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Im tiefsten Dunkel - Kriminalroman
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eBook346 Seiten4 Stunden

Im tiefsten Dunkel - Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Ein fesselnder Krimi, der Vergangenheit und Gegenwart zusammen bringt!Liam Coubert hat sich ein stilles Leben in Mannheim aufgebaut und Zuflucht gefunden, seitdem er 15 Jahre zuvor den Spuren einer Serie grausamer Morde an Frauen gefolgt war und dabei dem Mörder so nah kam, dass er selbst verdächtig wurde. Doch mit der Ruhe ist es vorbei, als eine neue Mordserie beginnt, die demselben Muster wie damals folgt. Erneut beginnt Liam den Spuren zu folgen, die ihn in die Finsternis eines mittelalterlichen Labyrinths unterhalb des Hambacher Schlosses führen. Langsam begreift er, dass ihn mehr mit dem Mörder verbindet als er dachte.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum22. Juli 2019
ISBN9788726086799
Im tiefsten Dunkel - Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Im tiefsten Dunkel - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz

    www.egmont.com

    Prolog

    Die Wasseroberfläche lag vor ihm wie ein riesiger, schwarzer Spiegel. Von der Tür aus sah Coubert jedes Detail des Bassins. Der Mond schien hell in dieser Nacht, fast so hell wie die Sonne tagsüber.

    Keine Zeit für Schlaf, schon gar nicht, wenn ihn so viele Gedanken quälten. Sie begannen als sanftes Säuseln, bissen sich fest, zerrten an losen Stellen, und am Ende fegten sie wie ein Sturm durch jeden Winkel des Gehirns und ließen nichts zurück als Zweifel und Verwirrung.

    Durch die Fenster des Wasserturms drängte das kühle Licht herein. Später würde der Mond sich in der Schwärze des Wassers spiegeln. Es war eines der Geheimnisse dieses verwunschenen Orts, dass nichts von dem, was unter der Wasseroberfläche war, sich jemals zu erkennen gab. Sogar an hellen Sommertagen, wenn das Licht spärlich durch die kleinen Fenster sickerte, reflektierte das Wasser lediglich seine Umgebung und enthüllte nichts von dem, was es bedeckte. Wenn es denn überhaupt etwas gab dort unten. Ein Physiker hätte sicherlich eine Erklärung dafür gefunden, aber Coubert, der nicht immer Coubert gewesen war, suchte nicht danach. Er nahm es hin und genoss die Magie, so wie er viele andere Dinge zu genießen gelernt hatte.

    Wie oft hatte er nachts hier schon rauchend gestanden und in das Wasser geblickt, das in träger Dunkelheit einen langen Schlaf zu schlafen schien? Fast immer hatte er fast ängstlich auf etwas gewartet, war sich fast sicher gewesen, dass es kommen würde, die Ruhe zu stören. Vielleicht würde sich der klare Spiegel eintrüben, Schlieren werfen und Nebel aufsteigen lassen, aus denen sich dann Bilder von fremden Orten herausschälen. Bilder aus der Vergangenheit. Oder Bilder aus der Zukunft.

    Oder das Silber des Wassers würde sich erheben in Säulen, die sich langsam zu menschlichen Körpern formten, rein silbern zwar, aber sonst in jeder Einzelheit wie die Bilder, die er tief in seinem Inneren vergraben hatte und die nun schon so lange tot waren.

    Wesen der Vergangenheit. Darauf wartete er, wartete furchtsam, denn die Bilder konnten nichts Gutes bringen, sondern nur altvertraut Schlechtes. Sie konnten ihm nur das bringen, was er sowieso schon sah, jede Nacht, in seinen Träumen, wenn er sich in seinem Bett hin und her warf.

    Aber niemals geschah etwas, immer nur war Frieden und Stille. Er stand und rauchte und sah auf die kleine Wasseroberfläche, und wenn ihm dann kalt wurde, zog er den Kragen enger und ging hinunter in sein Zimmer, zu der wenigen Habe, die ihm etwas bedeutete.

    Manchmal aber, wenn er sich ganz schwach fühlte und seinen Gespenstern nicht zu trotzen vermochte, fuhr er mit dem winzigen Boot hinaus, von dem aus die Wartungs- und Reinigungsarbeiten an der Mauer gemacht wurden. Es war gerade groß genug für einen Mann. Er setzte sich, machte einen Schlag mit dem Paddel und befand sich sofort mitten auf dem kleinen See. Und seltsam, er war nur wenige Meter von der Treppe entfernt, hinter der seine Gegenwart lag, aber es schienen ihm viele Kilometer, und es schienen ihm viele Jahre, und er wurde ruhig.

    Er beugte sich dann vornüber, barg den Kopf mit den widerspenstigen, schwarzen Haaren in den Händen und konnte endlich einmal ohne Schuldgefühl und Scham an das denken, was hinter ihm lag. Er konnte an sie denken, an ihre Jugend und Lebensfreude. Sie hatten wirklich gelebt, im tiefsten Sinne des Wortes, bis ein grausamer Tod sie ereilte. Sie hatten in die Zukunft geschaut, sie hatten Pläne gehabt und eine Zukunft – und sie hatten sicher mit allem gerechnet.

    Nur nicht mit einem so bestialischen und unwürdigen Ende.

    1. Kapitel

    Die Tage vergehen in Gleichförmigkeit und Ruhe, und ich bin dankbar dafür. Ich bin dankbar dafür, hier oben so isoliert zu sein, wie man es inmitten einer Großstadt sonst nirgends sein kann, umgeben von meinen Büchern und den wenigen Dingen, die mir sonst noch gehören. Du weißt, dass ich Besitz immer als lästigen Ballast empfunden habe, aber einige wenige Dinge, so habe ich festgestellt, brauche ich doch.

    Morgen besuche ich eine Auktion in einer kleinen Nachbarstadt.

    Eine Reihe interessanter Folianten kommt zur Versteigerung, schon der Katalog liest sich rasend spannend wie ein guter Kriminalroman. Das Auktionshaus ist nicht unbedingt spezialisiert auf Bücher, sie haben alles und nichts, das eröffnet vielleicht die Chance auf einen wirklich guten Fang. Am liebsten sind mir immer die Posten des Katalogs, die nicht genau beschrieben sind. Konvolut von Büchern des neunzehnten Jahrhunderts, aus dem Nachlass einer jungen Dame – das birgt so viele Möglichkeiten, so viele Unwägbarkeiten, so viel Romantik. Warum hatte eine junge Dame so alte Bücher, warum verstarb sie jung? Dinge, die Stoff zum Nachdenken geben. Ein kleines Abenteuer, winzig im Vergleich zu dem, was mich früher umtrieb, aber es bringt ein wenig angenehme, kontrollierte Unruhe in mein Leben.

    Ansonsten: alles beim Alten. Meine Aufgaben hier sind wenig anspruchsvoll und lassen mir Zeit für das, was wichtig ist. Ich treibe so viel Sport, wie ich kann. Ich fahre mit dem Fahrrad herum und schaue mir alles an. Ich lese viel, völlig verschiedene Dinge, Religionsgeschichte, Belletristik, Reisebeschreibungen, Philosophie. Nichts, das sich einen besonderen Platz in meiner Aufmerksamkeitsskala erwirbt. Es ist, als suche ich nach irgendetwas, nach etwas, das es wert ist, länger und intensiver beleuchtet zu werden.

    Vorhin hatte ich einen meiner Anfälle von Kopfschmerz. Die Medikamente wirken sehr ordentlich, meist bin ich vollkommen schmerzfrei und klar. Nur ab und an ist es wie früher, wenn die Wirklichkeit versinkt in einer Abenddämmerung. Aber es ist nie für lange, schon nach ein paar Minuten bin ich wieder im Diesseits. Der Arzt sagte, dass es anfangs so sein würde. Die neuen Tabletten unterscheiden sich etwas von den alten.

    Vor vierzehn Tagen war ich bei einer Auktion. Eine große Auktion mit vielen Posten, aller Art und Herkunft. Es gab Bilder in Öl und Tempera und Federzeichnungen. Es gab Möbel, es gab Schmuck in Hülle und Fülle, Plastiken, sogar ein paar alte Autos, die aussahen wie fabrikneu. Und es gab eine ganze Anzahl Bücher, Klassiker und solche, die einfach nur schön waren, und viele, die nichts weiter darstellten, aber zumindest eine gewisse Originalität hatten. Und im hintersten Winkel des Saales – ein grauer Karton.

    Einer der Posten war ein Pappkarton voller Bücher ohne nähere Beschreibung. Die meisten Bücher waren in schlechtem Zustand – so schlecht, dass ihr Äußeres sicherlich ausreichte, bei den bibliophilen Besuchern der Auktion echten Ekel auszulösen. Keiner von denen ließ sich dazu herab, die Kiste auch nur anzufassen. Meist glitt ihr Blick darüber hinweg, als wäre sie nicht da.

    Aber ich untersuchte sie gründlich.

    Der Zustand war wirklich eine Schande, eine Wüste von schmutzig-brauner Grundfarbe. Einbände hingen nur noch an wenigen Fäden oder waren völlig verschwunden. Seiten fehlten, waren vergilbt, geknickt, zerrissen, angesengt. Es schien nichts als Ramsch zu sein, Überbleibsel alter Auktionen der letzten zwanzig Jahre, der Bodensatz edler Bibliotheken, Dinge, zu schäbig für die Regale der Sammler.

    Auf den zweiten Blick jedoch ... Ich schlug die Bücher auf, eins nach dem anderen. Ich fand Geschichte und Geschichten, ein paar Reiseberichte aus dem neunzehnten Jahrhundert, einige technische Werke aus derselben Zeit, Spiegel einer Epoche, die für mich schonimmer zu den spannendsten gezählt hatte. Alles in allem schien mir der Karton ein Engagement wert. Ich ersteigerte ihn für ein Butterbrot, brachte ihn nach Hause. Es waren nicht allein die Inhalte der Bücher, die mich dazu bewogen. Da war noch das Gefühl, dass, wenn ich nicht kaufte, das Ganze möglicherweise in den Papiermüll wandern würde. Ich wollte retten, was anderen nichts wert war, weil sie sich nicht die Zeit nahmen, hinter die Fassade zu schauen.

    Es war der späte Abend des gleichen Tages. Ein Klingeln an der Tür zum Turm – nur wenige kennen die verborgene Klingel, sonst würde sie von nächtlichen Herumtreibern sicher andauernd gedrückt werden und mich in meiner Abgeschiedenheit stören.

    Hier war jemand, der sie kannte.

    Ich ging hinab, öffnete die obere Tür. Vor mir lagen die Treppenstufen, die hinunter zum Brunnen führten. Es war dunkel um das Becken herum, aber die Fontäne schoss hell wie ein Feuerstrahl viele Meter in die Höhe. Später würde sie in verschiedenen Farben angestrahlt werden, eine bonbonhafter als die andere. Ich fand das immer fürchterlich, aber es gefällt den Leuten, und auch an diesem Abend gab es eine große Menge an Zuschauern, die die Grünanlage bevölkerten, auf das Schauspiel warteten oder anderen Zuschauern beim Zuschauen zuschauten.

    Im Licht der Parklaternen lag ein Päckchen vor der Tür, in braunes Papier gehüllt. Kein Bote, niemand in der Nähe, der den Anschein erweckte, ein Interesse an dem Päckchen zu haben. Ich hob es auf, zerriss die Verpackung. Ein Buch fiel mir entgegen, scheinbar so alt wie die, die ich vorher gekauft hatte. Und ein Zettel mit einer Handschrift, die gleichzeitig zerfahren und doch energisch wirkte.

    Dies gehörte noch in Ihre Kiste. Bitte entschuldigen Sie die späte Lieferung. Mit freundlichem Gruß, Stefan Kringel.

    Ich wog das geöffnete Päckchen nachdenklich in der Hand. Kringel war der Auktionator des Abends gewesen, ich erinnerte mich an sein Namensschild auf dem Stehpult. Dass er sich wegendieses Päckchens extra zu mir herbemühte, war seltsam. Und noch seltsamer war, dass er es mir nicht persönlich übergeben hatte.

    Dem Aussehen nach passte das Buch tatsächlich zu den anderen. Immer noch in der Tür stehend versuchte ich, das Buch zu öffnen – ohne Erfolg. Die Seiten waren miteinander zu einem festen Block verklebt.

    Sie schützen den Inhalt, wie eine Auster die Perle beschützt, schoss es mir durch den Kopf.

    Ich trat zurück ins Dunkel des Treppenhauses und schloss die Tür. Ich zog mich zurück, um nachzudenken. Ich würde einen Weg finden, das Buch zu öffnen.

    Der Atem kam immer noch leicht, die Schritte ergaben sich wie von selbst. Zehn Kilometer in den Beinen und immer noch keine Anzeichen von Anstrengung. Bernie Trautmann spürte Zufriedenheit.

    Sein Weg führte ihn durch den dunkelsten Teil des Waldparks. Er lief fast ausschließlich nachts, seitdem er begonnen hatte, regelmäßig Sport zu treiben. Am Anfang war es reine Scham gewesen, die ihn dazu brachte. Einhundertzehn Kilo bei einer Körpergröße von einem Meter fünfundsechzig führte man nicht unbedingt bei Tageslicht spazieren, wenn jeder es sehen und darüber grinsen konnte. Kein Trainingsanzug war geeignet, hier etwas abzumildern.

    Trautmann atmete konzentriert. Ein, aus, ein, aus. Alle drei Schritte einmal. Sein Weg, bis dahin asphaltiert, zweigte ab. Die neue Strecke führte über Waldboden, festgetreten von Hunderten Läufern und Spaziergängern. Trotzdem hatte er das Gefühl, als federe der Boden, als käme er seinen Bewegungen entgegen.

    Die hundert Kilo waren schon lange Vergangenheit, aber es gab noch einen Grund für seine nächtliche Sportaktivität:

    Sein Beruf ließ ihm tagsüber wenig Zeit. Er war Verkaufskraft im Einzelhandel, Herrenkonfektion – probieren Sie doch mal diesen Anzug, die Farbe ist derzeit sehr angesagt – seine Arbeitszeit war geregelt durch die Öffnungszeiten der Geschäfte: Zehn Uhr morgens bis acht Uhr abends. Bis er zu Hause war, war es – zumindest im Winter – schon lange dunkel. Morgens konnte er nicht laufen, das ließ sein Biorhythmus nicht zu, blieben also nur der Abend und die Nacht. Im Sommer war das wegen des schwül-warmen Klimas in der Stadt sowieso die beste Lösung.

    Ein, aus, ein, aus. Trautmann spürte ein leichtes Ziehen im Knie. Hoffentlich blieb es dabei, ein größerer Schaden hätte ihm jetzt gerade noch gefehlt. Jeder wusste, wie schnell das gehen konnte, insbesondere Leute, die so viel Sport trieben, waren sehr gefährdet.

    Die Wiese zu seiner Rechten hatte die Größe eines Fußballplatzes. Leichter Dunst waberte über ihr, im Licht des aufgehenden Mondes deutlich zu sehen. Überhaupt, der Mond. Er zeigte ihm immer mehr Details seiner Umwelt, je höher er stieg, trotz der Wolkendecke, die nur teilweise unterbrochen war. Schon konnte er einzelne Äste des Unterholzes identifizieren. In einigen Tagen war Vollmond, die Bäume würden Schatten werfen, so hell war es dann.

    Das Ziehen im Knie wurde stärker. Ein, aus, ein, aus. Wie immer, wenn irgendetwas im System nicht stimmte, erhöhte sich automatisch seine Atemfrequenz, ohne dass er schneller gelaufen wäre. Vielleicht war es ja doch der Meniskus, oder es waren die Bänder. In letzter Zeit traten solche und ähnliche Beschwerden immer öfter auf. Die Schweißperlen auf seiner Stirn wurden dicker. Das Laufen war ihm Lebensinhalt geworden, seitdem er innerhalb von zwei Jahren fast dreißig Kilo abgenommen hatte. Nicht auszudenken, wenn er darauf würde verzichten müssen. Der Sport gab ihm alles, was ihm das Leben sonst verwehrte: Bestätigung fand er nur hier, und er konnte sie haben, wann immer er wollte.

    Ein, aus, ein, aus. Der Weg wurde wieder dunkler, der Mond schien nur noch schemenhaft durch das dichte Blätterdach über ihm. Ein heller Fleck etwa zweihundert Meter schräg vor ihm im Wald erregte seine Aufmerksamkeit. Er fixierte ihn, konzentrierte sich darauf. Das lenkte ihn von seinem Knieproblem ab. Der Fleck schien abseits des Weges zu sein, zwischen den Bäumen. Er näherte sich mit allmählich schwerer und größer werdenden Schritten. Was war da nur? Der Farbe nach konnte es Papier sein, vielleicht das Stück eines leeren Zementsacks, durch den Wind hierher geweht.

    Nur noch hundert Meter Abstand zu dem hellen Fleck, und immer noch hatte er keine Ahnung, was da lag. Über die Anstrengung der Bewegung legten sich andere Gefühle, Neugier zuerst, und dann eine Art unklarer Beklommenheit.

    Fünfzig Meter noch. Konturen traten hervor, verdichteten sich. Schemen wurden Gewissheit.

    Dann war er heran. Er blickte auf das Bündel zu seinen Füßen. Einen Augenblick war er unfähig, zu verarbeiten, was er da sah. Es war, als sähe er sich selbst und seine Umgebung im Fernsehen. So schützte sich seit jeher der Geist vor Dingen, die ihm Schaden zufügen konnten.

    Dann sickerte das Bild glasklar in sein Bewusstsein. Bernie Trautmann machte drei Schritte zur Seite und übergab sich in das dürre Gras, das den Boden zwischen den Bäumen bedeckte.

    »Ein Jogger hat sie gefunden.«

    Trotz der späten Stunde war es noch warm, schwül und drückend, wie so oft im sommerlichen Rheintal.

    Eine Kirchturmuhr schlug leise in der Ferne. Susanne Findeisen lauschte, konnte sich aber nicht richtig konzentrieren. So verpasste sie es, die Anzahl der Glockentöne mitzuzählen bis zum Ende. Sie blickte auf ihre Armbanduhr, ein letztes, teures Geschenk des Mannes, mit dem sie ihr halbes Leben verbracht hatte

    Vier Uhr. Dünne Nebelschwaden strichen um die Baumstämme wie formlose Gespenster. Gott allein wusste, warum um diese Zeit Menschen joggen mussten – und dann auch noch hier, im hintersten Winkel des Waldparks. Sicher, der Park war leer wie sonst niemals, man hatte Platz, war unbeobachtet, aber war dies wirklich der Grund? Sie schüttelte in stillem Unverständnis den Kopf, ließ die Zigarettenkippe zu Boden fallen und drückte sie in den weichen Boden. Im gleichen Augenblick aber bückte sie sich wie ein Roboter, nahm die Kippe auf und steckte sie in die Außentasche der leichten, hellen Funktionsjacke. Die Routine jahrlanger Polizeiarbeit – keine zusätzlichen Spuren am Tatort produzieren, die man später wieder mühsam aus dem Beweispuzzle herausrechnen müsste.

    Sie selbst hätte nach so einem Dauerlauf, der den gesamten Organismus und alle Drüsenfunktionen in Alarmzustand versetzte, nicht einschlafen können, das war mal klar.

    »Laufen Sie auch, Wertheim?«

    Ihr Assistent war noch nicht lange beim Morddezernat, und besonders viel passierte glücklicherweise nicht in der Stadt. Wertheims erste Leiche lag eine Woche zurück und hatte sich schnell als kriminalistische Niete entpuppt. Sie war dann doch auf die fatale Ähnlichkeit zweier Flaschen mit extrem unterschiedlichen Inhalten zurückzuführen gewesen. Die meisten Unfälle passierten immer noch im Haushalt.

    Dies hier war der erste Einsatz, bei dem der junge Beamte bekommen sollte, was seine Stellenbeschreibung hergab und er sich eigentlich immer als Tagesgeschäft vorgestellte hatte.

    Susanne Findeisen zog die Schultern hoch. Sie war Anfang vierzig, blonde, kurz geschnittene Haare, gefärbt, eine energische Nase, etwas zu groß für das schmale, leicht blasse Gesicht, fast einsachtzig groß und schlank – man konnte sie durchaus als attraktiv bezeichnen. Aber viel mehr als diese Äußerlichkeiten schätzten Wertheim und die anderen Kollegen der Dienststelle ihren Intellekt. Immer auf der Höhe eines Gesprächs, immer genau im Bilde, und wenn sie fragte, dann pfeilgenau ins Ziel. Ihr Verstand war schnell wie ein Florett. Manchmal, wenn sie in ihrer knappen, sachlichen Art einen Kommentar abgab, hatte der Zuhörer so ein Gefühl, als funkelte ihr Verstand zwischen den Worten wie ein Brillant zwischen Rheinkieseln.

    Aber nicht jetzt, zu dieser nächtlichen Stunde.

    »Wenn ich Zeit habe. Manchmal auch abends, aber niemals so spät. Ich kann nicht schlafen, wenn ich zu spät laufe.«

    Sie gestattet sich ein leises Lächeln. »Wo ist der Zeuge?«

    »Ich hab ihn nach Hause geschickt. Seine Aussage und die Adresse haben wir ja, und ich fand, er sollte duschen gehen.«

    Hauptkommissarin Susanne Findeisen wandte sich um. Der Wald war taghell erleuchtet. Zwei großvolumige Strahler überschütteten Bäume und Sträucher verschwenderisch mit gleißendem Licht, ließen die Details plastisch hervortreten, soweit sie nicht von der Nebeldecke verhüllt waren. Zwei der Dienstfahrzeuge hatten es bis nahe an den Tatort geschafft und die ganze Ausrüstung abgeladen.

    Einen Augenblick beobachtete sie die kleine Gruppe Männer und Frauen, die sich vorsichtig suchend zwischen den Bäumen bewegte. Die meisten lagen auf den Knien, suchten jeden Quadratzentimeter nach Spuren ab. Alle bewegten sich mehr oder weniger auf Kreisbahnen um das herum, was der Grund ihrer Anwesenheit war, wie Satelliten um einen Planeten.

    Eine Zeremonie. Der Tanz um das Idol.

    Eine Gruppe von vier Beamten in Uniform stand ein wenig abseits, die Männer unterhielten sich gedämpft und zigarettenrauchend. Einer der Uniformierten hatte die Leiche mit einer grauen Plane bedeckt, nachdem der Fotograf seine Arbeit getan hatte. Er und die anderen Beamten hier am Tatort hatten schon viel erlebt in ihrer Dienstzeit – ausgenommen Wertheim, dem noch der Flaum der Polizeischule hinter den Ohren klebte. So etwas wie dies hier war allerdings für alle neu.

    Die Spurensicherung arbeitete schnell und ruhig, eine gut geölte Mechanik, viele Teile mit einem Ziel. Wenn gesprochen wurde, dann nur das Nötigste, sehr leise. Der Nebel schien die Geräusche noch zusätzlich zu dämpfen.

    Findeisen blickte nach oben. Der Mond schien in den dicker werdenden Wolken zu ertrinken. Der Wetterbericht hatte für irgendwann am frühen Morgen Regen vorhergesagt; was bis dahin an Spuren nicht gesichert war, würde nur noch von geringem Wert sein.

    Äste knackten im Dickicht. Müde wandte sich die leitende Ermittlerin in die Richtung, aus der ein dicker Mann mit rotem Gesicht schwerfällig wie ein Nashorn auf sie zustampfte. Er trug einen grauen, ehemals maßgefertigten Anzug, Relikt aus guten Tagen, der im Laufe der Jahre jede Eleganz eingebüßt hatte, und ein Hemd, das dringend gewaschen werden musste. An den Schuhen klebten loser Waldboden und kleine Blätter.

    Sie seufzte. »Berliner. Sie wissen doch, das es verboten ist, den Polizeifunk abzuhören.«

    Der Dicke kam schnaufend vor ihr zum Stehen. Er zog ein Taschentuch aus seiner Innentasche und wischte sich damit über den schwitzenden Schädel. Die wenigen, sorgfältig gescheitelten Haare büßten dabei ihre Ordnung völlig ein.

    »Bis hierher, aber nicht weiter. Sie wissen ja – der Tatort ist tabu für die Presse.«

    Die Hauptkommissarin war froh, dass die Plane über dem toten Mädchen lag.

    Leo Berliner blickte sie treuherzig an. Dieser Hundeblick und ein gerütteltes Maß an Furcht- und Respektlosigkeit hatten ihn in seiner Jugend in den Sechzigern zu einem der vielversprechendsten Kriminalreporter der Republik gemacht, wußte die Hauptkommissarin von den älteren Kollegen. Er war bekannt gewesen bei allen großen Tageszeitungen, ein Star mit legendärer Spürnase. Nun aber stand er kurz vor der Rente. Er war ausgebrannt, das alte Feuer war verlodert. Es gab andere, jüngere, die ihn rechts und links überholt hatten und immer noch überholten. Er war zu langsam geworden für das schnelle Rennen um die Neuigkeiten.

    »Haben Sie denn gar nichts für mich?«

    Findeisens Blick war hart. »Seien Sie froh, dass ich Sie wegen des Polizeifunks nicht festnehme. Wir geben morgen eine Presseerklärung heraus, dann können Sie schreiben.«

    »Mein Chef bringt mich um. Falls meine Bandscheibe das nicht schon vorher tut. Haben Sie eine Ahnung, was es mich an Schmerzen und Kraft gekostet hat, um diese Zeit aus dem Bett zu kommen? Nicht einmal für einen Kaffee war Zeit. Bitte, bitte, liebe Frau Hauptkommissarin, ich bitte sie ...«

    Er schickte sich an, umständlich vor ihr niederzuknien, und zum zweiten Mal in dieser Nacht huschte ihr ein Lächeln über das kluge Gesicht. Sie hob abwehrend die Hand. »Sie werden sich schmutzig machen. Also schön. Wir haben ein junges Mädchen. Ein Jogger hat sie gefunden. Sie wurde ermordet.«

    »Und weiter?«

    »Überspannen Sie den Bogen nicht.«

    Er blickte immer noch erwartungsvoll. »Verstehen Sie doch. Damit wird man nicht zufrieden sein. Man erwartet mehr von mir ...«

    Man erwartet nichts von dir, dachte sie. Lehmann, die neue Kraft beim Mannheimer Morgen, war der Kriminalreporter der Zukunft und machte außerdem noch hervorragende Sportberichte. Eine Doppelbegabung war in den Zeiten knapper Budgets und spärlich besetzter Redaktionen fast schon Voraussetzung für eine einigermaßen ordentliche Laufbahn. Berliner war eigentlich schon draußen, wurde nur mehr geduldet. Ein Fossil war er geworden und hätte doch das Zeug zu einer Legende gehabt.

    Die wenigsten Leute wussten, wann es Zeit war aufzuhören, dachte Findeisen mit einem Anflug von Wehmut. Ein paar hatten es geschafft: Der Mittelgewichtler Ottke zum Beispiel, Steffi Graf und James Dean, Letzterer allerdings eher unfreiwillig. Die Wenigsten fanden den richtigen Moment für einen Abgang in Würde. Ein Abgang in Würde. Das war ein Ziel, auf das es sich lohnte, hinzuarbeiten. Bis dahin allerdings gab es noch einiges zu tun.

    Die Zahl der Nebelschwaden nahm zu. Vielleicht würde es doch keinen Regen geben. Wo es nebelte, fiel kein Regen.

    »Mehr wissen wir noch nicht. Keine Zeugen, keine Identität, keine Hinweise auf den Täter. Die Frau ist verblutet, die genaue Ursache dafür muss die Obduktion ergeben. Sehen Sie, jetzt wissen Sie schon alles, was ich selber weiß und Ihre Kollegen erst heute Nachmittag erfahren werden. Und nun gehen Sie nach Hause und schonen Ihren Rücken.«

    Sie sah ihm hinterher, wie er langsam und schnaufend seinen Weg zurückging. Bevor er außer Sichtweite geriet, wandte er sich noch einmal um und winkte ihr zu. Sie reagierte nicht.

    Hinter ihr räusperte sich Wertheim. »Wir wären soweit.«

    Sie nickte. Die Spurensicherer packten ihre Sachen, gingen im Gänsemarsch den Weg zurück zu den Fahrzeugen; der Vorderste leuchtete mit einer hellen Lampe. Einer der Uniformierten aus der Rauchergruppe sprach in ein Handy. Ein paar Minuten später erschienen zwei dunkel gekleidete Männer auf dem gleichen Weg, auf dem Berliner und die Spurensicherer entschwunden waren. Sie näherten sich der Toten in professionellem Respekt, nahmen sie vorsichtig auf und legten sie in eine Art Plastiksack mit Tragegriffen an den Enden.

    Das Letzte, was Susanne Findeisen von der Leiche sah, war ein schwarzer, feuchter Haarschopf, unordentlich über einer schneeweißen, in unmenschlicher Qual verzerrten Stirn.

    Dann schloss sich der Reißverschluss wie der Vorhang am Ende eines Theaterstücks.

    2. Kapitel

    Liam Coubert hatte sich schon immer für Bücher interessiert. Früher waren sie Abenteuer für ihn gewesen, jedes Buch eine neue Welt, eine andere Zeit. Er besuchte Schatzinseln, kämpfte gegen Indianer und erkundete den Orient, oder er flog mit Raumschiffen ins All und zu den Planeten. Später wurden sie ihm Freunde, einige begleiteten ihn über viele Jahre. In trüben Zeiten wurden sie ihm Trost, gestatteten ihm immer wieder kleine Fluchten, an den Tagen, an denen sich das Leben von seiner schwarzen Seite zeigte.

    Und es hatte viele dieser Tage gegeben.

    Mit der Zeit war so eine kleine Sammlung zusammengekommen. Er war kein typischer Leser, und er war kein typischer Sammler von Büchern. Er bevorzugte kein Genre, es waren auch nicht unbedingt die Erstausgaben oder die alten, in Leder gebundenen Folianten oder die bibliophilen Sonderausgaben, die ihn interessierten. Für Coubert war an einem Buch lediglich wichtig, dass es ihn irgendwie ansprach. Die ausschlaggebenden Reize konnten dabei vollkommen unterschiedlich sein. Er nahm ein Druckwerk in die Hand und wusste, mit diesem würde er eine Beziehung eingehen können für-eine gewisse Zeit oder für immer. Manchmal, wenn ein Klappentext vorhanden war, fand er den nötigen Anreiz dort, aber manchmal war es auch nur ein Element der Aufmachung, des Einbandes, oder es war der Umstand, dass es zu einer Zeit oder an einem Ort geschrieben worden war, die ihm interessant erschienen. Manchmal war es eine altertümliche Type, die sich beim Druck tief in das Papier gekerbt hatte und fast mit den Fingerkuppen zu lesen war. Bisweilen fand er eine merkwürdige, Fragen aufwerfenden Widmung – und schon war es um ihn geschehen. Niemals suchte er nach diesen Dingen, vielmehr hatte er das Gefühl, sie fanden ihn, wenn er in Antiquariaten, auf Flohmärkten oder Auktionen herumging und in dem wühlte, was andere meistens keines Blickes würdigten.

    Da stand er nun, mit dem alten Buch in der Hand, dessen Inhalt in einem massiv verklebten Block alten Papiers verborgen war. Er wog es in der Hand. Coubert schätzte das Gewicht auf fast ein Kilo, was schwer war für ein Buch dieser Größe. Der

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