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Das geheime Leben des Ettore Majorana - Kriminalroman
Das geheime Leben des Ettore Majorana - Kriminalroman
Das geheime Leben des Ettore Majorana - Kriminalroman
eBook305 Seiten4 Stunden

Das geheime Leben des Ettore Majorana - Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Ein spannender Krimi, der Realität und Fiktion verbindet!Der italienische Physiker Ettore Majorana verschwindet im Frühjahr 1938 spurlos und tauchte nie mehr auf. Jedoch nicht, bevor er die Zeugnisse seiner Arbeit vernichtet hat. Auf dieser wahren Begebenheit baut Ziebolz seine Geschichte aus und liefert eine fiktive Erklärung für die Geschehnisse: Majorana versucht der Bedrohung der Geheimdienste zu entfliehen, nachdem er eine revolutionäre Entdeckung gemacht hat. Und setzt sich und seine Umgebung in seiner Verzweiflung immer mehr Gefahren aus...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum12. Aug. 2019
ISBN9788726086782
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    Buchvorschau

    Das geheime Leben des Ettore Majorana - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz

    hat.

    Prolog

    Ettore Majorana

    Teil 1: Der Sizilianer

    »Wo soll ich beginnen? Die Welt ist so groß. Ich werde also mit dem Land beginnen, das ich am besten kenne, mit meinem eigenen. Aber mein Land ist so groß. Ich fange doch lieber mit meiner Stadt an. Aber meine Stadt ist so groß.

    Am besten beginne ich mit meiner Straße. Nein, mit meinem Haus.

    Nein, mit meiner Familie. Ach was, ich beginne bei mir.«

    Elie Wiesel

    »Beginne am Anfang«, sagte der König ernst, »und fahre fort, bis du ans Ende kommst: dann höre auf«

    Lewis Carroll

    1.

    Der Weg scheint endlos und ist doch nur dreißig Meter lang, sein Ende deutlich zu erkennen. Sogar das Namensschild sieht Himmelreich, der langsam geht, als könne jede hastige Bewegung seine Umgebung verschwimmen lassen, wie eine Bewegung im Wasser die Ordnung der Oberfläche zerstört.

    Alfred Winkler.

    Die Tür ist aus dickem, dunklem Holz, mit Masern rot wie Blut, die Klingel ein angenehm dunkler Gong. Sie öffnet sich schnell, als hätte sie auf ihn gewartet. Das Gesicht hinter der Tür – alt geworden, mit tiefen Furchen, aber immer noch unverkennbar dieselbe Person, und immer noch brennt die alte Kraft aus dunklen Augen. Kein Erschrecken, keine Angst findet sich in der Stimme, die noch kräftig und laut ist; sie klingt eher, als hätte er ihn schon seit langer Zeit erwartet.

    »Victor. Wir haben uns lange nicht gesehen.« Und, als Victor nicht antwortet, sondern ihn nur anschaut: »Ich wußte, daß du irgendwann kommen würdest.«

    »Du mußtest damit rechnen«, antwortet Himmelreich.

    Die Schultern des anderen sinken ein Stück vornüber. Die Gestalt, früher kraftvoll und sehnig und nun nur noch der ausgemergelte Schatten eines anderen Lebens, tritt beiseite und gibt den Weg frei ins Innere des Hauses.

    »Es gibt viel zu erzählen, und wenig Zeit dafür.«

    Die Mauser drückt an der rechten Brustseite. Es gibt zeitgemäßere Waffen, leichter, kleiner und effektiver, aber Himmelreich bevorzugt das alte Ding, weil es ihn an alte Tage erinnert.

    Die Pistole ist ein Fossil, Relikt einer anderen Epoche und einer anderen Umgebung, aber ist er nicht selber auch eines?

    Dann sitzen sie sich endlich gegenüber. Das Haus ist groß, und sein Bewohner – ist er allein hier? – scheint nur einen kleinen Teil zu nutzen. Das Zimmer ist vollgestopft mit Erinnerungsstücken aus allen Teilen der Welt, Fotoalben, Kisten mit Dias, gerahmten Bildern an den Wänden, ein Magazin der Erinnerung. Ein ganzes Leben auf fünf mal fünf Metern, aber dennoch, würde man das Material hier auswerten, man wüßte immer noch nicht, wer oder was sein Besitzer wirklich war, dessen ist sich Himmelreich sicher.

    Himmelreich sitzt leicht vorgebeugt auf der Kante eines braunledernen Clubsessels, seine Jacke öffnet sich am Revers und gibt den Blick frei auf den antiquierten Bakelitgriff der Waffe. Er sieht die vielen Pillendosen und das Spritzbesteck auf dem kleinen Glastisch.

    »Bist du krank?«

    Der andere zuckt mit den Schultern.

    »Ein wenig Zucker, ein wenig die Lunge, ein wenig von allem. Und selber?«

    »Man muß zufrieden sein.«

    Eine Pause entsteht. Wie sagt man jemandem, daß man gekommen ist, ihn zu töten? Denn sagen muß man etwas, bevor man es tut. Das Urteil muß verkündet werden, mit allen Begründungen, sonst wäre es keine Strafe.

    Auch wenn der Verurteilte den Richterspruch schon kennt.

    »Wohnst du alleine hier?«

    »Ja.«

    »Du nennst dich hier Winkler.«

    Die Stimme ist schwer, die Worte kommen heraus wie zäher Sirup.

    »Alfred Winkler. Ein Name ist so gut wie der andere.«

    Wieder eine Pause, und dann:

    »Du weißt, warum ich hier bin?«

    »Ich kann es mir denken.«

    »Es ist wegen Irmgard.«

    Das Gesicht bleibt ausdruckslos. Ein Krächzen, kaum als Lachen zu erkennen, drängt zwischen den trockenen Lippen hervor.

    »Ja. Dabei gäbe es bessere Gründe, mich zu erledigen.«

    Himmelreich nickt zum Zeichen des Verständnisses.

    »Ganz bestimmt, nur fällt das nicht in meine Verantwortung. Mich geht nur ein Fall an. Mein persönlicher Fall.«

    »Du kommst, um sie zu rächen?«

    »Ich komme, um dich zu bestrafen.«

    Wieder das trockene Lachen.

    »Ohne Verhandlung? Ohne mir die Möglichkeit zur Rechtfertigung zu geben? Du hast dich verändert, Victor. Du bist nicht mehr derselbe wie früher. Nicht mehr Victor, der Gerechte.«

    »Leute wie du haben dafür gesorgt.«

    Man merkt, wie es in Winkler arbeitet, seine Augen wandern ohne Unterlaß durch den Raum als suchten sie etwas, an dem sie sich festmachen können, einen Anker, einen Rettungsring.

    »Und du bist den Dingen von damals auf den Grund gegangen.«

    »Ich kenne die Einzelheiten.«

    »Wirklich alle Einzelheiten? Weißt du genau, wie das mit Irmgard war? Und was aus Ettore geworden ist?«

    Himmelreich lehnt sich zurück. Eigentlich hatte er die Zeit nicht eingeplant, aber vielleicht ist es richtig so, vielleicht muß wirklich noch einmal über alles geredet werden. Es wird ihm selber helfen, wenn er den Weg zurückgeht. Und es gibt ihm noch ein wenig Zeit.

    Außerdem fehlen ihm tatsächlich noch ein paar Bausteine, um das Bild vollständig zu sehen.

    »Also schön.«

    Der andere atmet hörbar auf. Nur noch ein krankes Bündel welkes Fleisch, aber dennoch, er hängt am Leben wie alle anderen auch.

    »Vielleicht siehst du nicht, welche Rolle ich wirklich gespielt habe vor vierzig Jahren. Wir schreiben jetzt 1975, und alles hat sich geändert. Damals taten wir nur, was wir tun mußten, zum Wohle unseres Volkes. Und meine Gründe ...«

    »Sag, was du zu sagen hast.«

    »Ich wollte vorschlagen, daß du beginnst. Bei dir fing alles an, meine Rolle begann erst später. Und ich kenne die Vorgeschichte der Affäre Majorana nicht.«

    Die Affäre Majorana. So hieß die Geschichte damals in der Presse, und die Zeitungen waren voll davon. Ein junger genialer Atomphysiker, Zögling Fermis, verschwunden von einem Tag auf den anderen, nachdem er alle seine Forschungsergebnisse vernichtet hatte. Himmelreich schließt für einen Moment die Augen und sieht die Schlagzeilen wieder vor sich, dicke Balken auf den Titelseiten der europäischen Zeitungen. Die Erinnerung ist zwar immer da gewesen, aber die Zeit hat sie schwächer gemacht. Jetzt, in diesem Moment, strömt sie in ihn zurück wie ein mächtiger Strom, der ein lange trocken gelegenes Becken füllt. Winkler will Zeit gewinnen, das ist ihm klar, aber zu groß ist die Verlockung, endlich über alles reden zu können, mit jemandem, der wirklich weiß, worum es geht.

    Auch wenn dieser jemand ein Mörder ist.

    2.

    Victor Himmelreich ist Student der Physik im achten Semester in München im Jahr 1933, als man an ihn herantritt. Ob er Lust hätte, nach Leipzig zu gehen, zu Heisenberg. Man könnte das arrangieren. Um das Geld würde man sich auch kümmern, um finanzielle Unterstützung und um ein Zimmer. Das wäre alles kein Problem.

    Himmelreich ist, als träume er.

    Werner Heisenbergs Ruf ist schon von internationaler Bedeutung und durchbraust die wissenschaftliche Gemeinde überall auf der Welt wie ein Sturm, der alles durcheinander wirbelt und nichts an seinem Platze läßt. Nach der Gastprofessur in Chicago hat er den Lehrstuhl für Physik in Leipzig übernommen. In seiner Nähe zu arbeiten, durch seine Schule zu gehen, ist eine Empfehlung, höhere Weihen mit dem Beigeschmack der Zugehörigkeit zur Elite. Und wenn Himmelreich zurückdenkt, muß er feststellen, daß ihn die Zeit dort wirklich und in jeder Hinsicht weitergebracht hat. Es ist nicht allein der Stoff, der vermittelt, und die Projekte, an denen gearbeitet wird, es ist ganz einfach das intellektuelle Klima und besonders Heisenbergs Genius, der allem seinen Stempel aufdrückt. Man spürt, man ist unter denkenden Leuten, man diskutiert, und es entstehen Gedanken in einem, die an einem anderen Platz niemals entstanden wären.

    All das weiß der kleine, schlanke Student mit der energischen Nase, den tiefliegenden Augen und dem sauber gestutzten Oberlippenbärtchen zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Seine Vorstellungen sind auch nur vage, wenn er an seine berufliche Zukunft denkt, und dennoch hätte er alles getan, um an diesen Ort zu gelangen. Also fragt er nach der Gegenleistung, die er zu erbringen hat, denn eine Gegenleistung muß es geben. Sie sagen es ihm, freundlich, sachlich, und er findet absolut nichts dabei. Es ist nichts Kriminelles dabei, noch nicht einmal etwas Anstößiges in der damaligen Zeit.

    Ein paar Informationen soll er beschaffen, über eine ihm damals noch völlig unbekannte Person, die mit ihm in Leipzig arbeiten würde.

    Nein, nicht ganz unbekannt.

    Er kennt den Mann, um den es geht, aus der Fachpresse und aus dem, was über ihn geredet wird.

    Und was er über ihn gehört hat, macht ihn gespannt.

    3.

    Im Frühjahr 1933 treffen sich zwei Männer in einem repräsentativen Büro des Berliner Reichstages. Der Raum ist riesig, fast schon ein Saal, und komplett mit Holz vertäfelt, dunkel mit feinen Intarsien, die Wappen, Fahnen und allegorische Tiere darstellen. Um einen großen, runden Tisch in der Mitte stehen ledergepolsterte Stühle aus massivem Ebenholz, und die Wände schmücken zwei riesige Schlachtengemälde aus dem vorigen Jahrhundert; ein Gemenge von blauen und roten Uniformen, gezückten Säbeln, stolzen Pferden und ästhetisch leidenden Verwundeten, bunter, glorifizierender Abgesang der Kriegskunst einer anderen Epoche, bar jeglicher Realität und von jemandem gemalt, der nie ein wirkliches Schlachtfeld gesehen hat.

    Am anderen Ende des Büros, direkt vor den hohen Fenstern, sitzt hinter einem Schreibtisch von riesigen Ausmaßen ein Mann und blickt Friedrich von Callwitz kühl entgegen.

    »Mein lieber von Callwitz. Es freut mich, daß wir uns endlich kennenlernen.«

    »Ist mir eine Ehre, Herr Reichskriegsminister.«

    Callwitz´ Hacken knallen mit einer Lautstärke zusammen, die sicher bis auf den Flur zu hören ist. Er schrickt selbst ein wenig zusammen. Alte Angewohnheiten wie diese wird man schwer wieder los, und in seinem Geschäft kann man sie sich eigentlich nicht leisten. Einmal, vor vier Jahren in Bulgarien, hat sie ihn fast das Leben gekostet. Er konnte sich damals nur retten, indem er seinen Gesprächspartner erschoß; eine sehr bedauerliche Konsequenz angesichts der Tatsache, daß er ihn eigentlich als Informationsquelle hatte nutzen wollen.

    Ohne aufzustehen, weist der Minister mit einer kleinen, präzisen Bewegung der rechten Hand auf den Besucherstuhl vor seinem Tisch.

    »Ich habe wenig Zeit, darum will ich gleich zur Sache kommen. Sie sind mir empfohlen worden, beziehungsweise, ihre Referenzen haben Sie empfohlen. Einer der fähigsten Agenten der alten Regierung, loyal, Auslandseinsätze, mehrere Sprachen fließend, und so weiter und so weiter, sehr beeindruckend, das.«

    Callwitz schweigt. Es gibt Situationen, da profiliert man sich am besten durch Schweigen. Die Wirren der letzten Monate haben sich auch auf sein Geschäft ausgewirkt, und er ist froh, nach zwei Jahren Verwaltungstätigkeit wieder für etwas anderes im Gespräch zu sein. Als Sprößling eines alten Adelsgeschlechtes mit vierhundertjähriger Tradition in der Armee verbindet ihn wenig mit den neuen Machthabern, aber letztendlich ist ihm egal, wer die Befehle gibt, wenn sie nur interessante Aufgaben für ihn bringen.

    »Danke, Herr Reichskriegsminister.«

    Von Blomberg lehnt sich zurück und mustert eindringlich den jungen Mann, der kerzengerade aufgerichtet auf seinem Stuhl sitzt und wartet, gleichzeitig entspannt und aufmerksam. Groß, blond, blauäugig, der arische Urtypus, als Agent leicht zu erkennen und daher für die Aufgabe wenig geeignet; dennoch, seine Erfolge sprechen für sich. Blomberg fragt sich, was intelligente, gebildete Menschen in einen solchen Beruf treibt, in Unsicherheit, Gefahr und ständige Anspannung.

    Wahrscheinlich muß man dazu geboren sein.

    Er seufzt, setzt seine runde Nickelbrille ab und beginnt, sie akribisch mit einem Taschentuch zu putzen, das er frisch gebügelt einer Schublade des Sekretärs entnimmt.

    »Wir haben eine Aufgabe für Sie, Callwitz. Wie gut waren Sie in Physik, damals auf dem Gymnasium?«

    »Oberes Drittel der Klasse, Herr Reichskriegsminister. Nicht unbedingt mein Lieblingsfach, aber ganz ordentlicher Abschluß.«

    »Natürlich. Nun, eigentlich ist es auch egal, aber der Mann, um den es geht, ist Physiker, und er arbeitet an Dingen, die möglicherweise von großer Bedeutung für das Reich sein könnten. Der Führer hat ein großes Interesse daran, daß wir uns seiner Dienste versichern.«

    Callwitz wartet. Die Sache mußte einen Haken haben, sonst wären sie nicht zu ihm gekommen, sondern hätten nur die Staatskasse bemüht.

    Blomberg läßt sich Zeit. Er beugt sich vor, greift nach einer großen, polierten Zedernholzkiste und zieht sie über die lederbezogene Schreibtischoberfläche zu sich heran. Er öffnet sie und hält sie Callwitz hin.

    »Zigarre?«

    Callwitz greift zu, auch der Minister bedient sich. Die Zigarre könnte ein Hinweis auf die Länge sein, die das Gespräch noch haben wird, und damit auf seine Bedeutung. Wenn der Reichskriegsminister sich eine Stunde Zeit für ein Gespräch mit einem Fremden nimmt, kann es keine Lappalie sein, über die geredet wird.

    Sie setzen die Havannas umständlich in Brand.

    »Es gibt zwei Dinge, die uns im Weg stehen. Zum einen ist der Mann Italiener, gehört also einer uns nahestehenden Nation an. Wir haben deshalb nicht ganz so viel Bewegungsraum wie in anderen Fällen.«

    Callwitz weiß immer noch nicht, worauf der andere hinaus will.

    »Eine Frage, Herr Reichskriegsminister, wenn Sie gestatten.«

    Er wartet Blombergs Nicken ab, bevor er fortfährt.

    »Warum nutzen wir nicht die offiziellen Kanäle und bitten die italienische Regierung um Unterstützung?«

    Blomberg wehrt ab.

    »Es gibt bestimmte politische Gründe gegen ein solches Vorgehen. Und dann – wir glauben, daß die Italiener gar nicht wissen, was Sie an diesem Mann haben, und wir möchten nicht diejenigen sein, die sie darauf hinweisen. Uns würde das Wissen dieser Person jedenfalls mehr nützen als den Italienern, so nahe uns diese auch im Herzen stehen mögen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

    Keine weiteren Fragen dazu. Callwitz weiß, wann er noch mit Antworten zu rechnen hat und wann nicht mehr. Sein Geschäft kann schmutzig sein, aber die Politik ist es in noch viel stärkerem Maße.

    »Jawohl. Und der andere Grund?«

    »Der andere Grund. Der andere Grund ist, daß wir vermuten, daß der Mann nicht unbedingt wild darauf sein wird, uns zu helfen.«

    »Dann kaufen Sie ihn.«

    Blomberg lächelt matt.

    »Er hat Geld genug. Jedenfalls für seine Bedürfnisse.«

    »Nehmen Sie es ihm weg.«

    »Dazu haben wir nicht die Möglichkeit, beziehungsweise, das würde nicht ohne Aufsehen abgehen. Sie sehen, es ist schwierig. Eine Aufgabe für einen Spezialisten. Eine Aufgabe für Sie. Glauben Sie, Sie schaffen das?«

    Callwitz pafft und stößt eine gewaltige Rauchwolke in den Raum, dann gestattet er es sich, die aufrechte Haltung aufzugeben und in die Rückenlehne zu sinken.

    »Es gibt immer einen Weg.«

    4.

    Hartmanns senkrechte Stirnfalte vertieft sich jedesmal, wenn ihm etwas bedenklich vorkommt und er darüber nachdenken muß. Seit er Victor Himmelreich kennengelernt hat und um die Art und Weise weiß, wie dieser an das Institut gekommen ist, furcht sie sich jedesmal, wenn er den jungen Mann sieht. Der klein gewachsene Hartmann hat nichts gegen Fürsprache oder Empfehlung, aber nur bis zu einer bestimmten, von ihm selbst definierten Grenze; in Himmelreichs Fall scheint diese überschritten worden zu sein. Weil er aber von Natur aus zu höflich ist – seine Frau nennt es schlicht feige –, seiner Kritik direkt und verbal Ausdruck zu verleihen, erschöpft sich diese in der Stirnfalte, und in gelegentlichem Runzeln der dichten Augenbrauen.

    »Herr Himmelreich, darf ich Ihnen Doktor Majorana vorstellen. Er ist für einige Zeit an unser Institut gekommen, um sich über unsere Arbeiten zu informieren und uns an seinen Erkenntnissen teilhaben zu lassen.«

    Himmelreich kennt Majorana natürlich, nicht erst aus den Vorgesprächen mit den Männern, die ihn nach Leipzig geschickt haben. Er kennt den Lebenslauf des gebürtigen Sizilianers, weiß um seine Arbeiten an der Universität in Rom, hat einiges davon gelesen und teilweise sogar verstanden. Vieles aber ist ihm verschlossen geblieben, liegt hinter einer Tür, die durch Intelligenz und Eifer allein nicht zu öffnen ist.

    »Herr Majorana, darf ich Ihnen Victor Himmelreich vorstellen. Er kommt von Professor Schneider aus München zu uns, um seine Studien bei Professor Heisenberg fortzusetzen.«

    Majoranas dunkles Gesicht mit den dicken Lippen, möglicherweise Erbe afrikanischer Vorfahren, verbreitert sich in ein höfliches Lächeln. Er ist größer, als Victor ihn sich vorgestellt hat, entspricht aber sonst genau den Bildern, die er bei seinen Berliner Auftraggebern gesehen hat: Schwarzes Haar, mit Pomade zu einer korrekten Frisur geformt, dunkle, melancholische Augen, eine relativ breite Nase. Sein Deutsch ist holprig und unsicher, er sucht nach jedem Wort, aber man versteht ihn.

    »Guten Tag.«

    »Professor Heisenberg hilft Herrn Majorana ein wenig mit dem Deutschen, und er hat schon viel dazu gelernt während seines Aufenthaltes.«

    Hartmann fühlt sich offenbar zu dieser Entschuldigung genötigt, so, als trüge er selbst die Verantwortung für das schlechte Ausdrucksvermögen seines Gastwissenschaftlers.

    Himmelreich lächelt ebenfalls und reicht dem Sizilianer die Hand. Sein Italienisch, das bis vor ganz kurzer Zeit noch so hölzern geklungen hat wie Majoranas Deutsch, ist durch den Intensivkurs – acht Stunden am Tag, vierzehn Tage lang – flüssig und auf dem aktuellsten Stand italienischer Sprachgewohnheiten.

    »Freut mich ebenso. Und es freut mich besonders, daß ich mein Italienisch etwas üben kann.«

    Über das Gesicht des Gegenübers huscht ein Ausdruck der Freude, schnell wie der Schatten eines Vogels. Als er antwortet, scheint er ein anderer Mensch zu sein. Wie wichtig es ist, sich ausdrücken zu können, denkt Himmelreich. Intelligenz ist wichtig, aber Sprache ist für den ersten Eindruck noch wichtiger. Sie macht den Menschen, gibt ihm Gesicht und Charakter; ohne Sprache ist er nichts.

    »Wo haben Sie so gut Italienisch gelernt? Es ist fast perfekt.«

    Himmelreichs Lächeln ist wie eingemeißelt. Er ist kein Schauspieler, es fällt ihm schwer, eine bestimmte Miene ohne natürliche Veranlassung über längere Zeit beizubehalten. Aber er hat sich gut auf den Moment der ersten Begegnung vorbereitet, und er denkt daran, daß er nicht hier wäre, gäbe es den Italiener nicht.

    »Meine Mutter war Halbitalienerin. Leider starb sie zu früh, deshalb sind meine sprachlichen Fähigkeiten eher begrenzt geblieben. Aber ich war einige Male in ihrem Land, im Urlaub.«

    Die erst Lüge, die ersten zwei sogar, von vielen, die noch kommen werden. Sie geht ihm flüssig von den Lippen, und es bleibt nichts zurück in seinem Mund, kein bitteres Gefühl der Schuld oder auch nur der schale Geschmack von Schäbigkeit.

    Hartmanns Staunen ist nicht zu übersehen. Er betrachtet Himmelreich auf einmal anders, mit mehr Respekt und interessierter, so, wie man im Zoo ein seltenes, schönes Tier begutachtet.

    »Ich wußte nicht, daß Sie des Italienischen mächtig sind.«

    Himmelreichs Lächeln ist nicht weniger nachsichtig als das Majoranas vorher, und nur etwas demütiger.

    »Es gab keinen Grund, das an die große Glocke zu hängen, zumal es auch mit meinem Fachgebiet nichts zu tun hat. Außerdem ist es nicht so gut.«

    »Wie auch immer, es freut mich sehr für unseren italienischen Kollegen. Offen gestanden, außer Professor Heisenberg hat er hier nicht viel Kontakt. Er spricht kaum deutsch, und die meisten der Mitarbeiter scheuen den Ausflug auf ein sprachliches Terrain, das ihnen fremd ist. Ich nehme mich da übrigens nicht aus.«

    Majorana, der der deutsch geführten Unterhaltung mit Interesse und offenkundigem Unverständnis gefolgt ist, blickt Himmelreich auffordernd an. Er blickt nicht Hartmann an, sondern Himmelreich, wie dieser mit Befriedigung registriert. Der andere hat ihn offenbar schon akzeptiert, und nicht nur das, er räumt ihm nach der kurzen Bekanntschaft schon eine Sonderstellung ein: Ansprechpartner, vielleicht Beistand, wenn es mal Verständnisprobleme oder andere Schwierigkeiten gibt.

    Victor Himmelreich, Sohn eines Ladenbesitzers aus Nürnberg, ist mit sich zufrieden.

    5.

    Anfang Juni gibt Heisenberg ein Fest für einige Freunde und Kollegen des Institutes – natürlich ist auch Majorana eingeladen. Heisenberg hat großes Interesse an dem jungen Mann, größeres als an vielen anderen seiner Mitarbeiter. Die zwei spielen abends oft Schach zusammen, und Heisenberg tut sein Bestes, um dem Italiener die deutsche Sprache näher zu bringen.

    Als seine Mutter ihn einmal fragt, wieso er Majorana diese Sonderbehandlung unter all seinen Mitarbeitern angedeihen läßt, antwortet Heisenberg:

    »Weil er Physik denkt. Er arbeitet nicht als Physiker, er lebt Physik, und denkt Physik.«

    »So wie du«, ergänzte seine Mutter, und Heisenberg hatte genickt.

    Es stimmte. Majoranas alleiniges Interesse richtete sich auf sein Fachgebiet, und dafür ist ihm eine Art natürlicher Begabung in die Wiege gelegt worden. Majorana lebt Physik, atmet Physik, bewegt sich in ihr wie in einer fremden Dimension, die nur wenigen Eingeweihten zugänglich ist. Daß seine Karriere dennoch nicht bilderbuchmäßig verläuft wie bei Heisenberg und schließlich wie bei diesem zwangsläufig mit dem Nobelpreis endet, liegt an seiner introvertierten Art und fast manischen Zurückhaltung. Er haßt es, im Mittelpunkt zu stehen, und behält daher seine Gedanken – so gut sie auch sein mögen – für sich, so lange es nur eben geht. Heisenberg ist in diesem Punkt übrigens völlig anders, er will immer überall der Beste sein – egal ob in der Physik, beim Spiel oder Sport – und wenn er es ist, zeigt er es auch.

    Enrico Fermi, Majoranas alter Chef und Doktorvater in Rom, seinerseits einer der begnadetsten Physiker seiner Zeit, hat Ettores Art akzeptiert und entsprechende Rücksicht darauf genommen. Hätte er ihn zwingen sollen, mehr aus sich zu machen? Damit wäre niemandem gedient gewesen, am allerwenigsten Ettore selbst. Also läßt er ihn einfach arbeiten, und wo er kann, macht er die Gedanken seines Zöglings der Öffentlichkeit zugänglich und festigt dessen Ruf als Wissenschaftler von beachtlichem Rang. Und Majorana, der dies wohl bemerkt und zu schätzen weiß, dankt es ihm mit absoluter Loyalität.

    Trotzdem werden die zwei niemals richtige Freunde.

    Sie unterhalten sich oft privat, und wenn sie im Institut alleine sind, messen sie sich manchmal scherzhaft im Wettrechnen: Fermi löst dabei eine komplizierte Gleichung mit Papier und Bleistift, und Majorana rechnet dasselbe im Kopf. Wenn Fermi fertig ist, hat Majorana die Gleichung meistens schon gelöst. Das ist der Unterschied, den Heisenberg meint.

    Der eine erarbeitet es sich und wendet dabei Methoden an, die er gelernt hat.

    Der andere denkt es einfach.

    Die Gesellschaft in Heisenbergs Haus in Leipzig setzt sich aus Freunden und ein wenig lokaler

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