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Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt: Roman
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Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt: Roman
eBook372 Seiten5 Stunden

Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt: Roman

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Über dieses E-Book

Nicht mehr als eine Figur auf einem Schachbrett zählt das Leben des Einzelnen in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs.Dessen ist sich der „Halbjude“ Georg Manhart bewusst. In einer Zeit, in der ein falsches Wort, ein unbedachter Schritt, selbst eine Liebesnacht zum Todesurteil werden kann, führt sein Lebensweg durch ein Minenfeld unkalkulierbarer Gefahren. Trotzdem folgt er unbeirrt seiner Überlebensstrategie, zu der an erster Stelle die Beschäftigung als technischer Zeichner im Flugzeugbau gehört.Walter Thans Roman beruht auf historischen Tatsachen, wobei besonderes Augenmerk auf der Verformung der menschlichen Psyche in Kriegs- und Krisensituationen liegt. Eindrücklich wird ein Stück Zeitgeschichte vorgelegt, in dem sich menschliche Verhaltensweisen allen rationalen Maßstäben entziehen.
SpracheDeutsch
HerausgeberStyria Verlag
Erscheinungsdatum7. Mai 2014
ISBN9783990403082
Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt: Roman

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    Buchvorschau

    Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt - Walter Than

    Walter

    Than

    Wenn die

    Sonne hinter

    den Dächern

    versinkt

    Roman

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Juni 1944

    April 1943

    Mai 1943

    Juli 1943

    August 1943

    Oktober 1943

    Dezember 1943

    Mai 1944

    Juli 1944

    September 1944

    November 1944

    Dezember 1944

    März 1945

    April 1945

    Impressum

    Juni 1944

    Es war heiß, ungewöhnlich heiß für einen frühen Vormittag. Georg Manhart überquerte die Straße, um in den Schatten der intakten Häuserzeile einzutauchen. Wobei intakt bloß bedeutete, dass die Häuser zumindest noch teilweise bewohnbar waren. Davon zeugte der anstelle der geborstenen Glasscheiben in die Fensterrahmen eingesetzte Karton. Abgesehen von frischen Löchern im Verputz wiesen die altersgrauen Fassaden keine ernsthaften Schäden auf. Dunkle Fensterhöhlen da und dort erinnerten an Fluglöcher eines verlassenen Taubenschlags. Auf der anderen Straßenseite warfen die Bombenruinen bizarre Schatten der Verwüstung auf ihren eigenen Schutt. Man hatte sich gewöhnt an diesen Anblick, an das von tiefen Wunden entstellte Antlitz Wiens. Ebenso wie an das Dröhnen amerikanischer Bombergeschwader am Himmel und das Beben der gepeinigten Erde unter den Füßen.

    Vor einer Bäckerei hatte sich eine Warteschlange gebildet. Vermutlich gab es frisches Brot. Man nahm jede Gelegenheit zur Vorsorge wahr, zur Hortung aller Dinge, die man brauchen oder auch gerade nicht brauchen mochte. Marmelade, Senf, Süßstoff, Seife, Kerzen, Schuhbänder – alles, was man nicht selbst benötigte, eignete sich als Tauschgut. Man musste beizeiten sehen, wo man blieb. Wenn die Sirenen heulten, war es zu spät. Dann begann der Wettlauf um einen Platz in einem sicheren Schutzraum. Viele, die nicht arbeiten mussten, Frauen mit kleinen Kindern und alte Leute, warteten bereits am Morgen in der Nähe der Katakomben des Stephansdoms, vor Schutzstollen und Flaktürmen geduldig auf Einlass. Besonders wenn der Himmel so blau war wie eben nun. Jedermann wusste, dass die amerikanischen Bomberpiloten blauen Himmel schätzten.

    In der Fahrbahnmitte zog ein alter Mann einen Leiterwagen hinter sich her. Die eisenbeschlagenen Holzräder ratterten auf dem Kopfsteinpflaster. Auf dem Wägelchen war ein Bettgestell festgezurrt, dreimal so groß wie das klapprige Gefährt. Der Mann konnte nicht in den Schatten ausweichen. Das Hemd klebte ihm in nassen Flecken am Rücken. Er blieb stehen und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

    Vom Donaukanalkai nahte ein Mannschaftswagen der Wehrmacht. Der Lenker hupte und schrammte mit seinem Fahrzeug knapp an dem Leiterwagen vorbei. Der Alte schüttelte wütend die Faust, seine Verwünschungen gingen im Motorenlärm unter. Die Soldaten auf dem offenen Lkw lachten.

    Im Schatten hielt sich die Hitze in Grenzen. Früher, als Kinder, hatten sie strahlendes Wetter Bombenwetter genannt. Heute dachte bei Schönwetter niemand an Sonne und Badefreuden. Die Stadt fürchtete wolkenlosen Himmel. Sein ungetrübtes Blau versetzte ihre Bewohner in ahnungsvolle Anspannung.

    Er hatte es nicht eilig. Er hatte jede Menge Zeit. Der Umweg über den Donaukai kostete kaum zehn Minuten. Niemand schrieb ihm den Weg vor, niemand konnte ihn kontrollieren. Sosehr sich die Erfüllungsgehilfen des Überwachungsstaates auch bemühten, sie konnten nicht alles unter Kontrolle halten. Die Abfahrtstermine der Betriebsbusse zum Heidewerk glichen einem Glücksspiel. Was gleich blieb, war das ständige Gerangel um einen Platz an Bord. Es gab zu wenig Transporte zum Flugzeugwerk. Streitbare, die sich für besonders wichtig hielten, stießen finstere Drohungen gegen die Ordner des Werksschutzes aus, wenn sie zurückbleiben mussten. Worte wie „Sabotage oder „böswillige Verweigerung fielen, zumeist in Dialekten des Altreichs. Die uniformierten Ordner, vorwiegend Wiener, die für den Wehrdienst zu alt waren, ließen sich nicht beeindrucken. Sie mussten nicht aussprechen, was sie dachten. Man konnte es an ihren Mienen ablesen.

    Er ließ sich Zeit. Wenngleich es nicht mehr darum ging, die Arbeit im Büro bewusst zu verzögern. Das war vorbei. Es spielte keine Rolle mehr, wann die angeforderten Konstruktionspläne auf den Zeichentischen landeten. Kein Kampfflugzeug der Typen, an deren Entwicklung sie arbeiteten, konnte den Kriegsverlauf beeinflussen. Dessen war er sich sicher. Von dieser Überzeugung lebte er.

    Den richtigen Namen der Straße, in der Hans Webers Trafik lag, hatte er sich nie merken können. Für Rainer und ihn hieß sie Rollergasse, weil sie auf der abschüssigen Straße wilde Tretrollerrennen abgehalten hatten. Es war wie der Kulissenwechsel auf einer Drehbühne. Elegante Hausfassaden aus der Gründerzeit. Keine Mauerschäden, keine Spur von Schutt und Trümmern, halb leere Schaufenster, in denen sich der blaue Himmel spiegelte. Als versuchte jemand aufzuzeigen, dass die heile Welt gleich hinter der nächsten Ecke begann. Mit Ausnahme der Erdgeschoße standen die meisten Fenster offen. Das erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass die Scheiben den Druckwellen naher Bombeneinschläge standhielten.

    Die Musik, die aus den Fenstern die Gasse beschallte, verdankten die Radiohörer dem Vormittagskonzert des Reichssenders Wien. Operettenklänge, dazwischen Marschmusik und Volkslieder. Der tägliche misstönende Einheitsbrei. Georg bezweifelte, dass es viele Leute gab, die sich das langweilige Konzert aus einem anderen Grund anhörten, als um beim ersten Kuckucksruf im Radio ihre Sachen zusammenzupacken und sich eilig auf den Weg zu einem sicheren Luftschutzraum zu machen. Der Ruf des Kuckucks war von der freundlichen Frühlingsbotschaft zum Warnsignal vor tödlicher Gefahr mutiert.

    Eine Frau mit einem Kinderwagen kam ihm entgegen. Das Gefährt war schwarz, mit feinen goldenen Verzierungen. Anstelle eines Kindes lagen zwei Taschen und ein Handkoffer in den Polstern. Fluchtgut, das die Leute mit sich führten, um vor den Bomben zu bewahren, was ihnen wertvoll war. Die Frau hatte einen schleppenden Gang, verhärmte Züge, einen schmalen Mund, dem Lachen fremd zu sein schien. Man begegnete immer mehr Gesichtern, in denen die Hoffnung gestorben war und mit ihr das Lachen.

    Alles in Bewegung, dachte Georg. Am Boden, am Wasser, in der Luft. Alles, was sich bewegen konnte, war in Bewegung. Für und gegen den Untergang dieser pervertierten Welt. Für und gegen den freien Atem und das freie Wort. Hatte es wirklich einmal eine Zeit der Sicherheit gegeben, eine Zeit der Berechenbarkeit für die kommende Stunde, für den nächsten Tag? Oder entsprang die Erinnerung den Phantasien der im Sumpf der Trostlosigkeit Versunkenen?

    Er beobachtete durch die Sonnenbrille die Passanten, Frauen und Männer in Zivil oder Uniform. Die dunklen Gläser dienten nicht nur als Schutz gegen das Sonnenlicht. Sie erlaubten unauffällige Blickfreiheit. Niemand konnte erkennen, wohin genau er schaute. Schon als Jüngling hatte er begonnen, in Gesichtern zu lesen. Nicht bloß im Gymnasium, um sich auf die Laune der Professoren einzustellen. Eher aus allgemeinem Interesse an der Vielfalt der Physiognomien. Beruf, Bildung, Gemütszustand – er hatte ein Ratespiel daraus gemacht, dessen Lösungen er nie erfuhr. Inzwischen war das Spiel Teil einer Sicherheitsstrategie geworden. Misstrauen als Leitmotiv. Man tat gut daran, im Bilde zu sein, wem man da eben begegnete. Insbesondere in einer Zeit, welche die Täuschung als Instrument der Macht nützte. Früher, vor dem Krieg, hatten die Menschen anders ausgesehen. Jede Periode prägte ihre Gesichter. Zurzeit war alles Barocke aus den Mienen verschwunden, verdrängt von den herben Linien der Gotik.

    Er ließ sich von der trügerischen Ruhe des sonnigen Vormittags nicht täuschen. Das konnte sich von einer Minute auf die andere ändern. Der unabwendbar bevorstehende nächste Schlag mochte in einer Stunde erfolgen oder am folgenden Tag oder am Tag danach. Ihn kümmerten weder die vibrierende Unrast der Stadt noch die Furcht ihrer Bewohner, noch die Ungewissheit der Stunde. Alles, was ihn kümmerte, war die Gewissheit, dass der nächste Schlag folgen würde und damit ein weiterer Schritt zum Ende des Schreckens.

    Er verlangsamte unwillkürlich den Schritt, als das Schild der Tabaktrafik in sein Blickfeld geriet. Nachdem Rainer Weber in Russland gefallen war, hatte er seine Besuche bei dessen Eltern eingeschränkt. Er stand, angesichts der eigenen Trauer über den Verlust des Freundes, dem Elend von dessen Familie auch nach einem Jahr noch hilflos gegenüber. Tante Herma, die ihn schluchzend umarmte, Onkel Hans, der ihn mit einer Maske erstarrten Leids begrüßte. Die Zeiten der Unbeschwertheit lagen versunken hinter den dunklen Wolken der Gegenwart.

    Onkel Hans mit seinem fröhlichen Lachen und seinen einfallsreichen Späßen gehörte zu seinen frühesten Kindheitserinnerungen. Zwischen den Webers und seinen Eltern bestand eine Familienfreundschaft, die noch enger wurde, als er selbst und Weber-Sohn Rainer am gleichen Tag das Licht der Welt erblickten. Es ergab sich von selbst, dass ihn mit Rainer eine brüderliche Freundschaft verband. Sie besuchten gemeinsam das Gymnasium, spielten in der gleichen Fußballmannschaft, gingen in die gleiche Tanzschule und verliebten sich in die gleichen Mädchen. Es gehörte zu den ungeschriebenen Spielregeln, dass ein Mädchen, sobald es sich für einen von ihnen entschied, für den anderen tabu war.

    So jung er damals war, er empfand Freundschaft nicht als Wort, sondern als Wert. Er kannte die Willkür des Schicksals noch nicht. Er ahnte noch nicht, was eine Frau im Leben eines Mannes bedeuten konnte. Er hatte die Macht des Gewissens noch nicht kennengelernt.

    Die Vergangenheit ließ sich nicht in Scheiben schneiden wie ein Baumstamm. Manchmal schien es Georg, als stolperte er an der immer gleichen Stelle über den immer gleichen Stein. Gedanken an verflossene Jahre führten unvermeidlich zu jenem Tag im März 1938, an dem Österreich zur Ostmark wurde. Er hatte sich bis dahin nicht allzu viel mit Politik befasst. Desto überraschender kam für ihn, trotz der düsteren Prophezeiungen seines Vaters, der Umsturz. Abends, auf dem Heimweg von einem Kinobesuch, herrschte hektisches Treiben in den Straßen der Inneren Stadt. Überall hatten sich Gruppen von diskutierenden Frauen und Männern angesammelt. Jugendliche zogen mit Fackeln und Trommeln über den Graben. Männer in braunen Hemden sangen Marschlieder, die er nicht kannte, und plärrten Parolen, die er nicht verstand. Scharen von Polizisten, die nicht recht zu wissen schienen, was sie tun sollten, patrouillierten ziellos zwischen den Ansammlungen.

    Am folgenden Tag boten die Straßen ein neues Bild. Jubelnde Menschenmassen, braune Marschkolonnen, ein Meer roter Hakenkreuzfahnen – die Stadt war über Nacht in einen Taumel sich selbst berauschender Begeisterung verfallen. Man hätte meinen können, Wien feierte die Befreiung von der Pest. Nur wenige – er mit eingeschlossen – begriffen, dass die Pest eben Einzug hielt. Kaum zu fassen, wie sich die Welt seit diesen Tagen gewandelt hatte! Zunächst änderte sich an seinem Leben nicht allzu viel. Als der Schulunterricht nach zwei Wochen Unterbrechung wieder aufgenommen wurde, hießen das Gymnasium Oberschule, die Professoren Studienräte und die Matura Abitur. Deutsch- und Turnprofessor Grieger, der von den Schülern außerhalb des Turnsaals wegen seines tölpelhaften Auftretens heimlich verlacht wurde, amtierte als neuer Direktor, andere ihrer Klassenlehrer waren von der Bildfläche verschwunden. Wie alle seine Mitschüler erschien er, ungeachtet des kühlen Wetters, in kurzen Hosen und mit weißen Stutzen in der Klasse. Mutter hatte ihn behutsam vor Anfeindungen gewarnt. Schließlich wüssten alle, dass sein Vater Jude sei. Er hatte ihr entrüstet widersprochen und recht behalten. Keiner seiner Klassenkollegen schien sich an seiner Abstammung zu stoßen. Er war einer von ihnen, nachdem wie vordem.

    Die Ernüchterung folgte schnell. Er musste mit ansehen, wie auf offener Straße Juden beschimpft, gedemütigt oder ohne Anlass unter dem Gegröle schadenfroher Zuschauer zusammengeschlagen wurden. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden geplündert. An den Parkeingängen standen Tafeln: „Für Hunde und Juden verboten."

    Sie lebten damals bereits am Rosenhügel in einem Einfamilienhaus, das Mutter von Großmutter geerbt hatte. Eines Abends im Mai 1938 erschienen zwei

    SA-Männer

    und erklärten in barschem Ton, dass Juden hierorts unerwünscht wären und Vater schleunigst zu verschwinden hätte. Zwei Tage später übersiedelte er in ein Untermietzimmer im 1. Bezirk.

    An einer Plakatwand auf der anderen Straßenseite hatte jemand über die Kriegsparolen des Reichspropagandaministeriums in großen schwarzen Buchstaben „Tod den Nazis gemalt. Zwei ältere Männer in grauen Kitteln waren unter Polizeiaufsicht dabei, die staatsfeindlichen Parolen mit amtlichen Anschlägen zu überkleben. Übergroßen Arbeitseifer legten die beiden nicht an den Tag. „Der größte Schuft im ganzen Land ist der Gerüchtefabrikant. – „Achtung, Feind hört mit!" Darunter die üblichen warnenden Hinweise des Justizterrors des Regimes. Drei Konterfeis, zwei Männer und eine Frau. Hans Heinz Grober, hingerichtet am 4. Juni 1944 wegen Landesverrats. Katharina Belmann, hingerichtet am 4. Juni 1944 wegen Wehrkraftzersetzung. Rudolf Emminger, hingerichtet am 4. Juni 1944 … Die Henker waren viel beschäftigte Leute im Tausendjährigen Reich. Um das vom Luftkrieg beeinträchtigte Reisen von einer Hinrichtungsstätte zur nächsten in Grenzen zu halten, legte man die Exekutionstermine zusammen. Alles musste seine Ordnung haben. Auch amtlich verordneter Mord und Totschlag. Der Schupo, der das Überkleben der staatsfeindlichen Parolen überwachte, forderte Neugierige barsch zum Weitergehen auf.

    Georg richtete den Blick geradeaus. Man musste sich vorsehen, immer und überall. Egal, ob man mit Fremden sprach oder mit Bekannten. Man drehte besser jedes Wort dreimal im Mund um. Als Gerücht galt alles, was nicht den offiziellen Meldungen in Zeitung und Rundfunk entsprach. Auch die Wahrheit über die schlimme Lage an allen Fronten, von der man nur durch das verbotene Abhören ausländischer Radiosender erfuhr. Gerüchte zu verbreiten fiel unter den Paragrafen „Wehrkraftzersetzung" und gehörte zu den vielen mit der Todesstrafe bedrohten Delikten.

    Wenn ihm der längst fällige Besuch bei Onkel Hans heute noch schwerer fiel als sonst, kam das nicht von ungefähr. Er hatte noch keinen Weg gefunden, sich mit seinem Gewissen zu versöhnen. Und wie es aussah, würde er den auch nicht so bald finden. Verschweigen war bloß eine bequemere Form der Lüge. Aber wenn die Wahrheit keinen Sinn machte, behielt man sie besser für sich. Was galt eine Beichte ohne Reue? Was außer Enttäuschung und Verbitterung konnte sie bewirken? Dass Dagmar wieder Kontakt zu ihm suchte, ging ihn und niemanden sonst etwas an. Außer ihrer Mutter hatte niemand von ihrer Beziehung gewusst.

    Dagmar stand mit Rainers Eltern nach wie vor in loser Verbindung. Immerhin war sie mit Rainer offiziell verlobt gewesen. Er konnte sich nicht vorstellen, auch nur ihren Namen zu erwähnen, ohne sich in einem Netz von Unwahrheiten zu verheddern. Er fragte sich, wie Dagmar es zuwege brachte, nach allem, was zwischen ihnen beiden geschehen war, unbefangen Rainers Eltern zu begegnen. Er hatte sie von Anbeginn für ihre kühle Besonnenheit im Umgang mit einer Situation bewundert, die ihn manchmal an den Rand der Verzweiflung brachte.

    Die Tür zur Trafik stand offen. Aus einem Radio auf einem Wandregal zwischen Zeitungsstößen kamen leise Operettenklänge. Völkischer Beobachter, Das Reich, Der Stürmer – es drehte ihm jedes Mal den Magen um, wenn er die Machwerke der Nazipropaganda sah. Onkel Hans saß über ein Buch gebeugt hinter dem Ladentisch. Neben dem Buch lag ein Steckschach mit roten und schwarzen Figuren. Er blickte auf, als Georg eintrat, und klappte das Buch zu. Er war merklich gealtert im vergangenen Jahr. Die Lachfalten um seinen Mund hatten sich zu tiefen Furchen des Leids gewandelt. An seine einstmals ansteckende Heiterkeit erinnerte nur mehr der Anflug eines Lächelns, als er hinter dem Ladentisch hervortrat.

    „Servus, Bub!", sagte er und streckte die Hand aus.

    Georg fasste sie mit einer Aufwallung von Wärme. Bub! So würde ihn Hans wohl noch nennen, wenn er bereits am Stock ging.

    „Löst du Schachprobleme?"

    „Kennst du in dieser beschissenen Welt noch andere Probleme, die sich ohne Gewalt lösen lassen? Sag mir, wie es daheim geht." Georg hob die Schultern.

    „So, so. Mutter müht sich in der Zahnradfabrik ab. Vater sehen wir nach wie vor nur selten. Wenn die Wehrmacht Reifen zur Reparatur schickt, muss er auch am Wochenende in die Werkstatt. Zu uns auf den Rosenhügel zu kommen, traut er sich nicht. Da hätte auch Mutter zu viel Angst. Gaststätten oder Cafés darf er bekanntlich nicht betreten. Gelegentlich treffen Mutter und ich mit ihm zu einem Spaziergang im Grünen zusammen. Ein-, zweimal in der Woche ruft er an. Du weißt ja, auch die Benützung von Telefonzellen ist Juden verboten. Zum Glück ist seine Zimmerwirtin eine Seele von Mensch. Manchmal kocht sie für ihn abends sogar aus eigenen Beständen."

    Onkel Hans holte ein Zigarettenpäckchen aus der Tasche seines grauen Arbeitsmantels und hielt es ihm hin. Dann klemmte er sich selbst einen Stängel zwischen die Lippen.

    „Er wird nicht mehr allzu lang durchhalten müssen. Der Tag, an dem die letzte Stunde für die braune Brut schlägt, ist nicht mehr weit."

    „Wenn das für Vater nicht zu spät kommt. Seit Großmutter und seine Geschwister deportiert wurden, steht in seinem Zimmer ein gepackter Koffer. Für den Fall der Fälle, wie er sagt. Wer weiß, was den Nazis noch einfällt. Wenn es ihnen passt, kümmern sie sich nicht einmal um ihre eigenen Bestimmungen."

    „Ich habe deinen Vater immer als starken Mann geschätzt."

    Georg zog schweigend an seiner Zigarette. Was sollte er sagen? Dass ihm dies nie in den Sinn gekommen wäre? Sie drückten fast zur gleichen Zeit ihre Zigaretten aus. Obwohl sie sich schon zuvor in gedämpftem Ton unterhalten hatten, senkte Hans seine Stimme weiter ab.

    „Ich hab heute um vier Uhr früh London gehört …"

    Er brach jäh ab, als ein Schatten durch die Türöffnung fiel.

    „Heil Hitler!", sagte der Mann im Eintreten. Es war ein Zivilist um die vierzig. Er trug keinen Schnurrbart, aber eine streng gescheitelte Frisur wie Hitler. Im Revers seiner Jacke steckte das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP.

    „Guten Tag", grüßte Onkel Hans.

    Der Mann warf ihm unter gerunzelten Brauen einen scharfen Blick zu. „Den Völkischen Beobachter, bitte."

    Onkel Hans langte hinter sich und legte ein Exemplar der Zeitung auf den Ladentisch. Die Überschrift stach in dicken Balkenlettern hervor: „LONDON IM RAKETENHAGEL DER V1."

    „Jetzt kriegen sie, was sie verdienen", bemerkte der Mann grinsend.

    „Jeder bekommt früher oder später, was er verdient", sagte Hans Weber kryptisch.

    Der Mann hob mit einem Ruck den Kopf. „Wie meinen Sie das?"

    „So, wie Sie es eben ausgedrückt haben."

    Der Mann musterte ihn feindselig, während er aus einer Jackentasche Bezugsmarken für Tabakwaren zum Vorschein brachte.

    „Zehn Stück", verlangte er.

    Onkel Hans zählte aus einer Großpackung zehn Zigaretten auf den Ladentisch.

    „Andere gibt’s nicht?" Der Mann hob schnuppernd die Nase.

    „Die besseren Zigaretten rauchen Sie wohl selber?"

    Hans schüttelte den Kopf. „Wenn Sie um fünf in der Früh kommen, kriegen Sie auch die Besseren."

    Der Mann nahm Zigaretten und Zeitung und verließ grußlos den Laden. Hans Weber folgte ihm zur Tür und schob mit dem Fuß einen Holzkeil beiseite. Die Tür fiel mit einem Klingellaut ins Schloss.

    „Arschloch!", murmelte er.

    Georg lachte. „Was hältst du von diesen Raketenangriffen?"

    „Mach dir keine Sorgen. Die Briten haben 1940 monatelang die Luftangriffe der deutschen Bomber überstanden, die werden auch die Raketen überleben. Von denen ist ohnedies die Hälfte Blindgänger oder fällt ins Meer. Er deutete auf eine offene Tür im Hintergrund des Geschäfts. „Komm nach hinten.

    In der fensterlosen Kammer, die kaum mehr als drei mal drei Meter maß, brannte Licht. Eine Ecke nahm ein Tisch mit zwei Stühlen ein, eine andere ein abgewohntes grünes Sofa. Die linke Wand, die vom Laden aus nicht zu sehen war, wurde zur Hälfte von einer generalstabsmäßigen Europakarte von Spanien bis zum Ural bedeckt. Im Osten markierten schwarze Stecknadeln den Verlauf der Frontlinie 1941/​42, von Leningrad über den Stadtrand von Moskau bis nahe Stalingrad und zum Kaukasus. Rote Stecknadeln kennzeichneten den gegenwärtigen Frontverlauf. Dazwischen erstreckte sich der riesige Teil Russlands, den die Wehrmacht erobert und wieder an die Rote Armee verloren hatte.

    Onkel Hans wies mit dem Zeigefinger auf Ostpreußen.

    „Ich hab frühmorgens die Nachrichten aus London gehört. Die Sowjets stehen schon an der ostpreußischen Grenze. Markieren tu ich das erst, wenn sie es bei uns in den Nachrichten zugeben. Sein Zeigefinger übersprang den halben Kontinent und deutete auf die Normandie, wo, über einen kleinen Küstenabschnitt verteilt, ein gutes Dutzend gelber Nadeln steckte. „Aber das Wichtigste: Die Engländer und Amerikaner haben in der Normandie endgültig Fuß gefasst und sind weit ins Landesinnere vorgestoßen. Weißt du, was das heißt? Sie haben es geschafft! Die zweite Front steht!

    Onkel Hans war plötzlich wie ausgewechselt. Er füllte aus einer Flasche Schnaps in zwei Wassergläser.

    „Darauf müssen wir anstoßen, Bub, sagte er lebhaft. „Das ist der Anfang vom Ende.

    Georg fühlte sich leicht beschwingt, als er die Trafik verließ. Es war ein Glück, dass Hitler und sein Gefolge von Rassenhass und Vernichtungswut mit Blindheit geschlagen waren. Hätten sie Menschen und Material, die sie für die Judentransporte benötigten, an der Invasionsfront eingesetzt, wären die Alliierten vermutlich in Bedrängnis geraten. Wenn sich die Lage weiterhin so entwickelte, wie es gegenwärtig aussah, konnte das Ende tatsächlich nicht mehr allzu fern sein. Ein unvorstellbarer Gedanke. Das Ende all der Unerträglichkeiten, die das Leben im Würgegriff hielten. Eine Welt ohne Furcht vor der Allmacht der Willkür, ohne das Gefühl der Wehrlosigkeit, ohne den zermürbenden Druck auf Geist und Verstand, ohne das heisere Gebrüll nach Rache und Blut und Boden und Judenhass und Sieg oder Heldentod – gab es die überhaupt noch?

    Ein Landser kam ihm mit den unsicheren Schritten eines Angeheiterten entgegen. Seine Uniform sah aus, als hätte er darin geschlafen. Die Zeiten der Galamonturen und Bügelfalten waren ebenso dahin wie das forsche Gehabe der Unbesiegbarkeit.

    „Haste ’ne Zigarette für mich, Kamerad?", redete ihn der Soldat an.

    Georg konnte leichten Alkoholdunst riechen. Armes Schwein, dachte er. Er griff in die Tasche und nahm drei Zigaretten aus einem der Päckchen, die Onkel Hans ihm zugesteckt hatte. Der Soldat betrachtete sie, als hätte er Ähnliches nie zuvor gesehen.

    „Mensch, det sind ja drei! Er salutierte. „Vergess ick dir nie, Kamerad, niemals, sagte er und trollte sich.

    Die ermutigenden Nachrichten hatten Georg fast vergessen lassen, was ihn vor dem Besuch bei Onkel Hans bedrückt hatte. Das Kriegsgeschehen, und damit sein Schicksal, näherte sich der entscheidenden Phase. Das drängte alle anderen Probleme in den Hintergrund. Es war ihm erspart geblieben, einem unliebsamen Thema auszuweichen. Aber das war nur ein Aufschub. Irgendwann würde die Geschichte mit Dagmar ans Tageslicht kommen. Irgendwann würde er sie, seinem inneren Zwang zur Aufrichtigkeit gehorchend, selbst preisgeben. Doch irgendwann lag in der Ferne, weit jenseits der Zukunft. Und die Zukunft war bis zur Wahrnehmungsgrenze geschrumpft. Sie reichte bis zum nächsten Tag, bestenfalls.

    Die Musikklänge aus den offenen Fenstern wurden abrupt von Kuckucksrufen abgelöst. Wenn der Kuckuck ruft, sind die Bomben nicht mehr weit, hieß es unter den Leuten. Georg warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war zehn Uhr zehn. Die wohlbekannte Stimme eines Rundfunksprechers meldete sich mit einer Luftwarnung: „Starke feindliche Kampfverbände über Kärnten und Steiermark im Anflug auf Oberdonau und Niederdonau. Der Reichssender Wien schaltet nunmehr auf Drahtfunk um."

    Das Straßenbild veränderte sich schlagartig. Eine unsichtbare Macht schien das Kommando über alle Bewegungsabläufe übernommen zu haben. Einige Passanten blieben unschlüssig stehen. Leute, die bislang dahingeschlendert waren, beschleunigten ihre Schritte. Ein älteres Paar, das Georg entgegenkam, machte auf den Absätzen kehrt, als wäre ihm eben eingefallen, etwas daheim vergessen zu haben. Eine vor einem Lebensmittelladen versammelte Menschentraube löste sich in Einzelindividuen auf, die nach allen Seiten auseinanderstoben wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Ein Teil der Leute formierte sich zu Gruppen, um in verschiedene Richtungen zu Schutzräumen zu eilen, die als besonders sicher galten.

    Georg hatte das obere Ende der „Rollergasse" erreicht, als die Sirenen einsetzten. Sekundenlang hing ein einzelner durchdringender Ton über den Dächern, ehe sich das zeitversetzte auf- und abschwellende Heulen der über die Stadt verteilten Warnanlagen zu einer ohrenbetäubenden Schallwolke vereinigte.

    Georg dachte nicht daran, einen Schutzraum aufzusuchen. Er bog nach links ab und arbeitete sich durch einen entgegenkommenden Menschenstrom, der sich hastig in Richtung der bombensicheren Katakomben von St. Stephan bewegte. Er achtete nicht auf die Flüche und Rempeleien. Nichts und niemand konnte ihn davon abhalten, den Luftangriff im Freien zu verbringen. Er peilte eine Bombenruine im Hinterhof eines alten Gebäudekomplexes an, die er kürzlich entdeckt hatte. Sichere Zufluchtsstätten waren Bombenruinen nicht. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine zweite Fliegerbombe an der gleichen Stelle einschlug, war eher gering.

    Die Gehsteige hatten sich fast geleert, als er sich seinem Ziel näherte. Nur vereinzelte Nachzügler hasteten die leicht abfallende Straße hinab. Aus einer offenen Haustür auf der anderen Straßenseite forderte ihn ein Luftschutzwart auf, den Schutzraum aufzusuchen. Er tat, als hätte er nicht gehört.

    An der Ruine in dem zerstörten Gebäudeteil des Innenhofs hatte sich seit dem letzten Mal nichts verändert. Ein Bild wie gehabt. Eine Bombe hatte die Außenmauer des viergeschoßigen Hoftraktes weggerissen, ohne die Wohnräume dahinter nachhaltig zu beschädigen. Der Mauerschutt reichte bis zum Fußboden des Untergeschoßes. Darüber öffnete sich der Blick auf die Spuren der einstigen Bewohner. In einer Küche hing ein weißes, mit Blumenmustern besticktes Tuch von einem Esstisch. Auf dem Tisch standen Teller und eine Schüssel. Ein Schlafzimmer mit zerwühltem Doppelbett und einem Hitlerbild über dem Kopfende. Ein Wohnzimmer mit einem ovalen Tisch in der Mitte und einer gepolsterten Sitzgarnitur im Hintergrund. Es sah aus, als hätten die Darsteller eines Kammerspiels fluchtartig die Bühne verlassen.

    Im Augenblick herrschte Stille. Keine Stimmen, kein Verkehrslärm. Die Stadt hielt den Atem an. Um der glühenden Sonne zu entgehen, setzte er sich im Schatten eines Mauerpfeilers auf eine weiße Kohlenkiste, die den Absturz von oben einigermaßen heil überstanden hatte, und atmete tief den Rauch seiner Zigarette ein. Wenn es nach ihm ging, konnte die Vorstellung beginnen. Obgleich niemand wusste, was auf dem Programm stand. Wie jedes Mal, wenn die Stunde der Bewährung gekommen war, klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Wie seinerzeit als Kind, wenn er zu Weihnachten ungeduldig auf das Läuten des Glöckchens gewartet hatte, das die Tür zum lichterglitzernden Christbaum öffnete.

    Er war sich bewusst, dass sich sein irrationales Verhalten nicht einmal mit krausester Logik erklären ließ. Wem half es, dass er den Verzicht auf Schutz vor den Bomben als seinen persönlichen Beitrag zur Beendigung des Nazi-Schreckens betrachtete? Er war krank, psychisch deformiert, wie alle in diesem Krieg. Kein normaler Mensch konnte die Stunde herbeiwünschen, in der er vielleicht in Stücke gerissen wurde. Aber man hatte längst keine Wahl mehr zwischen Normalität und Irrsinn. Er fühlte sich wie vor einer Operation, von der nicht abzusehen war, ob er sie überleben würde, deren Unterbleiben jedoch den sicheren Tod bedeutete.

    Im Südosten und im Westen setzte das dumpfe Stakkato schwerer Flakbatterien ein. Der Auftakt zu einem infernalischen Konzert für tausend Pauken und Orgeln, veranstaltet von einem todbringenden Orchester. Man duckte sich unwillkürlich unter dem Donnern und Tosen. Für manch einen würde das schrille Pfeifen fallender Bomben, das kurz vor dem Einschlag abriss, das Letzte sein, was er im Leben hörte.

    Der langsam näher kommende Geschützdonner erinnerte ihn widersinnigerweise an Feriennächte auf dem Land, da er am Hundegebell den Weg eines späten Wanderers verfolgen konnte. Aus einem offenen Fenster plärrte eine Radiostimme: „Starke feindliche Kampfverbände über Steinamanger und dem westlichen Wienerwald im Anflug auf den Großraum Wien."

    Mit einem Schlag begann das berstende Krachen der Batterien von

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