigen, es zieht weiter, wird kleiner, fast unsichtbar, weiter hinunter, hinüber …
Kerner denkt: Übergänge, ohne genaue Grenzen. Und ich studiere Medizin, die nüchterne Erfahrungswissenschaft. Anderntags, so nimmt er sich vor, werde ich den Doktor Uhland besuchen, vielleicht ist er am Abend zu Haus von seinen Patientengängen, und ihm meine Führung und Berufung erzählen und hören, ob er die für maßgeblich hält. Sein Neffe, überlegt er, soll doch auch hier studieren, Jura, hieß es, und den sollte ich auch aufsuchen, der hält sich nicht beim lauten Haufen, vielleicht ist er auch so ein Stiller, man sagt, er dichte …
In einem blitzartigen Einfall meint er, der Ruderer unter ihm könnte der junge Uhland sein, und vielleicht ist er es auch – er will ihn demnächst fragen.
Kerner studierte also Medizin, betrachtete und zeichnete das Knochengerüst, Rippenbogenbrustkorb und Augenlochschädel, und steckendürre Gelenke und beinerne Beckenschale – und während der Professor doziert und die aufgehängte Klapperfigur dabei bewegt, fällt ihm ein, was er als junger Bursche schauerlich dröhnen hörte, aus dem Tollhaus neben der Tuchfabrik, und gebunden und gebannt hat immer wieder hören müssen: „Totenköpf und Krautsalat" – das krächzende Geschrei eines Tobsüchtigen, den sie angefesselt hatten … Er sieht auf einmal, als wäre es wirklich, das Gesicht des Schädels sich füllen und runden und meint, der Kopf, ein lebendiger, rucke und zucke. Solche Bilder schafft er sich oft, oder vielmehr seine Phantasie schafft sie ihm, und die schweren, bösen Erinnerungen aus der Jugendzeit.
Seine schmalen Augen, die schon bei dem jungen Mann geschwollene Augensäcke haben, sehen ein bißchen traumverloren vor sich hin, und der Dozent mahnt – mit einem Seitenblick – zur allgemeinen Aufmerksamkeit. Kerners ganzer Habitus scheint ihm zu weich, fast schwammig-wässerig – er meint, etwas Straffes und Konzentriertes in dem Studenten aufrufen zu müssen, Disziplin, Einschränkung, Sammlung … aber er sagt nichts. Er weiß auch nicht, was für Nachtgesichte den Burschen bedrängen, unauslöschbare Bilder: Der Vater ist tot, die Mutter steht mit den kleinen Kindern allein, und der Justinus, dessen Name sie ihm als „gerecht und ausgerichtet, ausjustiert" deutet, muß einen Beruf haben, in den er früh genug hineinwächst.
Da tut man ihn in die herzogliche Tuchfabrik in Ludwigsburg. Was ein Lehrling da zu tun hat, sieht so aus: Stoffballen schleppen, aufwickeln, in die Regale räumen; dabei muß man hoch oben auf der Leiter herumturnen und die unhandlichen Dinger balancieren. Er tut es tagelang, es gibt keine geregelten Arbeitsstunden.
Der Raum ist dunkel, die Fenster verdeckt von den getürmten Ballen; irgendein freundlicher Meister macht eine Scheibe dahinter auf, daß Luft hereindringt, es riecht nach dem staubigen Zeug, das jahrelang da gelagert worden ist – Justinus atmet auf, aber mit der frischeren Kühle, die ihn gerade noch erreicht, kommt auch ein Ton herein, zwei, drei, kaum menschliche Laute, Ächzen, Stöhnen, wildes Schreien – und dazwischen ein gellendes Gelächter.
Er weiß, was das ist. Nah bei der Stoffhandlung ist das Irrenhaus, wo nebenan auch die gefangenen Verbrecher eingesperrt sind.