Die Mutter: Blätter aus dunklen Tagen
Von Gutti Alsen
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Buchvorschau
Die Mutter - Gutti Alsen
Gutti Alsen
Die Mutter
Blätter aus dunklen Tagen
Sharp Ink Publishing
2023
Contact: info@sharpinkbooks.com
ISBN 978-80-282-7147-3
Inhaltsverzeichnis
I.
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1918.
II.
Den 15. November 1918.
III.
Den 22. November 1918.
IV.
Den 2. Dezember 1918.
V.
Den 18. Dezember 1918.
VI.
Den 29. Dezember 1918.
VII.
Den 31. Dezember 1918.
Den 1. Januar 1919 abends.
VIII.
Den 20. Januar 1919.
IX.
Den 29. Januar 1919.
X.
Den 30. Januar 1919.
XI.
Den 16. Februar 1919.
XII.
Den 10. März 1919.
XIII.
Den 20. März 1919.
XIV.
Den 9. April 1919.
XV.
Den 30. Mai 1919.
XVI.
Den 25. Juli 1919.
XVII.
Den 30. Juli 1919.
XVIII.
Den 2. August 1919, am Morgen.
Den 2. zum 3. August 1919, in der Nacht.
Wir Verlag / Dr. Kurt Bock / Berlin NW 87
I.
Inhaltsverzeichnis
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1918.
Inhaltsverzeichnis
Wie seltsam dies alles war am Tage, der dieser Nacht voraufging! Und wie es mir jetzt, da ich den verfallenden Stimmen nachlausche, als ein gleichgestimmter Klang erscheint! Gell, schneidend, aufrührend! In blanker Frühe die Nachricht vom Ausbruch der Revolution. Tagsüber der schreiende Regensturm in den gekrümmten Gassen der alten Seestadt. Am wundgepeitschten Abend die Aufführung des gewalttätigen Stückes, dem die Menge zum Schluß wie in Besessenheit Beifall kreischte. Und endlich der Rausch der drei Jünglinge neben mir beim Heimweg im wehen Abendnovember!
Oft, im schleichenden Gehen der langen, unendlichen Jahre des Krieges hatte ich in Gedanke und Rede dem Wunsche Ausdruck gegeben, sie mögen ein Ende machen, die Soldaten aller Länder. Unpolitischer als ein halbwüchsiger Knabe, hatte ich mit diesem Anruf einer fremden Macht gespielt, wie ein geschlagenes Kind etwa, das, um straffrei zu bleiben, Kaiser zu werden bittet. Nun meiner Bitte Gewährung geschah, stehe ich diesem Zustand genau so verängstet, genau so hilflos gegenüber wie das Kind, dem kaiserliche Gewalt verliehen wäre.
Das also ist das Gesicht der Revolution am ersten Tage ihrer Geburt! Elf Mann, deren Namen unerforschbar blieben, hatten in vergangener Nacht die Herrschaft der Handelsstadt an sich genommen, kampflos, mit einer großartigen Selbstverständlichkeit. Die tags zuvor noch Gebieter des Volkes geheißen, waren zu Hunderten hingemäht, wie hohe Halme von einem einzigen Sichelschlag. Durch die nassen windigen Gassen aber brodelten den ganzen Tag die Stürze der Volksmassen, oder sie stauten sich an einem Platze um irgendeinen Redner, dessen Worte am Sturm zerbrachen. Jünglinge mit brennenden Augen und großen Gebärden gaben Freudenschreie in den Tumult. Flieger beschütteten die Menge in knappen Zwischenräumen mit weißen Blättern voll flammender Überschriften. Autos mit brandroten, klatschenden Fahnen trugen in toller Fahrt halbwüchsige Burschen an irgendein geheimnisschwangeres Ziel.
Ich aber strich mit schweren Gliedern und mattem Herzschlag an den Häusern hin, die hinter dieser Empörung der Menschen und der Elemente düsterten, und sah junge, blutstrotzende Offiziere erbleichen, weil ihnen lärmende Buben in aufsehenerregender Art die Zeichen ihre Standes abrissen und mit dem Straßenschmutz mengten. Ich sah einen weißhaarigen, hohen Militärsmann, mit Tränen auf den Wangen und gespreizten Fingern um die Vergünstigung betteln, seine Entehrung in einem Hausflur vornehmen zu dürfen... mit eigenen Händen. »Ich habe sie fast fünfzig Jahre getragen«, stammelte sein verblaßter Mund, während die gekrampften Hände sich zu den Achselklappen und der Kokarde zu heben mühten und sein ganzes blutentleertes Gesicht in Schmach und Schwachheit zuckte. Und – o Wandelbarkeit der menschlichen Empfindungswelt – mein Gefühl, das sich bislang gegen dieses mittelalterliche Bleibsel gerichtet hatte, flog ihnen heute, als den Getretenen, in warmer Wallung zu.
Da wandte ich mich von der Stadt ab und von dieser Erhebung des Volkes, die neue Gewaltsamkeit an Stelle der alten setzte, und strebte unter den breiter fallenden gelben Regengüssen meinem Heim entgegen, vorbei an krüppligen Weidenbäumen, die auf schwarze Felder starrten, vorbei an grünlich aufglimmenden, tränenüberstürzten Fenstern, heim zu meiner stillen Arbeitsstube, mit meinen angefangenen Zeichnungen, mit den alten, vielgelesenen Büchern und den wundersamen Schattengebilden einer zerwehten Zeit, die doch die Gegenwart auszuwischen vermochten.
Vor der Gartentür harrten bereits, bebend in ungebärdiger Erwartung, die drei Freunde: meine Söhne Ludwig und Henno und ihr Jugendgenosse Kurt Georg. »Wie, hatte ich dies denn vergessen können, daß heute die so schmerzvoll ersehnte Aufführung des aufwühlenden jungen Dramas vor sich gehen sollte, das der Familie Revolution ansagt?...« stürmten sie mir entgegen. »Und war es nicht das bedeutsame Zeichen einer herrlichen Zukunft, daß diese Tat am ersten Tage der Volksauflehnung geschah? Hoch, dreimal hoch der jungen Republik und allen Umstürzen in ihrem Gefolge! In die Abfallgrube mit vermoderten Vorurteilen und mit allen Tyrannengesetzen!«
Es blieb mir nur knappe Frist, mich umzukleiden und die Taxe zu besteigen, welche die drei fiebernden Gefährten inzwischen aufgetrieben hatten. Dann ließ ich, von den Jünglingen durch lange Reihen geschieden, das brutale Werk des genialen jungen Dichters allein zu mir sprechen. Ich stand in verschüchtertem Staunen der Raserei des Publikums gegenüber. Ich hörte die Begeisterungsstürme der drei Knaben beim Heimweg den Wintersturm in den nächtigen Gassen noch überschreien und suchte im gedämpften Schein meines Zimmers mit List und mit Bemühen den heutigen Tag meinem Sein, meiner Denkwelt einzuordnen... Vergebens...
Durch alle geschlossenen Türen, über einen Gang hinweg, hörte ich sie die halbe Nacht hindurch toasten, jubeln, singen und deklamieren, die drei Getreuen, denen diese Zeit Anfang des Lebens ist. Denn was stand für sie an Verstandenem, an Erlittenem, an Erlebnis vor diesem Tage? Nichts als der Krieg, den sie als Kinder feiernd begrüßt und den sie dann aus Büchern und Schriften der »Jüngsten« verachten gelernt hatten, ohne eigenes Durchdenken der einen und der anderen Richtung...
Draußen gab sich der Sturm in Schrecken an die trübselige Nacht hin. Ich sehnte eine alte Sehnsüchtigkeit, ein Bild, ein Erinnern, einen Traum herbei, irgend etwas, um flüchtend diese Jahre der Not und Schwere abzusperren. Ich beschwor eine funkelnde Friedensstadt, einen winterblauen Morgenaufgang im Eisenbahnwagen über Schneeland, eine süße Straße im Regenglanz, einen fernen Freund... Umsonst... Sie löschten hin, wie dem Andersenschen Mädchen die Bilder vor den verflackenden Schwefelhölzern, sobald mein verlangender Sinn sie greifen, sie halten wollte.
Ich trug meine müde Traurigkeit zu den jugendberauschten Knaben. Sie achteten meines Eintritts kaum. Purpur auf den Wangen und Erschütterung in der Stimme, die nichts von der sonst gewollten Gelassenheit des Studenten der