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Höchste Zeit für Rock 'n' Roll: Vernunft & Emotion im Tanz furios vereinigt
Höchste Zeit für Rock 'n' Roll: Vernunft & Emotion im Tanz furios vereinigt
Höchste Zeit für Rock 'n' Roll: Vernunft & Emotion im Tanz furios vereinigt
eBook515 Seiten6 Stunden

Höchste Zeit für Rock 'n' Roll: Vernunft & Emotion im Tanz furios vereinigt

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Über dieses E-Book

Ein amüsant aufklärender Entwicklungsroman über die seltene Symbiose aus Vernunft und Leidenschaft. Mit wenig Wissen und viel blindem Vertrauen ausgestattet, stolpert Martin Sommer in sein Leben hinein. Das Orakel einer guten Hexe begleitet ihn still und unsichtbar. Die Gene zweier Ahnen sind sein wertvolles Erbe. Der tanzwütigen Großmutter aus dem Montafon und dem geheimnisvollen Großvater mit afrikanisch-italienischen Wurzeln verdankt er viel. Von Armutsangst und blauem Stolz wie wild vorangetrieben, gerät er in den kalten Kreis der Vernunft. Durch Handwerkswelten eilt er. Tief in den Strukturen der Flugzeug-und Autoindustrie, im Reich der reinen Ratio, werden viele seiner Wünsche wahr. Erst auf dem Scheitelpunkt einer Schaffenskrise findet er zurück ins Leben. Ins Leben voller Risiko, voll unwägbarer Launen, ins chaotische mal so, mal so, ins kreative Staunen. Vom Rock ´n´ Roll beschwingt, von klugen Frauen inspiriert, entflammt die Freundschaft zu den Musen. Ratio und Emotion finden Gefallen aneinander. Aus ihrer Symbiose entspringen kreative Kräfte. Die Welt der Technik verliert ihre beherrschende Macht. Die Emotionen arrangieren sich mit den Naturgesetzen. Sie schenken ihm zur richtigen Zeit die treffenden Worte. Die Interaktionsfähigkeit in wildbewegten Wirtschaftswelten. Das Gespür, den Untergang zu überleben. "Du hast einen kühnen Blick", sagt eine Hamburgerin, als er mit siebzig in die Flugzeugindustrie zurückkehrt. So ganz nebenbei entdecken die Protagonisten in den Wirren einer Zeitenwende ein altbewährtes Gesellschaftsmodell. Sie geben ihm den Rufnahmen: "Geniokratie!"
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. Apr. 2017
ISBN9783743913776
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    Buchvorschau

    Höchste Zeit für Rock 'n' Roll - Arist Soller

    Prolog

    Höchste Zeit für Rock ´n´ Roll

    Ja, sie waren jung! Ja, sie waren arm!

    Sie hatten Schwung, sie hatten Charme.

    James Dean war ihr Idol.

    Die Zeit war reif für Rock `n` Roll.

    Blue Jeans und ´Blaue Schuh.´

    Tutti Frutti immerzu.

    Federschritt und Seitwärts-Kick.

    Lernen – Arbeit - Erstes Glück.

    Immer vorwärts. Nie zurück.

    Wirtschaftswunder – Power voll.

    Große Zeit des Rock `n` Roll.

    ***

    Im Berliner Sportpalast hat es fürchterlich gekracht.

    Aus der Traum in einer Nacht.

    Die Elite erschrak vor dem wilden Übermut.

    Diese Jugend. Diese Wut.

    Wozu dieser neue Swing? Wer ist Elvis? Dieser King.

    Parole „R ü c k w ä r t s " tönte es voll.

    Spielverbot für Rock ´n´ Roll.

    Wilde Blumen sah man blüh´n.

    Onkel ´Ho´ kam bis Berlin.

    Wallekleider, Zottelhaar.

    Vision Nirvana, ´Wunderbar´.

    Schnelles Glück und schriller Sound.

    Rock `n` Roll im Underground.

    Viele Blumen blühten nie.

    Falsch verstandene Ideologie.

    Glücksgefühl in Dur und Moll.

    Keine Lust für Rock ´n´ Roll.

    Harte Zeiten, harter Beat.

    Fun und Action nur mit Speed.

    Starre Augen, wie aus Glas.

    Wirtschaftswunder: „Wann war denn das?"

    Liebe ohne Traurigkeit, gab es nicht in dieser Zeit.

    Da und dort ein alter Sound. Junge Bands spielen:

    „Rock around!"

    Fünfzig Jahre Irrlichterei.

    Morgen ist auch das vorbei.

    Depression und alter Plunder.

    Höchste Zeit für Wirtschaftswunder.

    Kluge Frauen sind der Hit.

    Hüftenrollen, Federschritt.

    Im Tanzen schwingt die Seele mit.

    Sie wollen leben. Sie wollen lieben.

    Ohne Angst morgens um sieben.

    Nach Jahren voller Frust und Groll.

    Höchste Zeit für Rock `n` Roll.

    Neue Jugend. Neue Wut.

    „JOHNNY BE GOOD"

    Tanzen ist ein Zauberelixier

    Harmonisch – Hochwirksam

    Auch und gerade für die

    vernunftbeherrschten Menschen unserer

    Zeit

    Die schöne Zeit der neuen Freiheit

    Die Menschen nannten es den „Umsturz." Es war höchste Zeit für das Ende der Tyrannei. Auf den Geist der Freiheit warteten lernbegierige Kinderseelen.

    Die Tyrannei ging mit festem Schritt und Tritt durch das Wassertor, der heran rollenden Freiheit entgegen. Zwei Männer, die selbst keine Tyrannen waren, jedoch dem Gewaltsystem gedient hatten, vollzogen den konkreten und gleichzeitig hochsymbolischen Akt der kampflosen Übergabe.

    Der kleinwüchsige Ortsgruppenleiter als höchste Amtsperson wurde von einem Beamten der Stadtverwaltung eskortiert. Der Beamte im schwarzen Anzug überragte den geknickten Parteibonzen um Haupteslänge. Da fügte es sich gut, dass dieser in einem halbmilitärischen Freizeitanzug mit Knickerbockerhosen und einer Jacke mit aufgesetzten Pattentaschen daherkam. Jeder der Beiden trug eine mächtig große Fahne. Die Fahnenstange schräg über die Schulter gelegt. Eine Fahne signalisierte mit ihrem blendend weißen Tuch die Kapitulation. Die andere Fahne, in den verwaschenen Stadtfarben Grün und Rot, sollte ein freundlicher Willkommensgruß an die Überbringer des Friedens sein. Die Herolde der neuen Zeit wurden zwar ´Besatzer´ genannt. Die Freiheit irritierte das nicht, sie breitete sich aus und neigte sich den Kindern zu, die neugierig fremde Worte, Bilder und Bedingungen aufsogen.

    Das Aufeinandertreffen genau an der Stadtgrenze hatte sich sehr wortkarg vollzogen. Die weiße Fahne sagte eigentlich alles. Der kommandierende Offizier eines französischen Panzerbataillons erkannte mit soldatischem Blick die vorbereiteten Sperrmaßnahmen. Mächtige Kastanienbäume standen beiderseits der Straße, in Kopfhöhe keilförmig ausgesägt, zur Sprengung bereit. Lassen wir den Ortsgruppenleiter, der in dieser Minute sein Amt und seine Gefährlichkeit verlor, noch einen Satz sagen, um die Bedeutung des Augenblicks einigermaßen widerzuspiegeln: „Ich lege das Schicksal der Stadt in Ihre Hand. Darauf wird der Offizier knapp erwidert haben: „Sie sind Bürgermeister Muller? „Mitkommen! „Allez vite! Die Beiden wussten voneinander. Bei einem Telefongespräch kurz zuvor war der kategorische Befehl an den Bürgermeister von Disfeld übermittelt worden: „Übergeben Sie die Stadt kampflos! „Wenn das verweigert wird, kommen die Häuser unter Granatbeschuss! „Compri!" Im Herrenhofener Rathaus fanden die eindringenden Soldaten ein betriebsfähiges Telefon. So kam es, dass die Freiheit einen Tag früher als im Regimentsbefehl vorgesehen, am Sonntag, den 29. April 1945 nachmittags um halb sechs, auf Panzerketten rasselnd vorwärts bewegt, in die ehemals freie Reichsstadt zurückkehrte.

    Zwei Fragen stellen sich fordernd dem weiteren Erzählfluss entgegen. War die Tyrannei ganz und gar grenzenlos? War die Freiheit völlig aus dem Denken und Handeln der Menschen verschwunden? Oberflächlich gesehen können beide Fragen mit „Nein" beantwortet werden. Das erlebte Leben ergibt jedoch scharfgeschnittene, differenzierte Wahrheiten. Die Tyrannei des Alltags zeigte sich natürlich nicht überall Zähne fletschend und Knute schwingend.

    Es existierten eng nebeneinander drei Varianten. Eine harmlos verbale. Eine papierraschelnd gefährliche. Eine gewehrschussknallend tödliche. Drei Erlebnisszenen sollen dies deutlich machen.

    Im Jahr 1935 betrat ein Allgäuer Weible das Milchgeschäft in der Obertorstraße. Vom Alter gebeugt, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, tapste sie auf den Ladentisch zu. „Grüß Gott, sagte sie hochtönend und fast etwas zu laut. „I hätt gern a achtele Käs. Eine Schrecksekunde Stille. Der Ladeninhaber hub an mit strafender Stimme, den Ton der neuen Zeit anzuschlagen. „Erstens sagt ma nimme Grüß Gott, sondern Heil Hitler! „Zweitens hoißt des jetzt hundertfünfundzwanzig Gramm und net a achtele. „Isch des Klar! Das Weiblein blickte schräg von unten nach oben und meinte leicht giftig: „Aber Käs derf man no saga? So viel Widerspruchsgeist wurde gerade noch hingenommen.

    Das papierraschelnd gefährliche Ereignis kann so berichtet werden. Im Juli 1933 wurde der bisherige, langjährige Bürgermeister von Disfeld beurlaubt und von seinem Amt suspendiert. So die überlieferte, harmlos klingende Beschreibung. In Wirklichkeit wurde er mit Schimpf und Schande hochkantig hinausgeworfen. Innerhalb einer Stunde musste sein Platz geräumt werden. Keine Gehaltszahlungen von diesem Tage an. Nun stand er ohne Einkommen da. Die fünfköpfige Familie war gezwungen, das erst vor kurzem bezogene neue Haus zu verlassen. Dazu genügte der Vorwurf, er habe nicht mit voller Begeisterung die neue Bewegung gefördert. Aus ihm wurde in den Folgejahren ein eifriger Parteigänger, getrieben von der Furcht um das Wohlergehen seiner Kinder.

    Die hässliche Fratze der Tyrannei zeigte sich im April 1945 auf einem Bauernhof in der Nähe von Disfeld. Mehrere junge Soldaten hatten in einem wild zusammengewürfelten Haufen den Anschluss an ihre zurückflutenden Einheiten verloren. Ausgezehrt, hungrig, durstig und steinmüde von den nächtlichen Gewaltmärschen, fanden sie Zuflucht in einem Bauernhaus. Dem scheußlichen Aprilwetter, dem Schrecken der lauernden Todesgefahr für ein paar Stunden entronnen. So wärmten sie sich am Kachelofen in der Bauernstube. Eine SS-Streife platzte in die friedliche Vormittagsstunde. Bis auf einen bubenhaft jungen Soldaten rappelten sich alle anderen auf. Ordneten Koppel und Gepäck, machten Meldung in gespannt unterwürfiger Haltung. Ein Gehorsamsverweigerer blieb liegen. Bleischwere Müdigkeit hielt ihn am Boden. Der Bauernsohn, dessen Heimathof nur wenige Kilometer entfernt lag, war so erschöpft und in Gedanken schon bei seiner Mutter. Er reagierte nicht auf die bellenden Befehle. Er lächelte stattdessen. Wie wenn er in einer anderen Welt wäre. Ein Schuss. Ein Knall. Ein dumpfer Fall. Stunden später musste die Haustochter das Blut von der Wand waschen. Noch Jahre später hatte der Altbauer, der dies verzweifelt mit ansah, seine Sprache verloren.

    Die Freiheit des Denkens und verdeckten Handelns hatte sich unter dem Druck dieser Gefahren in die innere Emigration zurückgezogen. Sechshundert Jahre reichsstädtische Gesinnung und generationslang gepflegter Realitätssinn waren immer noch im Tarngewand knapper, mimischer-verbaler Ausdrucksformen vorhanden. Wären die Tyrannen und deren Helfershelfer kluge, gebildete Menschen gewesen, so hätten sie den Widerspruchsgeist bemerkt. Doch die Bildung wurde durch Brutalität ersetzt. Die systemische Durchtriebenheit kam im Tarngewand listiger Lügen daher. So kämpfte die Tyrannei angestrengt ihrem Untergang entgegen.

    Die regionalen Verweigerungsmerkmale klangen dialektgefärbt harmlos: „Ah so. „So, so. „Ö´ha! Kürzer ließ sich ein philosophisch fundiertes Widerstandprogramm nicht ausdrücken. „Ö´ha! Mit diesem Ausruf wurde zur damaligen Zeit jedes Pferdefuhrwerk zum Stehen gebracht. Gleichzeitig konnten sich dahinter Gedanken verbergen. Lautlos, leidenschaftlich Widerwillen auslösend. Aus kreativer Sturheit entstanden so unsichtbare Lösungswege. Die Freiheit freute sich über die günstigen Entwicklungsbedingungen. An der Spitze einer Panzerkolonne strebte sie dem Rathaus zu. Versteckt und verkleidet in den dünnen Blättern eines nun vorläufig gültigen französischen Militär Reglements. Der Freiheitsgeist war an einen seiner frühen Ursprungsorte zurückgekehrt.

    Die ersten und zunächst einzigen Menschen, welche dem Geist spontan einen würdigen Empfang bereiteten, waren Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Sowie weitere Frauen und Männer, die halbfreiwillig in die Fänge der Wehrwirtschaft geraten waren. Sie lachten, weinten, jubelten, schluchzten, tanzten und winkten an den Rändern der Einmarschstraße. Es mögen um die fünfhundert Menschen aus vierzehn Nationen gewesen sein. In Gruppen, die sich provisorisch mit den Farben ihrer Heimatfahnen schmückten. Schon in den ersten Tagen danach organisierten sie sich in Nationalkomitees. Es wurden Präsidien gewählt, diskutiert, deklamiert, kommuniziert und Lebenszeichen in die fernen Heimatländer gesandt. Für die einheimische Bevölkerung vollzog sich die Ausbreitung der Freiheit in anderen Formen und Fristen. Zunächst wurde geschafft, gemacht, getan was eben tagesaktuell sein musste. Die Kinder, die heranwachsende Zukunft, sie erdachten sich eigene, manchmal weit ausgreifende Weltbilder. Die noch junge, neue Freiheit, wenn wir sie uns als handelndes Wesen vorstellen, hätte die folgende Szene mit Freude genossen.

    Sechs siebenjährige Buben standen nach dem Ende des Unterrichts im Sonnenschein auf der Südseite der Kanzleistraße. Sie stritten sich wortgewaltig um die Frage: „Wie man sich das Ende der Welt vorzustellen habe? Mehrere Erklärungsversuche wurden verworfen. Die Argumente sanken auf die Ebene von Beleidigungen herab. „Depp! „Volldepp! „Granaten Depp! An diesem gefährlichen Punkt fasste einer aus der Schar allen Mut zusammen und verschaffte sich Gehör. Er erklärte seine Weltmeinung so: Wer das Ende der Welt sehen möchte, der müsse weit gehen. Ganz weit. Viel weiter als nach Maienhausen. Nach vielen Tagen würde er an eine Mauer kommen, die unüberwindbar hoch sei. Hinter der Mauer drohe ein tiefer Wassergraben. Danach türmten sich Dornenhecken auf. Nach den Dornenhecken blicke man in einen gähnenden Abgrund, der unendlich tief sei. Vielleicht sogar Unendlich mal Unendlich tief, ergänzte ein anderer pfiffiger Mitschüler. Damit waren alle einverstanden und trollten sich in verschiedene Richtungen nach Hause.

    Die Behauptung, so grottenfalsch sie auch klang, die Freiheit hätte dies mit Wohlwollen registriert. (Das wird schon noch, das lässt sich korrigieren.) So geschah es in den Folgejahren. Die Stadt konnte für alle, die sich neugierig und wissensdurstig in ihr bewegten, als universelle Bildungsinstitution erlebt werden. Weit über die Schulen hinaus. Die immer noch lebendige Reichsstadtgesinnung verband sich mit dem weltoffenen Geist der neuen Zeit. Eine zukunftsfrohe Symbiose wuchs unsichtbar heran.

    Den Kindern wurde das Geschenk der Mehrsprachigkeit mitgegeben. Stadtschwäbisch, Umland Allgäuerisch, die verschiedenen Dialekte der Flüchtlingsfamilien, französische Sachbegriffe aus der napoleonischen Zeit, auch rätoromanische Wortbrocken galt es zu unterscheiden und in die Schriftsprache umzudeuten. Den Erwachsenen wurde listig zugehört. Deren berufliches Tun, das sich vielfach auf Straßen und Plätzen zeigte, wurde ernsthaft beobachtet. Aus all dem entwickelte sich eine stadttypische Redegewandtheit, die zur Wahrung kindlicher Freiheitszonen nützlich sein konnte.

    Begleiten wir einen elfjährigen Buben bei einem außerschulischen Lernnachmittag. Angetrieben von dem Ziel, eine vor wenigen Tagen entdeckte Astgabel von einem Haselnussbusch im ´Schächele´ abzuschneiden. Daraus wollte er eine Steinschleuder basteln. Die lästigen Hausaufgaben wurden auf den Abend verschoben. Mit einem: „I gang amol schnell auf´d Gass na zu meine Freind", ließ er die Mutter zurück. Vorsichtig bedachte er alle Gefahren, die auf der Straße lauern konnten. Einige Antworten auf Überraschungsfragen führte er wie Pfeile im Köcher mit sich. Auf den Straßen wuselte es geradezu vor Risikosituationen und Verlockungen. Welche Wege sollte er einschlagen? Am Waffengeschäft ´Heinzelmann´ vorbei? Dort lag schon einige Wochen lang im Schaufenster das Objekt seiner Begierde. Die Vorlage für Bubenpläne. Die Steinschleuder mit Daumenschutz. Der Weg konnte mit einem Besuch beim ´Bücherwurm am Blaserturm´ verbunden werden. Folgerichtig wäre dann ein Blick in die Auslagen vom Spielwarengeschäft ´Binder´. Nein, er entschied sich für den Schleichweg Trinkstubengasse, Göckelmannweg. Das Risiko, auf der Hauptstraße einer Tante, einem Lehrer oder gar einem der zwei Ortspfarrer zu begegnen, erschien ihm zu groß. Die Fragen nach dem Woher, dem Wohin, dem Stand der Hausaufgaben, hätte mit der vorformulierten Lügengeschichte vom ´Besuch beim Großvater´, beantwortet werden müssen. Dabei galt es wieder zu bedenken, dass die Glaubwürdigkeit mit der Häufigkeit der Anwendung rapide abnahm. Außerdem musste eine Lüge irgendwann, eigentlich schnellstmöglich gebeichtet werden. Durfte er im Stand der Sünde überhaupt seinen Dienst als Ministrant verrichten? Welche Strafen hielt der Himmel für solche Untaten bereit?

    Sekunden, nur wenige Sekunden dauerten diese Gedankenverbindungen. Gleichzeitig und darüber hinaus musste das geschäftige Treiben der Erwachsenen registriert werden. Da hörte er, wie zwei Schlosserlehrlinge lautstark von ihrem Meister zusammenstaucht wurden. Ein Elektriker kreuzte die Straße, seinen Gesellen im Gefolge, der eine Riesenleiter zu schleppen hatte. Lebensmittel Verkäuferinnen ordneten Bratheringe in einem Fass, das am Ladeneingang stand. Bekleidet mit einem Kamelhaarmantel schritt würdevoll ein Fabrikant daher. Es hieß, er heiße Arist. So hatte es der Junge aus einem Gespräch aufgeschnappt. Am Göckelmannweg lenkten silbern glänzende Metallspäne und geheimnisvolle Aluminiumteile seine Blicke in eine Abfalltonne.

    Mit flinken Schritten wurde das ´Schächele´ erreicht. Neue Risiken lauerten hinter Bäumen und Büschen. Das war der Machtbereich der Vorstadt Bande. Eine Bubenschaar, zu der er keine diplomatischen Beziehungen pflegte. Kein einziger der Vorstadtwächter war zu sehen. Die begehrte Astgabel wurde abgeschnitten. Schnell verschwand sie in der tiefen Tasche seiner Lederhose. Für den Fall der Fälle, dem überraschenden Zusammentreffen mit den Vorstadt Machthabern, würde er sich in einen frommen Pilger verwandeln. (Ich besuche das Grab meiner Großmutter auf dem Sankt Josefs Friedhof.) Mit diesem Zauberspruch ließen sich die Vorstadt Buben beeindrucken. Sie waren trotz aller Wildheit, sehr gläubig und respektierten den Friedhofsfrieden.

    Lassen wir den kleinen Gernegroß auf seinem Weg nach Hause, beim ´Bücherwurm am Blaserturm´ vorbeischauen. Das war die Quelle östlicher Weisheit und globaler Einzelkenntnisse. Aus den Abenteuergeschichten, die dort für dreißig Pfennige pro Heft angeboten wurden, wusste er schon: ´Wo´ und ´Was´ die Sunda Straße sei. Er konnte auch erklären, dass der ´Caprivi Zipfel´ nichts zum Lachen ist, sondern aus diesem und jenem Grund, so genannt wurde.

    Das war sie also, die Schule des Lebens. Ergänzt und verstärkt durch den Sportgeist, die Spielfreude, die Musik und den Tanz. Das waren die Bänder, die Stadt und Umland einander näherbrachten. Ja, die Stadtluft trug dazu bei, frei und frohgemut in der Erwachsenenwelt seinen Platz zu finden. Ja, das Landleben gehörte untrennbar dazu. Die Werte und das Wissen der Landbewohner erschlossen sich nicht unmittelbar. Viele Jahre später würde die Quintessenz dieser Werte, `Soziale Intelligenz` genannt werden. Im Lernprogramm der Stadtkinder waren so weiche Faktoren wie ´Sinnen´, ´Ahnen´ und gefühlvolles Planen, nicht vorgesehen.

    Eine Freundschaftsszene aus fernen Jugendtagen soll dies deutlich machen. Sein Name war Maximilian. Aufgewachsen unter Bauern, Bauhandwerkern und ausgebildet in einem groben Schlosserberuf. Es war nicht zu erklären, wo und wie er die Sensibilität verinnerlicht hatte, die ihn im Umgang mit seiner Freundin auszeichnete. So viele detaillierte Vorbereitungen, so viele Möglichkeiten einer Stimmungsbeeinflussung, die vor jedem Rendezvous bedachte sein wollten. So viel erschien Martin als viel zu viel und damit unverständlich. Nach einer fröhlichen Freundschaftsrunde in der Weinstube ´Vespermann´ raunte Maximilian vertraulich: „Deine neue Freundin, die mit den schönen dunklen Augen, braucht eine gute Pflege. „Merk Dir das. Sein gut gemeinter Rat löste sich im kühlen Nebelreich der Ratio auf. Erst gefühlte hundert Jahre danach reifte die Einsicht: (Ja, er hatte recht.)

    Höchste Zeit für Rock ´n´ Roll I

    Es war höchste Zeit für Rock ´n´ Roll, als Martin Sommer in sein junges Leben hineinstolperte. Tausendmal hätte er stürzen, zusammenbrechen, liegen bleiben können. Es muss der früh gelernte Federschritt gewesen sein, der ihn leichtfüßig weiterbrachte. Nur Rock ´n´ Roll und kesse Sprüche. Mehr als eine Liebe geht in die Brüche.

    Hey! Putz Dir die Zähne. Es könnte sein, dass wir heute noch geküsst werden. So orakelte Richard, der erfahrene Vetter, den Kopf schnell zur halbgeöffneten Türe hereinstreckend. Martin zog die Schultern hoch. Er kämmte weiter cool an seiner tollen Tolle. Es war am 1. März 1957. So warf er sich in Schale, für die erste Ballnacht seines Lebens.

    Spitze Slipper. Black-Jeans, die von grellgelben Messingnieten zusammengehalten wurden. Das Reiterhemd mit asymmetrischem Reißverschluss. Darauf setzte er große Hoffnungen. Gelber Grundton mit schwarzen Gitterkaros. Den Kragen drapierte er halb hochgestellt. James Dean als Vorbild, cool kopierend. Die Frisur war noch ein Problem. Welcher Stil war erfolgversprechender: Römischer Tituskopf? Klebrige Bill Haley Locke? Oder die Napoleon Komponente? Aus dem Spiegel grüßte bald eine aufgemotzte ´Titus, Napoleon, Bill Haley´ Haarkomposition. Martin fühlte sich topfit. Der Faschingsball im Alten Kursaal pulsierte schon dem ersten Siedepunkt entgegen, als er lässig auf seinen ´Blue Suede Shoes´ ins Gedränge slippte. Richard, der etwas ältere Vetter als Moral-Wächter, und die scharfen Mahnungen seiner Tante, sollten den Weg ins Ungewisse sichern.

    Wer würde ihn, wie, wo, wann und warum küssen? Diese Schicksalsfragen zirkulierten in seinem noch unbelasteten Kopf. Blütenweiße Protokollblätter warteten auf die ersten Eintragungen. Was würde das Leben darin notieren? Irgendwo in der Nebelzone zwischen heißem Herz und kühlem Verstand versuchte er, seine Chancen zu checken. ´Nahe Null´. Mit dieser Bewertung hinter seiner Stirn, steuerte Martin unschlüssig und merklich unsicherer geworden wieder dem Saalausgang zu. Rückzug, Übersicht und die Suche nach dem unbekannten Irgendwie trieben ihn um. Versteckt unter einer Treppe stehend, erhaschte er einige flapsige Frauenstimmen. (Die meinen mich.) Das war für ihn leicht herauszuhören. Ein selten hübscher Kerl ist aus dem Martin geworden. Zisch! Die Meinung der netten Nachbarinnen schlug scharf bei ihm ein. Der extrastarke Zauberspruch behielt jahrelang seine schützende Wirkung. Dabei wurde der Satz ohne besondere Betonung, eigentlich beiläufig so dahergeredet. Unerkannt drehte sich Martin um und huschte hochgestimmt in den Saal zurück. „Trotzdem, Deine Chancen sind weiterhin nahe Null", flüsterte sein besseres Ich. So sahen es auch seine frech aufgeblendeten Augen. Ines und Gloria, zwei junge Schönheiten, die über das alte Parkett hüpften, kamen überhaupt nicht in Frage. Für Martin waren das Edeldamen, die aus dem Einflussbereich der fürstlichen Familie kamen. Viel zu schön, viel zu fein für ihn. Die anderen Dorfschönheiten erschienen ihm wiederum nicht schön genug, oder sie waren schon in festen Händen. War das ein Problem für ihn? Nein, wirklich nicht. James Dean wirkte als Film Idol weiter. Einsam, unbeweibt, mit seinem verschlossenen Gesicht alles aussagend. Martin streifte durch den quirlenden Faschingstrubel. Er hatte Zeit. Viel Zeit. Er fühlte sich nur jung; und sonst gar nichts. Eine Frau zum Tanzen auffordern, dazu fehlte ihm der Mut. Sein toller Haarschwung und der steile Hemdkragen bewirkten da wenig. Tanzen, das war im Lehrplan seines Lebens noch nicht angesagt. Tanzen, das konnte er nur in alten deutschen Filmen bestaunen. So galant wie Willi Birgel oder Willi Fritsch ihre Damen zum Walzer baten, das hielt er für unerreichbar. Wildwesthelden, die immer mal wieder in seinem Kopf herumritten, konnten ihm dabei nicht weiterhelfen.

    Musik im Gemüt und ein unruhiges Wippen in den Beinen, das spürte er schon seit einem Jahr. Doch wie das alles in harmonische Schritte umsetzen? Eine Dame sicher führen und dabei leicht unterhaltend plaudern? Das war zu viel für ihn. Das war die unsichtbare Kette, die ihn fesselte. Die Musikkapelle swingte Boogie - Woogie. Martin zerrte zwischen Swing und Trau mich nicht, hin und her. Wie ein angebundener Hund vor dem lockenden Metzgerladen. Mit wem, wenn überhaupt sollte er tanzen? Nicht ganz sechzehn Jahre alt. Strenggenommen hatte er auf diesem Ball nichts zu suchen. Die wenigen nicht tanzenden Frauen waren deutlich erkennbar, trennende Jahre älter.

    Halb von Martin abgewandt, an einem runden Nebentisch, saß eine Frau. Rothaarig, solo, sinnlich. Das war klar, obwohl er ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Ihre Haare trug sie mädchenhaft locker. Ähnlich wie Gloria, die Edelste aller Dorfschönen. Warum saß die Rote nun schon eine lange, halbe Stunde so allein? Eine Fremde wird sie sein, mutmaßte er. Zu fein und zu allein in dieser festgefügten Dorfgemeinschaft. Martin riss noch heftiger an seiner Kette. Ein Trompetensolo eröffnete den nächsten Tanz: Laaaaaaaaa Laaaaaaaaaa!LaaaaaaaaaLaaaaaaaa!"

    TaaaaaaTaaaaaaToooooooOoooooooo! Der Gummi Mambo, so nannten seine Freunde den Titel, obwohl er einen viel längeren unaussprechlichen Namen hatte. Die sich langsam, aufreizend steigernden Akkorde gingen summend von seinen Lippen. Doch keiner konnte das so gut wie der Große Meissner. `Peter` pfiff den Gummi Mambo lang und laut auf einem Baum sitzend, jeden Abend vor Glorias Fenster. Die Schlossbergbande lauerte derweil im Gebüsch und freute sich diebisch, wenn eine schemenhafte Mädchenfigur zu sehen war. Kurzum, den Gummi Mambo kannte jeder unter der aufgeklärten, pfiffigen Dorfjugend.

    Die unsichtbare Kette konnte Martin nicht mehr zurückhalten. Darf ich Sie um diesen Tanz bitten? Seine Stimme reimte den Satz nach einer Filmszene. So versuchte er es nachzuspielen. Die unbekannte Schöne wandte ihr Gesicht zu der stimmbrüchigen Stimme und lächelte. Martin mimte den lässigen Tiger, um die einsame Dame zur Tanzfläche zu führen. ´Voll daneben, das ist voll daneben´, ängstigte er sich. ´Da hilft nur stocksteife Haltung vor stolpern und stammeln.´ Solche Gedanken schossen in seinem Kopf herum. Mit leicht zitternden Beinen und einem zum Sprung gespannten Rücken, erreichte er unsicher das wogende Menschengewühl. Oder wurde er etwa am Arm geführt? Erinnerungsnebel werden für alle Zeiten die peinliche Frage einhüllen. (Wie soll ich den Tanz angehen?) Die Frage konnte theoretisch nie beantwortet werden. In seinem Rhythmuszentrum swingte, wippte, wirbelte es. Die tollen Mambo Takte wollten zu Bewegungen geformt werden. Doch seine Arme und Beine schlackerten steif wie eine Pinoccio Figur. Er klammerte sich notgedrungen an seine Tanzpartnerin. Nachsichtig lächelnd löste sie sich von ihm. Schau her, ich zeig´s Dir, schnurrte ihre Stimme. Sie blieb locker vor Martin stehen. Ihre freundlich strahlenden Augen lösten seine tigerhafte Abwehrspannung auf. Sie schnippte rhythmisch mit den Fingern, einfach so. Minutenlang. Das konnte Martin leicht nachmachen. Beidhändig ergänzte er ihr Spiel: ´Schnippe-di-Schnapp.´ Schon kickten seine Fersen: ´Klicke-diKlack´, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Ihre etwas füllige Figur, die von einem giftgrünen Schlauchkleid vorteilhaft umhüllt wurde, gab den Mambo Rhythmen mehr und mehr swingende Formen. Martins wildkatzenhafte Vorsicht war husch, weggezaubert. Er blickte ihr dankbar lachend ins Gesicht. Die beiden Augenpaare trafen sich ohne hastige Neugier. Ja, sie war älter als er. Dreißig Jahre oder etwas weniger? Reife Züge, aus denen ein hintergründig lustiger Ausdruck strahlte. Mit Lachfalten, die burschikose Lebensfreude versprachen. Er versuchte an der Formenfülle so kühl vorbeizuschauen, wie es ihm seine Erzieher eingeimpft hatten. Ein zufällig aufkreuzender Fotoreporter blitzte in die Szene hinein. Jahrelang war das Bild eine Quelle der Heiterkeit. Pokerface und Spitzbubenunschuldsmiene beim Anblick verbotener Schätze, so nannte es ein unbekannter Spaßvogel. ´A b s t u r z --- A b s t u r z --- A b s t u r z´, funkten Martins Gewissenbisse. Obwohl er sich so gut wie nie zuvor fühlte. Da war alles dran. Da war alles drin. Alles, was bisher noch nie so greifbar nahe vor seinen Augen wogte.

    Phantasiebilder und Gedankenquälgeister flatterten einander umkreisend in seinem Kopf herum. Wie lange würde das gutgehen, was gerade so gut ging? Die Musik spielte mit steigender Lautstärke den einfachen, unbelasteten Gefühlen den Platz frei. M a m b o --- M a m b o --- M a m b o - C a b a l l j e r o, i n R i o --- R i o --- R i o d e J a n i e r o o o o o o o! Seine Beine hatten den federnden Kick gefunden. Leichtfüßig und lachend schüttelte er die Fesseln verwirrender Vorschriften ab. Sein lauernd zurückzuckendes Wesen verwandelte sich in zunickendes Vertrauen. Das Idol James Dean floh aus Martin hinaus und verzog sich schreckhaft vor den wogenden Reizen der Mambo Tänzerin. Musik und schnelle Schritte, das fühlte Martin in diesen langen Minuten, war eine Sprache, mit der er seine sonstige Sprachlosigkeit überwinden konnte. Die ´Mambo-Meisterin´, vom langen, stummen Sitzen am einsamen Tisch befreit, versprühte Leuchtspuren der Lebenslust aus ihren Augen. Ich heiße Edith, und wie ist Dein Name? Eine etwas peinliche Pause wurde so beendet. Martin, mein Name ist Martin, stotterte er leicht verlegen. Oh, verrate mir mehr über diesen hier so seltenen Namen, flötete es an seine roten Ohren. ´Aha.´ ´Sie spricht kristallreines Hochdeutsch.´ ´Wahrscheinlich arbeitet sie als Erzieherin in dem schlossartigen Kindererholungsheim.´ Ja, dieses Schloss hatte schon viele Geheimnisse und Menschenschicksale in seinen Mauern gesehen. Jetzt war es für die männliche Dorfjugend ein lockender Hort der verbotenen Abendteuer. Filmszenen sausten über Martins Vorstellungsleinwand. Wie hätte Stuart Granger die Situation umspielt? Klar, der steuerte mit seinen Damen immer zielgerichtet zur Bar. Kurz darauf standen Edith und ihr junger Begleiter als auffällig ungleiches Paar an der schummrig beleuchteten Theke. Sie und Er, je einen Curacao in der Hand. Das süßliche Zeug steigerte den südamerikanischen Gluthauch, der die Szene umwehte. Martin konnte sich selber beobachten. Sein zweites Ich schwebte über seinem Kopf. Wie ein grinsender Lampion.

    Das Schicksal führte Regie. Aber wie? Das lockere Gespräch plätscherte aus. Eine Atempause umhüllte die beiden. Jetzt empfanden sie die langsam und still tropfende Zeit als angenehm. Sie standen aneinandergeschmiegt, ohne sich zu berühren. L a n g s a m, l a n g s a m, noch l a n g s a m e r. Stumm bewegten sich ihre Gesichter aufeinander zu. Die Lippen berührten sich noch nicht. Ein Blatt hätte leise hindurch taumeln können. Die Zeit dehnte sich wohlig. Der Verstand hatte Sendepause. Der erste K u ß ! ´Uuiihhhh.´ So schmeckten sie. Die Früchte aus dem Garten Eden. So musste ein Wüstenwanderer auf eine lebensrettende Quelle hinstürzen. So kobolzte es in seinem Kopf herum, während die Zungen gierig schleckend miteinander spielten. ´Noch nie erlebt und sofort gekonnt´. Ein unvergesslich heller Gefühlsblitz stieg auf und begleitete Martin von diesem Augenblick an. Wo schwebten die Beiden? War da etwa ein Schützenball um sie herum? Raum und Zeit verloren jede Bedeutung. Sie hielten sich nicht umschlungen und waren doch zu einem Traumflug verbunden. Das plakatgroße Rücken Dekolletee zog seine linke Hand magnetisch an. Gerade, als er sie sanft darauflegen wollte, schlug eine Faust krachend auf die Bar Theke. Klirrende Gläser kicherten boshaft: (Wir haben Dich, wir haben Dich.) (Schäme Dich, schäme Dich), glaubte Martin zu hören. Erschrocken zuckte seine Hand zurück. Der Tiger in ihm, der viele Jahre später, immer wieder fauchend zurückschlagen sollte, er war böse gereizt. Die Barfrau, eine matronenhafte Gestalt, funkelte mit zornroten Augen in das unschuldig lächelnde Gesicht von Edith. Martin fiel sekundenschnell in die James Dean Pose zurück. Die Paradieswächterin streifte ihn nur kurz mit ihrem Flammenblick. Sie, gerade Sie, sollten sich schämen, den guten Jungen so auf ihr Niveau herabzuziehen, schleuderte die Sittenwächterin Edith ins Gesicht. Augenrollend, puterrot empört die Luft ausstoßend. Zunächst sprachlos, schüttelten die ertappten Sünder unwillig ihre Köpfe. Sekundenlang schwankte das Paar zwischen lachen, weinen, erschrecken oder sich verstecken. Fragen, Zweifel, Irrlichtgedanken rüttelten an der Beziehungskiste. Martin wollte gerade einen trotzigen, rhetorischen Gegenangriff starten. Da löste sich aus dem Mund von Edith ein girrendes, glucksendes, explosives Lachen. Martins Stimmung kippte hintüber. Krähend stimmte er in das Gelächter mit ein. Die Schultern zuckten. Die Oberkörper bogen sich prustend vor und zurück. Jeder Blick in die Glubschaugen der unbarmherzigen Barfrau fachte die irrwitzige Heiterkeit von neuem an. Das ist zum in die Hose pinkeln peinlich, flirrte es aus Ediths schönem Mund. Das Lachen überdeckte minutenlang die gerade zerstörte, frische Freude, die erste Lust, den schnellen Frust. Ahnungsvoll, die Atempause ausfüllend, blickte Martin um sich. Er meinte, die forschenden Augen seiner Tante im Menschengwühl entdeckt zu haben. Edith nützte die letzten Glücksmomente für ihren bedeutungsschweren Orakelspruch: „Aus Dir, dabei senkte sie ihre Stimme gefährlich tief, „aus Dir wird noch einer zum Küssen und Lieben. „Entdecke Deine Talente, lerne alle Tricks, zeige davon nix, bis zum Tag X. „Erdulde die Wüstenwanderung, den niedrigen Lohn, die jahrelange Fron. „Du wirst lange und glücklich leben. „Vergiss mich nie!

    Nun ist es aber genug! Schwertscharf fuhr die befehlsgewohnte Stimme von Martins Lieblingstante zwischen das jäh verstummende Paar. Aus dem quirlenden Trubel, schwierig zu finden im schummrigen Licht, hatte sie ihren Neffen entdeckt, gegriffen und gerettet. Unbeholfen mit den Achseln zuckend, trat Martin den erzwungenen Rückzug an. Das war der Marschbefehl nach Hause. Das schnelle Ende vom Vorfrühlingsglück. Edith verlor er aus den Augen. Für immer. Mit hochgezogenen Augenbrauen wurde ihm später zugetragen, was das für ´Eine´ war. Ihm wurde attestiert, welch ein verwegener Kerl in ihm stecke, dass er an einer großen Gefahr vorbeigesegelt sei. Ein uneheliches Kind habe sie; und überhaupt sei ´Die´, eine der schlimmsten aus dem Kinderheim. Martin hörte sich das mit unbewegter Miene an, ignorierte die hasstriefenden Übertreibungen und bewahrte eine schöne Erinnerung in seinem Herzen.

    An seiner Lehrstelle wurde für ihn ein Strafgericht inszeniert. Ein verräterischer Oberstift hatte den kurzen Kuss lange beobachtet. Der gottähnliche Lehrmeister führte die Anklage. Neun weitere Lehrlinge, von neunaiv bis abgebrüht-abwesend, hörten in ehrfurchtsvoller Runde Anklage und Urteil. Mit ernsten, tiefgefurchten Gesichtszügen und grämlichen Augen maß der Meister den Beschuldigten von oben bis unten. Seine Rede war wirr und schauerlich. Frühzeitige Entkräftung, fehlgeleitete Säfte, Verfall und Niedergang, verführte und früh gescheiterte Prüflinge. Aus diesen Wortbrocken formte sich ein Zukunftsszenario von apokalyptischer Wucht. Martin verstand nur Bahnhof und ließ die Worte durch seine Gehörgänge sausen. Galeerenstrafarbeiten sollten ihm die aufkeimenden, libidinösen Gedanken austreiben. Würfelfeilen, eine Arbeit die jeder Lehrling mit Ächzen und Stöhnen auf sich nehmen musste, wurde für ihn angeordnet. Keine Zeit für ´Mambo Rhythmen´. Graue Tage zogen sich endlos hin. Zehntausend Feilenhübe und noch mehr gingen auf das Metallstück nieder. Schwielen, Blasen und schrundige Hände schmerzten Tag für Tag mehr. Die sechs Flächen eines Stahlrohlings konnten einem Lehrling ganz schön fies zusetzen. Jede der Flächen musste geometrisch eben, und zu den angrenzenden Flächen im rechten Winkel, gefeilt werden. Geprüft mit Haarwinkel und Präzisions-Schieblehre. Die Feilenhübe hatten den natürlichen Hang zu einer Schaukelbewegung. Mit Willenskraft und Körpergeschick kämpfte Martin gegen dieses Naturgesetz. Ein zähes Ringen, bei dem er nicht einbrechen wollte, hatte begonnen. So führte er seinen Kampf gegen das Stahlstück. Nach und nach wurde es von 100 Millimeter Kantenlänge auf 60 Millimeter herunter gezwungen. Hätte ihn dabei jemand suggestiv gefragt: ´Hey, Junge, Du siehst nicht glücklich aus, bedrückt dich etwas´? Wäre die Antwort laut, leise oder stumm gewesen? Natürlich, ein ernster Grundton schwang in seinem Gemüt. Doch der wurde abgefedert von den populären Songs, die im Hinterkopf schwirrten. Da sang Freddy seine Heimweh - Rückkehr – Fernwehlieder. <> <> Jeder kannte in den mageren Nachkriegsjahren mindestens einen Fall von Legionärsschicksal. (Verglichen mit diesen armen Hunden geht es mir noch golden.) Solche Stimmungsbilder begleiteten Martin durch manches Tal der Einsamkeit. Die ersten Bill Haley Songs bliesen frische Frühlingsstürme aus alten Volksempfängern. Mit <> vor sich hin summend, ließ sich ein langer Achtstundentag mit Galeerenarbeit durchstehen. Nach vier Wochen Schufterei stand der Würfel fix und fertig vor ihm. Gerade, winkelgenau, glatt, mit sauberen Fasen und farbig abgesetzten Würfelaugen. Pling, Plong, so klang es, als er das Datum in die Grundplatte stempelte..

    Über die Brücken farbiger Erlebnisse und bänderbunt geweckter Erwartungen ließen sich graue Wochen überqueren. In der kleinen Stadt, die Martin seit Kindertagen mit ihren steingrauen Mauern einschloss, wurde ein Bunter Abend angekündigt. Neugierig, eine kleine Clique hinter sich herziehend, steuerte er auf eine der vorderen Stuhlreihen im Ochsensaal zu. Eine halbe Kopfdrehung vor sich entdeckte er Reinhilde, eine ehemalige, gern gesehene Mitschülerin. Sie sah ihn nicht, und er wollte nicht gesehen werden. Sie war schon so erwachsen. Sie war verliebt oder gar verlobt. Er gönnte ihr das frühe Glück. Martin hatte sich für kurvenreiche Umwege entschieden. Für das ferne Glück. Hinter dem Theatervorhang mit seinen alpenländischen Motiven setzte ein Schlagzeug Solo ein, das mit seinen Stakkato Schlägen eine neue Erlebniswelt eröffnete.

    Drrraaammm --- Drrraaammm --- Drrraaammm -- Baaannnggg --- Baaannnggg --- Brrraaabbbgaaannnggg --- Buuummm --- Buuummm --- Tschtschtsch --- Tschtschtsch --- Raaatttaaatttaaannnggg ---!!!

    Die Oberkörper seiner Freunde zuckten schon im Rhythmus. Über die Gesichter glitt ein Honiglächeln. Die Haare mit den Elvis Tollen wippten. Das wollten sie hören. Das kam voll an. Das trieb die Erwartungen steil nach oben. Das wirkte wie ein Katapult, mit dem Martin in ein elektrisierendes Körpererlebnis hinein geschleudert wurde. Der Vorhang rauschte zur Seite. Auf der Bühne stand Paul Würges mit seiner Band. Die E-Gitarre vor dem schlanken Körper. Ein Wha-wha-wha Pedal unter seinem rechten Fuß. Ja, genauso hatte es Martin vor wenigen Tagen im Film <> gesehen. Jetzt die Steigerung. Heißer Rock ´n´ Roll, zum Greifen nahe in voller Aktion. Die Lead-Gitarre legte peitschend los. Swingende, hochgerissene, schnell gespielte Akkordläufe pulsten aus den Boxen. Musik, die Martin wie ein frischer Süd- Sturm mitriss. Arme, Beine und Fingerspitzen kickten und schnippten aus purer Lust. Ohne Anstrengung, schnell in Phantasielinien sich austobend. Endlich Freiheit und Bewegung nach der wochenlangen Zwangshaltung an Werkbank und Maschinen. Yeeeaaahhh! Die kleine Fan-Gruppe, zwischen durchaus honorigen Hausvätern und kostümbewehrten Ehefrauen eingeklemmt, feuerte die Band an. Martin und seine Alpino-Gang sangen und knallten dazu mit ihren eisenbeschlagenen Slipper Absätzen im Viervierteltakt:

    <

    join me hon, we´ll have some fun,

    when the clock strikes on.

    We´re gonna rock around the clock tonight

    we´re gonna rock, rock, rock

    til the broad day light,

    we´re gonna rock, gonna rock

    around the clock tonight.>>

    Der Bunte Abend sprühte noch einige Stunden die schlichten Attraktionen der Adenauer Jahre unter das Volk. Eine Modenschau des Versand Riesen Quelle wechselte mit braven Schnulzen Interpreten und eleganten Schlagerdamen. Buona Sera, gesungen von Jimmi Makulis, riss Martin noch einmal vom Stuhl. Warum? War es die Vokalsteigerung vom lässigen Habanero-Tempo zum Rock ´n´ Roll Kick? Oder elektrisierte ihn das röhrende Saxophon Solo im Mittelteil? Beides zusammen steigerte die Wirkung. Dass Musik ein süßes Gefühl, eine Luftsprungstimmung bewirken kann, dieses kleine Geheimnis hatte ihm das Leben damit ins Ohr geflüstert. Letzten Endes war es ein harmloser Abend. Paul Würges und seine Band spielten weit über dem Niveau ihrer Gage. Wie so viele Musiker vor und nach ihm. Doch für Martin brachte dieses Musik Live-Erlebnis einen Stein ins Rollen. Lange, bevor die ´Rollenden Steine´ über die Bühnen der Welt bretterten. Er hatte Musik inhaliert. Musik, wie er sie brauchte. Musik, die mit ihrem Stakkato-Beat die Spannungen und Härten der Kriegs- und Nachkriegszeit aus ihm herausschüttelten. Das Grundrauschen der Volkslieder, von seelendürren Lehrern in ihn hineingequält, verebbte so nach und nach.

    Welcher Grundtakt diktierte die frühen Jahre? Welche Geräusche und Tonkaskaden rauschten als dumpfer Nachhall hinter dem Erinnerungshorizont? Vielleicht, doch das hat nie jemand untersucht, waren es ratternde Maschinengewehre? Der jaulende Abschuss von Werfer Batterien? Das blaffende Bellen von Panzer- und Flugzeugkanonen? Das krachende Splittern von Dachziegeln? Das Wolfsgeheul der Luftalarmsirenen? Gewiss, Martin hatte diese Lärmdrohungen nur in den letzten Kriegswochen selbst erlebt. Doch die Wochenschauberichte im Krieg, nach dem Krieg bis weit in die Friedensjahre hinein, pressten den brüllenden Kriegslärm noch viel zu lange in seine Ohren. Orgeloratorien oder treffender gesagt, Orgelorgien von denen Martin in kalten Kirchenhallen belästigt wurde. Die empfand er als Fortsetzung des Schlachtenlärms. Die ließen schon bei den ersten Tönen ein Gefühl von Trauer und Tod aufkommen.

    Dass Musik pure, prickelnde Lust bewirken kann, das erlebte er jetzt beim Rock ´n´ Roll Big-Bang. Musik legte sich bänderbunt über seine bleischweren Kinderalpträume. Musik gab ihm das starke Gefühl: ´Mein Leben fängt gerade erst an´. Paul Würges spielt in der Rumba Bar in München. Max, der weitgereiste Elektriker, streute die Neuigkeit in den Kreis der Alpino-Gang. Eine Fahrt nach München war schnell beschlossen und fiebrig, neugierig organisiert. Ein schaukelnder Opel Olympia rollte bald darauf durchs südwestliche Bayern. Im Wagen fünf Halbstarke. Der Duft von Clerasil waberte durch die Luft. Mädchen hatten sie keine dabei. Freundinnen, wo sollten die auch herkommen? Der Martin und der Manne, der Max und der Harry. Selbst der schöne Hans ging alleine zum Tanz. Warum? Jeder war ein armer Kerl. Keiner verdiente mehr als fünfzig Mark im Monat. Keiner hatte ein richtig vorzeigbares Zuhause. Hätte ein Außerirdischer sie gefragt, so mit Soziologenbittermiene: „Also, e´hm Freunde, ihr seid sicher sehr unglücklich, so ohne Mädchen und Moos? „Ohne Zugang zu den Schicken und Schönen und Zuhause nichts los. Sie hätten gelacht und dabei gedacht: ´Unsere Chancen kommen noch´. Einer wäre mit der frechen Idee vorgeprescht: ´In Venezuela am Maracaibo-See, dort will ich bald mein Glück machen´. Ja, sie hätten gelacht, und doch

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