Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Wo sind die Engel geblieben?: Kira
Wo sind die Engel geblieben?: Kira
Wo sind die Engel geblieben?: Kira
eBook263 Seiten3 Stunden

Wo sind die Engel geblieben?: Kira

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Schicksal einer sehr intellegenten und wunderschönen Frau. Der Ehemann wurde von Ihr getrennt. Auf der Suche nach ihm hat sie 8000 km hinter sich gelassen. Unterwegs hatte sie schreckliche und auch gute Erlebnisse. Hilfsbereitschaft fremder Menschen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum12. Aug. 2013
ISBN9783847648826
Wo sind die Engel geblieben?: Kira

Ähnlich wie Wo sind die Engel geblieben?

Ähnliche E-Books

Historienromane für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Wo sind die Engel geblieben?

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Wo sind die Engel geblieben? - O. Trilling

    Vorwort

    Der Bundespräsident unseres Landes Herr J. Gauck hat an die Regierung Russlands appeliert, sie sollte sich wie die Deutschen für die Verbrechen, die die Sowjetunion seinem Volk gegenüber begangen hat, entschuldigen.

    Die Antwort lautete: die Sowjetunion hat in all’ den Jahren ihrer Existens keine Verbrechen gegen wen es auch sei begangen und hat keinen Grund sich vor irgendjemanden zu entschuldigen.

    Ich möchte gerne, dass diese Beamten in die Augen dieser Menschen sehen, von denen in meinem Buch die Rede ist.

    Das sind (vielleicht heute schon „waren") real existierende Personen, dessen Schicksal verstümmelt und ruiniert wurde und sie schuldlos in Verbannung gingen, wo große Massen von ihnen auch ihr Leben gelassen haben

    Einleitung

    Ich hatte meine „Engel" bereits aufgegeben.

    Wozu die Vergangenheit wieder aufrühren?

    Aber die Ereignisse der letzten Tage machten mich nachdenklich...

    Ich hatte die ersten Kapitel meines Manuskripts über die verlorene junge Generation in der Sowjetunion, die ihre Freiheit, ihr Leben ganz am Anfang ihrer Karriere auf so schreckliche Weise hatte abgeben müssen, geschrieben als das unentwirrbare Durcheinander in der ehemaligen UdSSR der dreißiger Jahre noch in aller Erinnerungen war, uns noch immer in Schrecken hielt und es war keine Klarheit in der politischen Strategie, was aus den Ruinen dieses ehemaligen riesigen sozialistischen Lagers entstehen würde.

    Wieder ein Diktatoren Staat mit allen daraus entstehenden Folgen, oder…?

    Und dieses „oder" war so unbestimmt, so ungewiss, wie auch unser ganzes gekentertes Leben.

    Gerade in dieser Zeit hatte ich das Verlangen meine Geschichte darzulegen über diese ungewöhnliche mutige junge Frau, die ich das Glück hatte kennen zu lernen, dessen Schicksal, wie auch das Schicksal vieler Intellektueller in der Sowjetunion von dem grausamen Politsystem gebrochen und verkrüppelt war. Das System, dass von einem Individuum nur Gehorsam und Unterwerfung verlangte.

    Ein Mensch mit einer anderen Meinung wurde sofort als Regimegegner mit allen daraus folgenden Ergebnissen abgestempelt.

    Ich hoffte und freute mich, dass wir endlich diese unberechenbare grausame Periode unseres Lebens überstanden und hinter uns gelassen hatten. Ich dachte, dass endlich die Zeit gekommen ist, wo man ohne Angst seine Meinung laut aussprechen darf.

    Die Zeit der Dialoge zwischen dem Volk und den Machthabenden sei endlich da.

    Deshalb sollte man nun die ehemaligen Ängste und Leiden der schuldlos Verhafteten, Verbannten und für immer Verschollenen vergessen.

    Vergessen… Die ganze schreckliche Vergangenheit vergessen und hinter uns lassen…

    Ich legte mein Manuskript zur Seite und bestattete diese ganze Geschichte, die mich einst sogefesselt und erregt hatte.

    Die Ereignisse der letzten Tage in Russland erweckten meine Erinnerungen...

    Vielleicht wäre es doch besser inne zu halten…? Stehen zu bleiben, um zurück zu blicken…

    Olga Trilling

    November 2012

    Kapitel 1

    Wo sind die Engel geblieben?

    Der Zug eilte von Moskau fort in die Dunkelheit der Nacht. Die Lichter der weit voneinander gelegenen Zwischenstationen loderten unerwartet, wie ein fliegender Komet und beleuchteten für einen Augenblick die Abteile, die Gesichter der Fahrgäste, die friedlich auf ihren Ruheliegen schliefen.

    Kira lag auf dem oberen Platz und hatte ihr Gesicht im Kissen vergraben. Ihr Kummer war untröstlich, aber weinen konnte sie nicht, jetzt nicht mehr. Die Erinnerungen an all’ die Ereignisse der vergangenen Wochen zerrten an ihrem Herzen. Sie wusste jetzt, dass ihre Lage ausweglos war, und wie viele Menschen in ähnlichen Situationen stellte auch sie sich immer wieder die verzweifelte Frage:

    „Warum, aber warum musste das alles mir passieren? Warum mir?"

    Sie fand keine Antwort, hätte sich gerne entspannt, hoffte auf ein Wunder, das ganz plötzlich alles zum Besten ändern würde…

    Unter ihr auf ihrem Bett saß ein vierjähriges Mädelchen, das mit ihrer Großmutter irgendwohin in den Fernen Osten Russlands fuhr. Die Großmutter war sehr zurückhaltend, sah misstrauisch zu Kira hoch und unterband jeden Versuch des aufgeweckten Enkelkindes Kira etwas von sich zu erzählen.

    Die Kleine konnte nicht einschlafen und belästigte ihre Großmutter mit allerlei Fragen.

    „Omilein, Omi, habe ich einen Schutzengel?"

    „Aber, ja doch, alle haben einen Engel und auch du."

    „Und beschützt er mich auch?"

    „Und wie! Er beschützt dich vor jeder Gefahr."

    „Und die anderen Menschen da draußen, haben die auch ihre Engel?" drängte das Kind weiter.

    „Klar doch. Alle, alle haben einen Engel der sie beschützt, tröstete die Großmutter das Kind. „Und wo bleiben die Engel, wenn den Menschen etwas Böses passiert? fragte die Kleine ganz unerwartet nach einer Pause. Wo war Mamis Engel geblieben, als…

    Die Großmutter unterbrach das Kind mit ihrer heiseren Stimme:

    Jetzt ist aber Schluss! Lass diese unnötige Fragerei! Schlaf endlich!

    Kira sah zärtlich hinunter auf das zerzauste Köpfchen der Kleinen…

    In der Tat, wo seid ihr denn geblieben, unsere Schutzengel?!

    Das Abschiedsfest hatte nicht stattgefunden.

    Die Absolventen der Architekten-Universität in Leningrad, die sich während der Vorbereitung zur Diplomarbeit befreundet hatten, waren jetzt in Rims Zimmer zusammengekommen um endlich den Abschluss des Studiums zu feiern.

    Nachdem man ihnen ihre Diplome ausgehändigt hatte, konnten sie sich noch lange nicht beruhigen, nach den Gratulationen und Geleitworten und dem danach folgenden Meeting, wo selbst der legendäre Genosse Kirow ihnen die Botschaft der Sowjetregierung vorgelesen hatte. Es war kaum zu glauben: Genosse Stalin hatte sich in dieser Botschaft an die jungen Architekten gewandt. Er hatte sie eigenhändig unterschrieben! Alle Anwesenden applaudierten einmütig im Stehen, vom Gefühl der Einmaligkeit und der Besonderheit dieser Begebenheit ergriffen- weil selbst der Führer aller Sowjetbürger der Große Stalin von ihnen wusste und an sie gedacht hatte! Er hatte die Hoffnung geäußert, dass die jungen Architekten ihren Beitrag zum Aufbau des Kommunismus, zur Errichtung einer neuen sozialistischen Architektur liefern würden.

    Kira und Rim standen in der zweiten Reihe, unmittelbar vor ihnen waren auf dem Podium die Rednerbühne und dahinter der allen Leningrader unendlich vertraute Genosse Kirow.

    Er applaudierte ebenfalls, hob von Zeit zu Zeit beschwichtigend seine Hände, rief damit aber eine noch größere Begeisterung der jungen Architekten hervor, die immer weiter in ihre bereits angeschwollene Hände klatschten…

    Der Spaßvogel und Artjom Lada, der Liebling aller Studenten stand neben Kira und rief in den dröhnenden Beifall hinein:

    „Klatsche Beifall, lauter klatsche.

    Das hilft dir aus jeder Patsche!"

    Kira musste zuerst lachen, erschrak aber, als ihr die Zweideutigkeit seiner Verse bewusst wurde. Sie sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, ob nicht noch jemand diesen rebellischen Ausruf gehört hatte. Aber die Blicke aller jungen Leute waren auf die Bühne gerich-tet, wo die Stadtregierung mit dem Grossen Kirow an der Spitze stand.

    Kira sah Artjom vorwurfsvoll an. Seine Augen sprühten ein verwegenes, teuflisches Funkeln aus, das von Natur aus außergewöhnliche Menschen kennzeichnet. Er war tatsächlich ein besonderer Mensch, dieser Artjom Lada. Seine Aquarellgemälde sprühten voller Sonne und Licht. Seine vielseitige Begabung als Maler, als Poet, als Architekt erregte Staunen in den Gemütern. Aber eins war Artjom fremd. Ihm fehlte die Vorsicht eines Diplomaten. Er war aufrichtig, ohne Heuchelei und bewegte sich deshalb stets auf Messersschneide mit seiner Schlagfertigkeit, seinen wie Pfeile fliegenden spitzen Witzen und Aphorismen.

    Artjom war beliebt, um Artjom machte man sich Sorgen.

    Und auch jetzt konnte Kira ihrer Unruhe nicht mächtig werden. Artjoms witziger Ausfall war nicht ganz harmlos. Er konnte dafür teuer bezahlen.

    Kira erinnerte sich plötzlich an die Eröffnung noch eines Denkmals, das Genosse Stalin gewidmet war. Die Studenten waren zu dieser Feier „eingeladen. Artjom äußerte sich dazu „wir dürfen doch nicht noch diesen Sonnenaufgang verpassen!

    Der politische Pathos, der mit den Namen der kommunistischen Führer verbunden war, nahm er mit großer Skepsis an und sagte im Vertrauen zu Kira:

    „Das Schlimmste ist das Entstehen des Abgotts in der Politik. Dafür hat die Menschheit noch immer teuer bezahlen müssen."

    Und auf diesen Jüngling warteten nun die frischgebackenen Architekten.

    Er verspätete sich gewöhnlich, aber länger als fünfzehn Minuten ließ er nie auf sich warten. Rims Finger glitten gewandt über die Saiten der Gitarre und lockten eine sanfte Melodie hervor. Schließlich erhob er sich entschieden von seinem Platz und sagte:

    „Ich rufe ihn jetzt an. Ich hätte ja noch Geduld, aber der gedeckte Tisch kann nicht mehr warten."

    Die Freunde, welche sich bisher lebhaft unterhalten hatten, mussten lachen.

    Sie hatten sich verabredet ihren Abschluss in Rims Zimmer der Kommunalwohnung zu feiern. Diese Kommunalwohnung bestand aus sechs Zimmern, die von verschiedenen Familien bewohnt waren. Vor der Revolution gehörte die ganze Wohnung einem Zahnarzt, der hier erfolgreich praktiziert hatte. Später, als der Zahnarzt enteignet wurde, waren hier Angestellte der Sowjetbehörden einquartiert. Auch Rim, der zu dieser Zeit im Hafen von Leningrad Lastträger war, bekam ein Zimmer zugewiesen.

    So lebten (und leben noch heute in den Großstädten der ehemaligen Sowjetunion) ganz verschiedene Familien in solchen überbevölkerten Wohnungen, teilen sich eine Küche, ein Bad (falls es vorhanden ist) und eine Toilette und genießen den neun sozialistischen Realismus.

    Das Telefon war ganz am Ende des langen dunklen Korridors angebracht. An den Wänden hingen Fahrräder, Waschtröge und sonstiger Kram. Kinder spielten hier, Frauen eilten mit ihren Kochtöpfen aus der Küche in ihre Einzelzimmer und hinterließen einen langen Appetit erregenden aromatischen Schleif.

    Rim wählte die Nummer von Artjoms Wohnung, musste lange warten, bis endlich jemand den Hörer abhob.

    „Hallo! Hier ist Rim. Guten Tag. Ich möchte gerne mit Artjom sprechen."

    Ein langes Schweigen folgte am anderen Ende der Leitung.

    „Hallo! Sind Sie noch da? Hallo!" wiederholte Rim.

    „Ja, antwortete endlich eine gepresste Frauenstimme. Artjom wurde heute am frühen Morgen abgeholt. Oh, mein Junge…" Die Frau weinte plötzlich laut.

    „Was heißt „abgeholt? Weshalb? Wohin? stammelte Rim unbewusst. „Warum?"

    „Niemand weiß, warum…"

    „Ich komme sofort zu Ihnen."

    Artjoms Mutter geriet in Erregung:

    „Nein, nein, nur nicht jetzt. Nur nicht heute. Heute in keinem Fall! Vielleicht später einmal. Rufen Sie in zwei - drei Tagen an…"

    Rim stand eine Weile fassungslos da, bevor er sich entsann ins Zimmer zurückzukehren.

    Er konnte nicht begreifen, was er soeben gehört hatte, rieb sich verwirrt die Stirn.

    „Artjom! Weshalb denn Artjom? Was hat das zu bedeuten?" Vor drei Tagen noch rannte auf dem Hof verwirrt eine Frau umher und jammerte laut, dass ein Schauder über den Rücken lief. Sie schrie laut:

    „…nehmt auch mich, auch mich! Auch die Kinder! Nehmt alle! Alle!..."

    Weit öffnete sich die Tür. Kira sah Rim erwartungsvoll an.

    „Also, was ist nun, kommt er endlich?"

    Rim umarmte sie und drückte sie fest an sich:

    „Kira!"

    „Was ist passiert?" fragte Kira erregt. Ihr wa klar, dass sich etwas Schreckliches ereignet hat. Im Zimmer herrschte eine drückende Stille.

    „Kameraden, sagte Rim. „Kameraden, heute am frühen Morgen wurde Artjom verhaftet.

    Ein unterdrücktes Weinen durchbrach die Stille…

    Hinter dem Rücken der Kommilitonen, den Kopf auf den Tisch fallen gelassen, weinte die „Schöne Jelena".

    Vom ersten Semester an war dieses bildhübsche Mädchen mit den großen grünen Augen in Artjom verliebt. Sie war eine bezaubernde Erscheinung. Die Natur hatte es sehr gut mit ihr gemeint. Ihr ganzes Wesen sprühte einen besonderen Scharm aus. Außer ihrer unwiderstehlichen Schönheit, besaß sie dazu noch die Begabung einer Malerin.

    Das Talent der Porträtmalerin zeigte sich bereits im ersten Semester. Sie entwarf eines Tages mit einem Bleistift Kiras Profilbild und brachte damit ihre Kommilitonen ins Staunen. Mit zwei-drei Strichen hatte sie es geschafft die Eigenartigkeit von Kiras Charakterzügen wiederzugeben.

    „Du bist eine Lyrikerin, hatte Artjom damals gesagt. „Es ist entzückend, was du da vollbracht hast. Dieser Fetzen Papier strahlt solche Wärme aus, als wäre Leben in ihm.

    Niemand konnte auch nur ahnen, welche Bedeutung diese Worte für Jelena hatten. Sie fühlte sich ermutigt, beflügelt… Sie war glücklich. Jelena verbrachte seit dieser Zeit jede freie Minute an der Staffelei. Sie entschloss sich eine Gemäldegalerie der Helden der Revolution zu schaffen. Die Niederschlagung der Weißgardistenaufruhr in dieser Stadt der Wiege der Revolution hatte eine Zahl von Kommissaren als Helden hervorgehoben.

    Und diese Helden malte Jelena nun in ihrer Freizeit. Die patriotischen Neigungen der jungen Studentin wurden mit einer Ausstellung ihrer Gemälde in den Räumen der Universität belohnt und diese Ausstellung hatte Erfolg.

    Artjom sah sich die Gemälde ebenfalls an. Schweigend ging er an jeden Porträt vorbei. Vor den Einigen hielt er sich länger auf und je weiter er kam, desto düsterer wurden seine Züge. Jelena folgte ihm auf Schritt und Tritt, sah seine Launenwandlungen und fragte endlich beunruhigt:

    „Was, Artjomuschka? Sag doch was. Was hältst du von meiner Pinselei? Ist es mir gelungen den Mut, die Zielsicherheit auf meine Bilder zu übertragen? Die Gesichter dieser Helden sprühen ein besonderes Licht aus. Es ist unmöglich sie nicht zu bewundern."

    Artjom sah Jelena an, als wollte er prüfen, ob sie es wirklich ernst meinte.

    „Ein besonderes Licht, meinst du? Vielleicht so was, wie ein Funke Gottes?"

    „Was redest du da, Artjom? die Atheistin in ihr war empört. Was für ein Funke Gottes? Ich habe ja keine Apostel gemalt!..."

    „Ach ja, was rede ich denn von Apostel? Es wäre wohl angebrachter von Dämonen zu sprehen…„

    „Ich verstehe nicht, was du meinst, Artjom. Aber warum eigentlich auch nicht?. Der Dämone erhob sich gegen Gott. Er ist ein rebellierender Geist und mir deshalb näher, als die Gebote Gottes - du sollst nicht begehren, du sollst nicht…"

    „töten", fiel Artjom ihr ins Wort.

    „Worüber streitet ihr? unterbrach die Beiden der unbemerkt herangeschlichene Jakow Telegin. „Über Gott?

    „Wohl eher über den Teufel!" sagte Jelena, erhob ihr hübsches Köpfchen und verließ die Beiden.

    „Was hat sie?" fragte Jakow und sah Artjom ins Gesicht.

    „Nichts Besonderes. Sie debattiert nun mal gerne."

    „Dir aber würde ich raten weniger zu philosophieren", belehrte ihn Jakow.

    Er war allgegenwärtig, dieser Jakow. Ganz unerwartet tauchte er gewöhnlich auf, wenn die Diskussion der Studenten ihren Höhepunkt erreicht hatte. Alle nahmen sich vor ihm in Acht. Er wurde heimlich „Ucho (russisch „Ohr) genannt. Jakows Bruder war ein hohes Licht im Sicherheitsdienst. Ucho hatte das nie erwähnt, aber seine Kommilitonen wussten es und waren auf der Hut. Jakow trat in den Versammlungen stets mit großem Pathos auf. Er brandmarkte mit allerlei bourgeoisen Ränken die Jugend, die sich pflegte nach der Mode zu kleiden. Er selbst hatte stets ein schlichtes russisches Hemd mit einem schmalen Gürtel über der Hose an. An den Füssen grobe Arbeitsschuhe. Im Winter hatte er eine Tuchjacke an, welche die Matrosen trugen. Eine besondere Einzelheit seiner Kleidung war eine Schirmmütze, wie sie Lenin getragen hatte. Einen Hut auf dem Kopf eines Mannes betrachtete er als Protest gegen die kommunistische Moral. In Gesprächen mit seinen Kommilitonen unterstrich er stets mit Stolz seine Herkunft aus einer Arbeiterfamilie. Im Studium war er nicht besonders erfolgreich. Die Wissenschaft war ja auch nicht das wichtigste für einen Komsomolzen (Mitglied des kommunistischen Jugendbundes), einem Kämpfer für die kommunistische Zukunft der jungen sozialistischen Heimat, die die Fesseln der Unterdrücker abgeworfen hatte.

    Plötzlich fragte ihn Artjom so ganz nebenbei:

    „Jascha, was hältst du von Ludwig van Beethoven?"

    Entrüstet sah Jakow Artjom an, überlegte kurz und sagte empört:

    „Alles, was aus dem Ausland kommt, mag ich nicht. Ich hasse Helfershelfer und Spießgesellen!"

    „Oh, das tut mir aber leid für dich, bedauerte Artjom, Beethoven war nämlich einer der beliebtesten Komponisten von Genosse Lenin," sprach es und verließ die Halle.

    Am nächsten Tag rief die Nachbarin Rim am frühen Morgen ans Telefon. Er zog sich ganz schnell ein Hemd über, rannte aus seinem Zimmer zum Telefon am anderen Ende des dunklen Korridors.

    „Guten Morgen", Rim erkannte sofort die Stimme von Artjoms Mutter und atmete erleichtert auf.

    „Oh, endlich! Guten Morgen. Gibt es was Neues? Hat man ihn freigelassen?"

    „Ich möchte Dich sehen, sagte Frau Lada. Ich komme um zwölf Uhr zu der Peter und Paul-Festung. Da ist immer viel Volk. Ich werde dort auf Dich warten."

    Beide nannten keine Namen. Alle Telefongespräche wurden von der Staatssicherheit abgehört, das wussten beide. Artjoms Mutter rief Rim deshalb aus einer Telefonzelle an.

    Zu der Vassilyevski-Insel musste Rim mit der Straßenbahn fahren und zweimal umsteigen. Der Juli in Leningrad war in diesem Sommer ausnahmsweise wunderschön. Der Dauerregen, der in dieser Stadt am Meer etwas Selbstverständliches war, hatte der Sonne den Platz überlassen. Und diese schenkte ihre Wärme allem, als wollte sie die ewig nassen Brücken und Strände vor dem vom Regendurchtränkten Herbst gründlich trocknen. Alles in der Natur genoss diese unvorhergesehene Sonne.

    Die Straßenbahn glitt den Nevsky-Prospekt entlang. Das grelle Sonnenlicht blendete Rim. Er beobachtete die Fahrgäste. Dieses hübsche Mädchen, das ihm gegenüber saß, lächelte geheimnisvoll. Was macht sie wohl so glücklich? Und dieser Jüngling, der in ein Buch vertieft war, ist er vielleicht ein Student?

    Ohne jegliche Hast stiegen die Fahrgäste in die Straßenbahn ein und aus. Plötzlich empfand Rim ein unerklärliches Glücksgefühl. Wie schön es doch war in dieser einmalig wunderbaren Stadt mit ihren freundlichen, zuvorkommenden Bewohnern zu leben. Sie haben durch ihren Fleiß und Talent die Pracht der Isaak-Kathedrale, die Erlöserkirche, mit ihren fünf gegen den Himmel strebenden Türmen errichtet. Die erstaunlichen Fresken an den Wänden, die sich so übereinstimmend der Architektur der Kirche anpassen. Diese ergreifende mit der Natur verbundene Farbenskala verleiht dem riesigen Bauwerk eine Leichtigkeit und Eleganz. Luft und Wasser waren die grundsätzliche Basis dieser Projekte der ersten Architekten, die die steinernen Ornamente der Brücken und Bauten schufen.

    Rim erinnerte sich an die Spaziergänge durch Sankt Petersburg gemeinsam mit seinem Vater. Fast jeden Tag wanderten sie durch die Straßen ihrer Heimatstadt. Von Zeit zu Zeit blieben sie schweigend vor den einmaligen Gebäuden oder Tempeln stehen. An manchen Tagen kamen sie bis zur Spitze der Vassilevsky-Insel und bewunderten die Erhabenheit der Rostralsäulen, die aus dem Granit der Kaie hervorragten, als wollten sie den von Wolken verschleierten Himmel stützen.

    Oh, Vater Rim schweifte in Gedanken in seine ferne Kindheit zurück, an die er sich stets mit einer außergewöhnlichen Zärtlichkeit erinnerte. Arkadi Granovsky war ein Mann von Format. Professor an der Universität, ein hervorragenden Linguist, der Liebling aller Studenten. Er hatte einen lyrischen Bariton, sang gerne russische Romanze, spielte Klavier und war ein vortrefflicher Gesprächspartner. Der Revolution war er wohlwollend entgegengetreten, obwohl er für Plechanov schwärmte und die Ideen für die Notwendigkeit der allgemeinen Grundschulbildung für alle Arbeiter und Bauern unterstützte.

    „Nein, mein Bester," sagte er zu seinem Freund Dmitri Raspopov, „man darf keine Revolution entfesseln indem

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1