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Verloren: Kriegs-Schicksal ohne Ende
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eBook387 Seiten5 Stunden

Verloren: Kriegs-Schicksal ohne Ende

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Über dieses E-Book

Ein junger Immigrant wird mehr als zwei Jahre lang von seiner Scheinehefrau sowohl körperlich als auch seelisch misshandelt, bevor die junge Krankenschwester Jenny auf ihn aufmerksam wird und ihn rettet.

Eine dramatische Geschichte nimmt ihren Anfang.

Ein erotisches Drama
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum7. Aug. 2013
ISBN9783847647928
Verloren: Kriegs-Schicksal ohne Ende

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    Buchvorschau

    Verloren - Josef Rack

    Über den Autor

    Verloren

    Über den Autor:

    Josef Rack, geb. 1941 in Etyek, Ungarn. Deportation 1946, lebt seither bei Heilbronn. Entwicklungs-Techniker, Konstrukteur, im Ruhestand. Bildhaftes Gestalten ist seine Begabung seit der Kinderzeit. Mit „Schreiben" hatte er nie etwas am Hut.

    2008 entstand sein 4. Werk, ein teils biographischer Roman: „Verloren" -

    eine fast wahre Geschichte – es könnte seine eigene sein.

    Über das Buch:

    1946: Ungarndeutsche - Deportation nach Deutschland. Der 4-jährige Toni geht im Gewühl des Transports verloren. Russische kinderlose Militärfamilie nimmt Jungen auf - er lebt bei ihnen als eigenes Kind. Seine leiblichen Eltern werden für tot gehalten. Glückliches Leben in Budapest, bis 1956 der Aufstand alles zerstört.

    1979: Toni erfährt, dass seine Eltern eventuell noch leben.

    Lange dramatische Suche über Moskau, Ostberlin – Westberlin. Findet dabei seine große Liebe und einen unglücklichen Kameraden. Flucht unter der Mauer mit schrecklichem Ausgang.

    Westdeutschland - noch immer keine Spur.

    Zurück zu seinen Wurzeln.

    Urlaubsreise nach Ungarn: Erste Hinweise auf seine Eltern.

    Im Wettlauf mit der Zeit: Findet er seine Angehörigen?

    ___________________________________________________

    VERLOREN

    von

    Josef Rack

    Wer bin ich?

    Eine schicksalhafte Zeitreise – Ziel ungewiss

    Eine Suche nach den eigenen Wurzeln

    Vorwort

    Dieses, 4.Buch, ist infolge dreier vorhergehenden Bücher,

    aus einer Laune,

    meiner Enkeltochter Madeleine

    zu ihren 9. Geburtstag ein originelles Geschenk zu machen, entstanden.

    Ihr habe ich somit meine Freude am Schreiben zu verdanken.

    Ich ahnte damals nicht, welche Begeisterung und Leidenschaft in mir ausgelöst wurden.

    Kapitel 2

    VERLOREN

    Kühle frische Luft füllt langsam den Raum.

    Vertreibt alten, schweren, von Krankheit geschwängerten Mief nach außen in die Vergangenheit.

    Gardinen schweben, leicht spielend wie Federn, vor den geöffneten Fenstern.

    Ab und zu mischt sich ein wärmerer Lufthauch dazwischen - ein leises Ahnen des nahenden Frühlings.

    Der verschwommene Blick nimmt die fernen Konturen der Bergsilhouette kaum wahr.

    Das Weiß der schneebedeckten Bergrücken verschwimmt mit dem milchigen Himmel.

    Die Gedanken entschweben.

    Mischt sich da nicht auch der Geruch von Lokomotivenrauch in die Nase?

    Wirre Geräusche - Stimmen - Kommandos - weinende Kinder - Rufe - das Fauchen der Lokomotiven - das Rattern von Zügen? Tscht-tscht – tscht-tsch - klack-klack – klack-klack - klock-klock – tock-tock – toni-toni - toni-toni … Toni ….

    Kalt wird’s langsam im Zimmer. Der Mann kniet auf dem Boden und liegt mit dem Oberkörper über dem Bett. Wie viel Zeit ist vergangen?

    Eine Stunde? - Ein Tag? – Jahre? - 40 Jahre?

    Die Hände sind ineinander verschlungen.

    Seine langen Haare bedecken das liebe, kalt werdende Gesicht der alten Frau.

    „Toni – Toni … mein Bub …"

    Der Zug rattert weiter: Toni-Toni - mein-Bub – mein-Bub, Bub-Bub…

    Ihre Hand gleitet aus seiner…

    Wie im Film schweben die Wolken in der Ferne vorbei.

    Neue tauchen auf, um auch wieder auf der anderen Fensterseite zu entfliehen.

    Seine Gedanken führen einen Kampf - sie wollen bei der Mutter bleiben.

    Die Wolken verlocken sie jedoch sich anzuhängen, mit ihnen zu fliegen, - lassen sich nicht mehr bändigen - sie fliegen … fliegen… fliegen…

    * * *

    Durch den beißenden Rauch erscheint, zuerst unklar, auf der Bahnstation unbeschreibliches Chaos. Details werden immer deutlicher: abgestellte Transportwagen, Vieh-Transporter, teils zu Schrott bombardiert, ebenso viele Militärfahrzeuge, Panzer, zerstörte Gebäude.

    Dazwischen eine Unzahl von Soldaten, Zivilisten. Ohrenbetäubender Lärm.

    Ausgemergelte Gestalten in zerlumpten Wehrmachtsuniformen oder was noch davon übrig blieb, bemühen sich, teils mit primitivem Werkzeug, teils von Hand, die Gleise zu reparieren. Andere hantieren an Schrott-Fahrzeugen. Überall Bemühungen, in das Chaos Ordnung zu bringen. Was man vom Schrott irgendwie verwerten kann, wird ausgebaut, um andere Teile wieder gangbar zu machen.

    Erbärmlich gekleidete Soldaten, aber mit Waffen im Anschlag beaufsichtigen die Bauarbeiter, die offensichtlich Gefangene sind. Dazwischen hörte man deutsche Sprachfetzen. Mancher wird mit einem Gewehrkolben zur Eile angetrieben.

    Neugierige Zivilisten werden auf Distanz gehalten. Jeglicher Kontakt mit diesen bedauernswerten Menschen ist verboten.

    Die Zivilisten halten sich sowieso auf Abstand, schon damit sie möglichst nicht mit diesen Soldaten zusammen kommen, mit diesen will niemand etwas zu tun haben.

    Vereinzelte Worte in einer fremden Sprache sind zu vernehmen, offensichtlich russisch.

    Nur ein Kommandant pflegt offiziellen Kontakt mit der Seite der Zivilisten.

    Ein Lagerkommando, bestehend aus ausgedienten Wehrmachtsangehörigen, versucht, etwas Ordnung in das Tohuwabohu zu bringen.

    Fernes Pfeifen und dunkler Rauch kündigt einen neuen Transportzug an.

    Fauchend nähert sich die Lokomotive im Schritttempo.

    Ein neuer „Vieh"-Transport fährt ein, die Menschenmassen weichen zurück, Frauen ziehen ihre Kinder fort - Rufe, Schreie.

    Der Zug hält - die schwarze Lokomotive steht drohend!

    Heißer Dampf zischt seitlich ins Freie. Besonders die sich nahe befindlichen Personen drängen sich gegen die hinter ihnen stehenden Menschen, um nicht verbrüht zu werden. Menschen fallen übereinander.

    Erbarmungslos hat sich die Lokomotive Platz gemacht.

    Die Männer der mitfahrenden Wachtruppe springen von den Trittbrettern, eilen auf die einzelnen Wagen zu und stoßen mit den Gewehrkolben die Türriegel auf.

    Wychodi – Wsem wychodtj! (raus! – alles raus!)

    Mehr oder weniger zerlumpte Gestalten quellen aus dem Inneren und stürzen auf das Schotterbett, nachfolgende darüber. Kinder und Alte fallen heraus.

    Zu Bündel geschnürte Habseligkeiten werden ins Freie geworfen, deren Besitzer springen hinterher, um sie wieder einzusammeln. Hingefallene entfernen sich kriechend. Angehörige versuchen Hilfe zu geben.

    Unbeschreibliche Szenen spielen sich ab: Mütter mit kleinen Babys, in einem Tuch um die Schultern gebunden, andere ziehen die schon etwas größeren Kinder hinter sich her – nur schnell weg vom Zug. Männer drängen wieder zurück, um die sich noch in den Wagen befindlichen Habseligkeiten herauszuholen. Mancher findet seine Sachen nicht mehr, ein Anderer hat es wohl brauchen können.

    Wo sollen sie hin?

    Viele Menschen - sind es Hunderte? Tausende? - lagern schon in der Umgebung.

    Jede Möglichkeit suchend, ob Bauruine, zerschossener Wagen, Lkw – egal. Manche haben irgendwelche Planen gespannt, Hauptsache man ist etwas geschützt.

    Dazwischen qualmender Rauch, der zu Tränen reizt.

    Feuer sind entfacht. Frierende Hände werden aufgewärmt. Kleidungsstücke hängen darüber zum Trocknen. Hin und wieder verteilt sich auch ein angenehmer Duft –

    in Töpfen brutzelt irgendwas zu Essen.

    Das neue Jahr 1946 hat erst angefangen.

    Minus 10 ° C, nachts sogar noch etliches darunter. Niemand kann es messen.

    Es liegt zum Glück wenig Schnee. Was heißt Schnee, hier am Lagerplatz ist davon sowieso nur wadenhoher Matsch übrig, der nachts gefriert. Den Schnee können die Menschen aber sogar gebrauchen. Sie gehen mit diversem Geschirr hinaus, um außerhalb des Lagerplatzes sauberen Schnee einzusammeln – kostbares Wasser zum Trinken, zum Kochen und um sich etwas zu waschen.

    Zum Glück liegt ein kleiner Wald in der Nähe.

    Mancher sucht ihn auf, um seine Notdurft zu erledigen. Andere aber haben sich hier unter den schützenden Bäumen ihr Lager eingerichtet.

    Dorf-Gemeinschaften, Familien mit ihren Angehörigen, versuchen beieinander zu bleiben. Wie und wann geht es weiter?

    * * *

    Die Aktion der Vertreibung begann bereits 1945.

    Die geschlagenen deutschen Truppen waren schon lange fort. Diejenigen, die Pech hatten, befanden sich in russischer Kriegsgefangenschaft.

    In allen Ländern, von der Ostsee bis nach Jugoslawien, lebten Millionen Deutsche. Vor Jahrhunderten hatten sich diese hier angesiedelt. Damals bot sich ihnen die Möglichkeit, zu eigenem Besitz zu kommen. Die Menschen wurden sogar mit Versprechen mancher Privilegien angeworben, sich hier niederzulassen. Deutsche waren überall sehr willkommen.

    So haben die Einwanderer erheblich zur Aufwärtsentwicklung und Entstehung blühender Landwirtschaften beigetragen.

    Aber der 2. Weltkrieg, von dem auch die Länder betroffen waren, in denen die deutschen Neusiedler ihre neue Heimat gefunden hatten, veränderte die Einstellung der einheimischen Bevölkerung gegenüber den Deutschen.

    Aus Freunden wurden plötzlich Feinde, die man loshaben wollte.

    So wie damals eine Völkerwanderung in Richtung Osten stattfand, erfolgte jetzt die Umkehrung. Ort für Ort wurde „gesäubert".

    Die Frage war aber: Wer war „Deutscher" – das musste erstmals festgestellt werden.

    Viele „Deutsche" hatten auch, um bestimmte akademische Berufe oder ein Amt im Staatsdienst ausüben zu können oder aus sonstigen Gründen, ihre Namen in einen ungarischen umschreiben lassen.

    Bereits bei der Volksbefragung zu Kriegs-Anfang mussten sich die Ungarndeutschen entscheiden, ob sie sich zu der ungarischen oder deutschen Staatsangehörigkeit bekennen wollten. Niemand hatte aber eine Ahnung, welche Auswirkungen dies einmal haben würde.

    Die politischen Veränderungen wirkten sich verheerend aus: Solange die deutsche Armee siegreich war, waren viele Ungarndeutsche gern „Deutsche". Viele, auch richtige Ungaren, dienten in der deutschen Armee, freiwillig oder auch zwangsrekrutiert. Mit den Niederlagen fand aber auch ein Gesinnungswandel statt.

    Die bekennenden „Deutschen" wurden in Listen – in Transportlisten - eingetragen.

    Wieder wusste man nicht, was mit ihnen passieren würde.

    Die sich zur ungarischen Nationalität bekannten, also die „Ungarn" blieben in Ungarn. Es wurden aber alle enteignet.

    So entwickelte sich ein richtiges Katz- und Mausspiel:

    Die Leute versuchten auf verschiedene Weise und mit den raffiniertesten Tricks, ihre wertvollsten Gegenstände vor dem Zugriff zu verstecken. Manches wanderte nachts unter einen Strohhaufen, unter Sägespäne, Misthaufen oder man vergrub es in der Erde.

    Einzelne Häuser wurden schon schrittweise von Fremden bezogen. Die rechtmäßigen Besitzer mussten ausziehen und schauen, wo sie unterkamen. Dies konnte in Scheunen, Ställen, bei der Verwandtschaft oder auch in den Weinkellern sein, die jeder hatte.

    Gefährlich war aber das Verstecken von Gegenständen, alles war ja schon zu Volkseigentum erklärt. Überall Spitzel und Sympathisanten der Kommunisten.

    Letztendlich waren aber die Bemühungen, sich den Enteignungen zu widersetzen, zwecklos. So verteilten sich andere Entwurzelte, auch Enteignete aus den Nachbarländern, auf die verlassenen Besitztümer – im Ungewissen, ob das für immer war und deshalb ohne besonderes Engagement.

    Die zurückbleibenden Deutschen mussten so mit ansehen, wie ihr bescheidener Besitz größtenteils verwahrloste und verfiel.

    Alles „Deutsche" wurde auf jeden Fall untersagt.

    Letztendlich hatten diejenigen Glück, die sich für „deutsch entschieden hatten – das zeigte sich aber erst nach vielen Jahren, nachdem sie in ihrer „neuen alten Heimat integriert waren und es ihnen besser ging.

    Von „Glück" zu reden, betraf aber nicht die Alten, von denen sich viele nie mit dem Verlust ihrer Heimat abfinden konnten.

    Kapitel 3

    Die Vertreibung beginnt

    1945. Das traurigste Weihnachtfest aller Zeiten.

    Vor zwei Tagen hatte auch hier das Schicksal zugeschlagen, jetzt war dieser Landstrich dran: Die Deutschen werden ausgesiedelt – (schönes Wort)

    So voll war die Kirche noch nie. In dem 4000-Seelen-Ort lebten über 3000 Deutsche – alle katholisch und die meisten mussten fort. Viele verharrten vor der Kirche, damit sie auch noch einen Segen vom Pfarrer erhielten.

    Neues Jahr 1946.

    Eisiger, harter und schneereicher Winter.

    Mit dem Notwendigsten, was jeder so tragen kann, geht es ins Ungewisse.

    Zu Fuß machen sich die Menschen auf den Weg durch Schnee in eisiger Kälte - Richtung Budapest. Angetrieben auch von ungarischer Miliz.

    Manche haben das Glück, mit einem Pferdefuhrwerk mitfahren zu können oder wenigstens ihre Habseligkeiten auf einen Wagen aufladen zu dürfen.

    Teilweise werden auch manche, vorrangig Kranke, mit Militärlastwagen oder Sanitätswagen transportiert.

    Ein elender Zug windet sich durch den Schnee.

    Die letzten Blicke zurück - Tränen in den Augen. Im trüben Wintertag, die graue Silhouette - der Kirchturm - zum allerletzten Mal. Viele beten, bekreuzigen sich. Sie spüren, das ist für immer. Sie denken an die Angehörigen, die sie auf dem Friedhof zurücklassen müssen. Das ist im Moment das Schlimmste.

    Nicht einmal Blumen konnten sie ihnen zum Abschied hinstellen - jetzt im Winter. Mancher hatte noch zum Abschied einen Rosenkranz an das Kreuz eines Angehörigen gehängt.

    Most megj tovab - Auf, weiter geht’s

    Kleine Babys, unkenntlich eingewickelt in Tragetücher, die sie vor der Kälte schützten sollen, um den Hals gehängt, wimmern, weinen… Hunger… stillen? Trocken legen? – wie denn?!

    Immer schauen, dass man zusammenbleibt…

    Wo ist die Oma? … Wo ist denn nun wieder der Toni?

    Wo ist der Johann? - So geht es unterwegs.

    Der Tag vergeht. Müdigkeit. Die Beine schmerzen. Die Finger frieren. Die Nase läuft.

    Schon wieder austreten – wartet auf mich…

    Die dahinter Nachkommenden strömen auf der ausgetretenen Schneespur vorbei.

    Militärfahrzeuge kommen hupend von hinten, Soldaten fluchen.

    Menschen quälen sich seitlich in tieferen Schnee, um auszuweichen.

    Platz da – wir sind die Sieger! Mancher fällt in den zugewehten Straßengraben. Mühsam wieder herauskrabbeln, weiter geht’s. Ja niemanden verlieren!

    Mutter, ich hab so einen Hunger…

    In Decken eingehüllt, um sich vor dem beißenden Schneewind zu schützen, bewegt sich der gesichtslose Zug.

    Welches sind meine Angehörigen? Alle sehen gleich aus…

    Aus anderen Orten stoßen weitere Menschenschlangen dazu und vermischen sich.

    Es wird immer unübersichtlicher.

    Der Strom wird immer größer. Manches Gepäckbündel bleibt am Rande liegen. Ist es zu schwer geworden? Verloren?

    Viel wichtiger ist, dass man seine Angehörigen nicht verliert, dass alle zusammenbleiben.

    Eine Oma mit den sowieso kranken Beinen kommt nur langsam und mit Unterstützung ihres Sohnes weiter – sein Gepäck muss er auch schleppen und sein jüngstes Kind hängt an seinem Hosenbein.

    Aber Soldaten der siegreichen roten Armee drängen weiter:

    „Ostawj babku lezhatj - Lass die Alte liegen".

    Tatsächlich, je näher es Budapest zugeht, liegt hier und da ein größeres Bündel – das hier sieht doch aus wie ein Mensch? - schon teilweise mit Schnee bedeckt, teilweise schon der schützenden Decke entledigt – der am Boden Liegende braucht sie bestimmt nicht mehr.

    Hat die schon jemand mitgenommen, weil sie ein (noch) Lebender dringender brauchen kann?

    Wer ist es? – wer war es? – ist es sogar ein Bekannter? – gar ein Verwandter???

    Dies wird niemand mehr erfahren und auch die späteren Finder nicht interessieren.

    Die Gedanken dürfen sich nicht verweilen - weiter geht’s, Daljsche.

    Sie nähern sich der großen Stadt.

    Viele waren, obwohl es nur ca. 25 Kilometer sind, noch nie in ihrer Hauptstadt, haben aber oft davon geträumt, sie irgendwann einmal zu sehen.

    Dass man aber unter diesen Umständen hierher kommt, hat man sich nicht vorgestellt. Wahrscheinlich ist dies aber auch das erste und letzte Mal…

    Budapest hat man stets nur „die Stadt" genannt, es gab ja sonst keine andere, wenigstens nicht im weiten Umkreis.

    Früh setzt heute die Dämmerung ein.

    Dunkelheit, kaum Lichter. Zerschossene Ruinen ragen wie mahnende Finger in den nachtschwarzen Himmel.

    Was sollen wir hier?

    In den Straßen, auf freien Plätzen, in Bauruinen - überall lagern schon Menschen.

    Einen Platz suchen für die eine Nacht oder für mehrere?

    Immer wieder Aufrufe, Kontrolle nach den Namenslisten.

    Die Bewohner der verschiedenen Orte müssen zusammen-bleiben.

    Militärfahrzeuge und Fußtrupps bahnen sich Wege durchs Chaos.

    Alles ist in eine bestimmte Richtung orientiert - Richtung Bahnhof.

    Züge füllen sich mit Soldaten. Militärfahrzeuge werden auf Transporter geladen.

    Lärm. Flüche. Kommandos. Nachts rollen ununterbrochen die Militärtransport-Züge in jede Himmelsrichtung. Soldaten werden fortgefahren. Gefangene aufgeladen – fort. Andere kommen an – weitere Gefangene quellen aus den Viehwagen. Die werden wohl für irgendwelche Arbeitseinsätze benötigt.

    Verwundete werden ausgeladen. Sanitätsfahrzeuge rasen, teilweise mit Alarm-Signal, durch das Menschengewühl, wahrscheinlich ins nächste Lazarett.

    Sobald der Morgen graut: Trillerpfeifen, Aufrufe zum Sammeln. Abmarsch Richtung Züge.

    Vieh-Transporter, ganz selten auch normale Personenwagen, alles was irgendwie tauglich ist, um die vielen Menschen in möglichst kurzer Zeit fortzubringen. Alles füllen. Schnell, schnell. Manches Gepäckstück bleibt liegen.

    Wagen voll? – gibt’s nicht! - immer noch mehr rein.

    Schreien. Hoffentlich sind alle Angehörigen zusammen.

    Türen, Verschläge zu! Pfeifen, Tüüüt, ab geht’s.

    Die Oma und der Opa fehlen. Wo ist der Onkel? Die Tante ist da. Ein Kind fehlt? Hoffentlich sind die im anderen Wagen vor uns!??? Sehen wir die wieder???

    Dunkel ist’s im Wagen.

    Nur durch die Ritzen blitzt etwas Helligkeit - aber auch eiskalte Zugluft.

    Wohin geht’s? Wie lange wird die Fahrt dauern? Mief breitet sich aus. Am hinteren Wagenende ist ein Loch ausgesägt.

    Stunden vergehen. Die Blase drückt. Der Magen drückt, der Darm plagt.

    Vereinzelt stellt sich schon ein Mann ins Eck.

    (Männer haben’s eben einfacher). Der Zwang besiegt letztendlich die Hemmungen. Es geht eben nicht anders.

    Man kann jetzt nicht mehr von Mief sprechen – es stinkt.

    Manche halten sich schon ein Taschentuch vor die Nase.

    Kleinkinder müssen irgendwie trocken gemacht werden. Schreien, Weinen. Mütter säugen Babys an der Brust.

    Die Menschen müssen sich verständigen und ihre Plätze wechseln. Die außen Stehenden sind schon ganz erfroren. Sie wollen auch mal zur Mitte, da ist es wärmer. Natürlich wollen die Innenstehenden nicht gern ihre warmen Plätze aufgeben. Gerangel.

    Männer haben im „bestimmten Eck" ein Brett aus der Wand gerissen, damit der Gestank erträglicher wird. Jetzt kommt dafür aber viel kalte Luft herein.

    „Zumachen!" schreit jemand.

    „Auflassen!" ein anderer, der in der Mitte steht.

    „Du hast gut reden, bei dir ist’s warm!"

    So geht es. Die Stimmung ist gereizt und auf dem Tiefpunkt.

    Soll es so vielleicht tagelang weiter gehen, stellt sich mancher die bange Frage.

    Eine alte Frau ist zusammengebrochen. Die Strapazen wurden ihr zu viel. Sie will aber auch nicht mehr! Zu was denn - es geht fort - ihre Heimat ist verloren - Haus, Hof, ihr kleiner Acker - wo sind ihre Angehörigen, sie hat sie hier im Wagen nicht mehr gesehen. Warum soll sie also weiterleben?

    Für ein Sträflingslager in Sibirien? - letztendlich bis zum Verrecken? Dass sie etwas Gutes erwartet, daran glaubt sie nicht mehr. Sie liegt am Boden. Außen an der Seitenwand. Scharfer Fahrtwind zieht durch die Ritzen herein.

    Sie spürt es irgendwann nicht mehr… hat sich ein Höherer erbarmt?

    Stunden endloser Fahrt.

    Man hat kein Gefühl, in welcher Gegend man sich befinden könnte. Für sie war ja sowieso alles fremd, was mehr als ein paar Kilometer von ihrem Heimatdorf entfernt lag. Man ist ja nirgends hingekommen.

    Durch die Ritzen sieht man schwach, dass es schneit.

    Wird der Zug langsamer? Tatsächlich. Ruckeln. Der Zug steht.

    Nichts tut sich. Männer wollen den Verschlag öffnen. Es geht aber nicht. Die Verriegelung ist außen.

    Was haben DIE mit uns vor?

    Etwas entfernt hört man russische Kommandos.

    Hundegebell. Klagende Menschen. Ein Schuss.

    Oh Gott, wollen die uns erschießen???

    Die an der Seitenwand Stehenden starren gebannt aus den Ritzen. Da vorne sieht man Soldaten mit Gewehren im Anschlag. Ihre Hunde zerren wild an ihren Ketten.

    Leidensgenossen verbreiten sich über ein freies Feld.

    Jetzt wird auch ihr Verschlag entriegelt und aufgerissen.

    Die direkt vorn Stehenden fallen zum Teil heraus, ganz steif vom langen Stehen auf einer Stelle und von der Kälte.

    Wsem wychoditj – Weshi ostawitj! (Alles aussteigen - Gepäck drinlassen!)

    Vater im Himmel - das ist bestimmt unsere letzte Stunde?!

    Für die Transporte sind jeweils Sprecher der Evakuierten ausgesucht worden, die russisch reden. Mit diesen besprechen die Russen etwas.

    Alle spitzen die Ohren. Unruhe, Angst…

    Manche fangen schon an zu weinen. Mütter drücken ihre Kinder an sich, Männer umarmen ihre Angehörigen.

    Ihr Sprecher kommt auf sie zu: „Wir machen hier Rast, es passiert euch nichts, ihr könnt austreten, aber dass keiner den Versuch unternimmt, abzuhauen. Die warten nur drauf, sie möchten gern mal wieder schießen und die Hunde möchten auch ihren Spaß haben."

    Alle reden durcheinander.

    „Wir müssen auch etwas essen, in den Wagen war es ja nicht gut möglich."

    Der Sprecher entfernt sich, verhandelt und kommt wieder zurück. „Also gut, ihr dürft von euren Sachen was herausnehmen, aber alles wieder in die Wagen legen, es kann jederzeit weitergehen."

    Hektik. Die einen bemühen sich, schnell etwas aus ihrem Bündel herauszuholen, andere suchen, soweit es ihnen ermöglicht wird, ein Plätzchen, wo sie sich erleichtern können. Hemmungen haben jetzt keine Gültigkeit mehr.

    Überleben heißt die Devise.

    Bohrende Fragen haben die Unglücklichen auf den Lippen:

    „Wo sind wir, wo werden wir hingebracht, was wird mit uns geschehen?"

    Ihr Sprecher hat eine beruhigende Erklärung parat:

    „So viel ich weiß, werden wir alle in den Westen gebracht, bestimmt nach Österreich oder Deutschland. Zurück kommen wir bestimmt nicht mehr. Ich glaube auch nicht, dass wir in Gefangenschaft müssen." Gemischte Gefühle. Erstmal Erleichterung, die Minen hellen sich auf.

    Der Verlust ihrer Heimat tut weh - wird aber im Augenblick verdrängt.

    Wichtig ist jetzt, den Transport zu überstehen. Wie weit ist Deutschland überhaupt entfernt? Die ganze Zeit in dem eiskalten Zug, da werden viele erfrieren.

    Reicht unser Essen? Die geben uns bestimmt nichts! (so viel sie sehen, leben die Soldaten auch nicht üppig).

    Sie stehen mit ihrem Zug auf freiem Gelände, offensichtlich eine Ausweichstrecke. In einiger Entfernung sieht man einen großen Fluss. Das muss die Donau sein.

    Zwei Transportzüge mit Militärfahrzeugen beladen und ein Zug mit Soldaten, fahren in Gegenrichtung vorbei, wahrscheinlich in Richtung Heimat.

    Zum Teil fröhlich dreinblickende Gesichter schauen aus den Fenstern, manche singen sogar.

    Ein Soldat wirft irgendeine Dose heraus.

    Bevor aber ein Kind danach greifen kann, hat sie schon einer ihrer Wächter an sich genommen. Der reißt die Dose auf und verschlingt den Inhalt. Offensichtlich war was Essbares drin.

    Pfeifen, Befehle, es geht weiter. Dawaj, dawaj idi!

    Schnell alles zusammenpacken und einsteigen. Im ganzen Durcheinander, bemerkt man erst jetzt, dass die alte Frau, die schon im Wagen den Zusammenbruch hatte, reglos im Schnee liegen bleibt. Zuerst wollen zwei Männer sie aufheben, in den Wagen rein hat aber keinen Sinn – zu spät! Begraben? – unmöglich.

    „Dawaj" - in die Wagen, schnell, schnell.

    Gott sei Dank, ein paar waren so beherzt und haben die Notdurft-Ecke sauber gemacht. Vom Gebüsch hat man Zweige abgerissen und in die Ecke gelegt. So ist der Platz nicht mehr ganz so unansehnlich. Ist alles beieinander? Der Verschlag wird schon zugehauen und verriegelt. Pfeifen, Kommandos, Ruckeln und schon setzt sich der Zug langsam in Bewegung. Die an der Seitenwand Stehenden sehen noch aus den Ritzen das traurige Bündel Mensch, das einsam im Schnee im Nirgendwo zurückbleibt.

    Tränen in den Augen.

    Also: Westen. Zukunft ungewiss.

    Diesmal dauert es nicht mehr Stunden.

    Die Stimmung ist durch das Klammern an die Hoffnung auf einen relativ guten Ausgang ihrer Reise gestiegen. Die Fahrt verlangsamt sich. Es geht an bereits stehenden Zügen vorbei. Überall Soldaten. Zeltlager. Im Schritttempo immer weiter.

    Stillstand. Warten. Endlos.

    Die Ungeduld wächst. Wieder ein Stück weiter. Es wird hoffentlich bald Tag.

    Stopp. Warten.

    Anschwellendes Stimmengewirr. Quietschende Riegel. Öffnen des Türverschlags.

    Wychodi, weshi bratj s soboj. (Aussteigen, alles ausräumen)

    Wieder das qualvolle Aussteigen. Wieder fallen ein paar Schwache zur Luke hinaus auf den Schotter. Einer Frau fällt ihr Baby aus den Händen hinunter, wo es schreiend liegen bleibt. Andere werfen zuerst ihre Habseligkeiten hinaus und folgen gleich hinterher, um ja nichts zu verlieren.

    Es ist offenbar eine Bahnstation und Sammelplatz.

    Überall sind Scheinwerfer aufgestellt.

    Alle Aussteigenden werden von Bewachungstrupps umstellt.

    Kommandos zum Nachfolgen. Sie werden durch Gassen von bereits angekommenen Leidensgenossen bis zu einem freien Platz geführt. Da wird ihnen verständlich gemacht, dass sie sich niederlassen sollen. Schnell packen sie ihre Decken und Ähnliches aus. Zusammengehörige versuchen sich etwas zu schützen, indem sie sich dicht aneinanderdrängen.

    Die eiskalte Nacht müssen sie überstehen. Zum Morgen hin ist die Kälte am schlimmsten. Überall vor Kälte wimmernde Menschen. Kurzer Dämmerschlaf erlöst sie von den Schmerzen und quälenden Gedanken. Ein eiskalter klarer Morgen lässt sie aber wieder schlotternd erwachen.

    Überall Husten, Schnäuzen. Jammern.

    Aufstehen, die Gelenke bewegen, die Glieder reiben - ja nichts erfrieren. Das lässt sich aber bei vielen nicht vermeiden.

    Ein Militär-Jeep fährt vor. Einer unterhält sich mit ihrem Sprecher. Dieser wendet sich anschließend an seine Gruppe:

    „Ein Wunder geschieht, fünf Mann müssen mitkommen, Geschirr mitnehmen, wir sollen was zu Essen holen." Freudenäußerungen gehen durch die Reihen. Jeder will natürlich mit. Mit fünf Ausgewählten marschieren sie ab.

    Die Zurückbleibenden warten sehnsüchtig.

    Es vergehen aber über zwei Stunden bis sie zurückkommen.

    Die Hungrigen stehen schon lange da und warten darauf, was die sechs Männer bringen werden. Endlich, die Kolonne ist in Sicht. Die Hälse werden lang. Kinder können es nicht mehr aushalten, Wachen wollen sie zurückdrängen.

    Vergeblich, die Kinder wuseln ihnen zwischen den Beinen durch und rennen auf die Entgegenkommenden zu.

    Voll bepackt, eine Schubkarre haben sie auch dabei. Zwei andere haben eine Art Feldbett, das sie tragen - und alles ist voll beladen. Ein Durcheinander. Viele Fragen. Hände werden ihnen entgegengestreckt. Jeder will etwas davon haben.

    Die Wachen versuchen, etwas Ordnung in die Masse zu bringen. Es geht ja nicht, wenn alle gleichzeitig drauf losstürmen. Eine Reihe bilden, jeder sollte irgendein Behältnis dabeihaben, damit er etwas aus den großen Kesseln erhalten kann. Zusätzlich werden noch Brotlaibe und Päckchen mit völlig unbekannten Süßwaren verteilt. Außerdem noch warme Decken. Außer der Art Eintopf in den Kesseln, der ursprünglich heiß war, aber jetzt natürlich unterwegs abgekühlt ist, gibt es noch ganz ungewöhnliche und fremde Sachen:

    Schokolade! – viele haben dies bis jetzt gar nicht gekannt beziehungsweise noch nie gegessen. Irgendetwas in kleinen Päckchen mit einer total fremden Sprache darauf, sodass man gar nicht weiß, was man damit machen soll.

    Und Zigaretten! Manche paffen gleich eine, bevor sie von dem Eintopf probierten.

    Später stellt sich heraus, dass in den kleinen Päckchen Kaugummis waren! Wie isst man den? - oder ist der zum Lutschen?

    „Ja und wo wart ihr denn? wo ist das alles her? Gibt’s da noch mehr?" Mit solchen Fragen werden die Überbringer bestürmt.

    Die sechs Männer kommen sich wie Helden vor und erzählen stolz: „Wir sind ca. zwei Kilometer marschiert, überall lagern Landsleute von uns. Wir sind offenbar schon in Österreich.

    Und stellt euch vor, dort sind die Amerikaner. Die sollen uns übernehmen. Die haben dort riesige Lager, scheinbar mit allen Gütern, die man braucht. Und in einer riesigen Küche gab es Essen. Überall Warteschlangen davor. In der Küche kamen wir uns vor wie im siebten Himmel. Da war es natürlich herrlich warm und ein himmlischer Geruch vom Kochen."

    Ein Wunder war geschehen.

    „Jetzt müssen wir nur noch ein Dach über den Kopf bekommen."

    Aber dies sollte noch eine Weile dauern.

    Eine rege Betriebsamkeit herrscht im Lager.

    Allerlei Gerüchte, Vermutungen gingen durch die Reihen.

    Es wurde auch streng darauf geachtet, dass sich niemand unberechtigt von seiner Gruppe entfernt. Viele kleinere Häufchen wurden zusammengelegt, so dass große Gruppen entstanden, aber die Bewachung einfacher wurde.

    Für die Menschen wurde es dagegen schwieriger und unüberschaubarer. Man musste auf seine Angehörigen aufpassen, dass man ja niemanden verlor. Leicht konnte man sich hier verirren, vor allem die vielen Kinder. Für sie war es ja interessant, denn sie wollten alles auskundschaften. Mancher kleine Knirps war auf einmal verschwunden und die Eltern in panischer Angst, wenn sie es bemerkten.

    Das mit den Amerikanern, das reizte doch ungemein. Man hat schon allerhand von diesen Leuten gehört. Die stammen aus einem Wunderland, jenseits des großen Ozeans. Alle dort leben im

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