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Der Junge im gelben Jackett: Erinnerungen - Erzählungen - Träume
Der Junge im gelben Jackett: Erinnerungen - Erzählungen - Träume
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eBook162 Seiten2 Stunden

Der Junge im gelben Jackett: Erinnerungen - Erzählungen - Träume

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Über dieses E-Book

Dieses ungewöhnliche Buch enthält viele Bücher. Es verdichten sich in Peter Weitzners Roman "Der Junge im gelben Jackett" Erinnerungen, Erzählungen Träume und Reflexionen über Kunst zu einem zeitgeschichtlichen Dokument.
Peter Weitzner schreibt aus der Sicht eines Malers. Insbesondere geben seine Künstlerporträts die Aufbruchsjahre nach dem Kriege wieder. Es begann die Zeit, als sich die Kunst neu erfand.
Es ist auch ein Buch über Berlin, als über den weiten, leer geräumten Trümmerflächen ein bleiches Licht lag. Die Maler trafen sich in der Paris-Bar, um erregt über ihre unterschiedlichen Positionen zu streiten. Entstanden ist ein facettenreiches Gesamtpoem
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum23. Okt. 2015
ISBN9783738055368
Der Junge im gelben Jackett: Erinnerungen - Erzählungen - Träume

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    Buchvorschau

    Der Junge im gelben Jackett - Peter Weitzner

    Erster Teil: Wir revoltieren, also leben wir

    Die eine, noch

    zu befahrende Meile

    Melancholie.                               Paul Celan

    Der einbrechende Abend verdunkelt die Straße, Wind fegt in Böen durch seine Haare. Unschlüssig ist er, ob er noch länger auf seinen Freund Peter Peterson warten oder doch schon die Linie 18 in die Innenstadt nehmen soll. Er versenkt sich in den Anblick der Straßenschlucht. In den Fenstern gehen jetzt nach und nach die elektrischen Lichter an. Von einem Moment zum anderen dünkt er sich einem Nichts ausgesetzt zu sein, als wäre die Leere in seinem Magen ein raumgreifendes Organ, als wäre er ein anderer in sich selbst.

    Ein Flugzeug durchkreuzt den Luftraum.

    Die Dinge verbergen etwas, von dem man nicht zu sagen wüsste, was es ist. Es ist eine beunruhigende Freiheit, die ihn durchdringt, ähnlich dem Wind, der ihn an dieser zugigen Straßenecke erfasst.

    Da steht der Junge im gelben Cordjackett am Ende der Geschwister-Scholl-Straße, und schaut, scheinbar unbeeindruckt vom Sturm, in eine unbestimmte Ferne. Nicht starr, sondern forschend, in Erwartung eines noch nicht auszumachenden Ereignisses.

    „Was ist mit dir, träumst du?" Peter Peterson steht vor ihm.

    „Endlich, du bist spät dran."

    „Es gab Zoff mit meiner Mutter. Sie verschloss die Wohnungstür

    und versteckte den Schlüssel. Ich musste ihn erst finden, um raus zu können."

    „Gut, gehen wir."

    Das war im Jahr neunzehnhundertdreiundfünfzig. Wie jeden Abend wollten sie in eine Jazzbar am Dammtor, dem Treffpunkt der „Exis. So wurde eine Gruppe von Jungen und Mädchen genannt, die, wohl mehr aufgrund ihrer Aufmachung als nach Sartres Philosophie ihre Bezeichnung erhielt. Doch was sie beide betraf, war Sartre ihr Schutzpatron. Sie stritten über die Interpretation seines Stückes „Die schmutzigen Hände. Sie hatten vor, es aufzuführen. Die Straßenbahn war überfüllt; sie hingen draußen am Trittbrett.

    „Er legt die Naivität einer idealistischen Haltung bloß. Das politische Geschäft, auch das der Revolution, wird von Bedingungen der Realität diktiert. Wer sich da nicht schmutzig machen will, kann nichts bewirken", rief Peterson.

    „Sein Stück offenbart aber, wodurch der revolutionäre Geist vergiftet wird", antwortete der Junge im gelben Cordjackett.

    „Ach was! Sartres Mann stellt sich den Bedingungen, die keiner sich aussuchen kann, um trotzdem handeln zu können."

    „Aber er zeigt zugleich den Umschlag in eine Absurdität, die Menschenopfer fordert."

    „Es gibt keine Revolution ohne Opfer!"

    „Richtig, sich opfern aber kann nur aus einer persönlichen Entscheidung kommen und nicht die Entscheidung eines anderen sein."

    An der Station Klosterstern gelangten sie ins Innere der Straßenbahn. Peter Peterson zuckte mit den Achseln: „Die Frage ist so einfach nicht zu klären, jedenfalls nicht durch Schöngeistigkeit."

    In der Straßenbahn provozierte ihr Auftritt die Leute. Die Haare wirr im Gesicht, die hautengen Hosen – eine Aufmachung, die in den Fünfzigern missbilligende Blicke auf sich zog. Sie unterhielten sich lautstark. Peterson brach des Öfteren, den Kopf in den Nacken werfend, in irres Lachen aus, tanzte von einem Bein auf das andere und sah sich bisweilen abrupt um, als wenn ihm etwas entgehen könnte. Seine ins Gesicht hängenden schwarzen Locken, sein fahlgelbes, mageres Gesicht ließen, wenn er, seinen Redefluss unterbrechend, verharrte, um durch das Fenster zu spähen, an einen Jüngling der Antike denken. Der Junge im gelben Cordjackett mit aschblondem Lockenkopf gestikulierte beim Reden, schlug jemandem den Hut vom Kopf, fing ihn im selben Moment aber auf und reichte ihn lachend zurück.

    Hineingeworfen in einen schutzlosen Raum, ihre Verletzlichkeit missachtend, überboten sie sich darin, diese mit großartigen Gesten zu überspielen. Von der augenblicklichen Gier zu leben erfüllt, geriet alles Erlebte in den Hintergrund. Nur so ist es zu erklären, dass sie ihrer persönlichen Geschichte wenig Aufmerksamkeit schenkten. Es reichte ihnen, diese zu erwähnen, ohne weiter eindringen, ja, ohne die Geschichten zu genau wissen zu wollen. Vielleicht war ein unausgesprochenes Einverständnis im Spiel. Sie wussten Bescheid in einem grundsätzlicheren Sinn. Sie hatten als Kinder erfahren, was Verfolgung und Vernichtung bedeutet und welche Wirrnisse und Ängste sie auslösen. Jetzt aber streiften sie alles ab, was ihren augenblicklichen Launen im Wege stehen könnte.

    Peter Peterson und der Junge im gelben Cordjackett waren ein Gespann, wie durch unbekannte Energie zusammengeführt. Sie stellten sogar fest, dass sie am gleichen Tag Geburtstag haben.

    Getrieben, eine aufgestaute Energie auszuleben, streiften sie jede Nacht durch die Stadt. Das Zentrum ihrer Ausschweifungen war die Bar „Handtuch", ein verräucherter Schlauch, in dem es Live-Musik gab. Es war die Zeit des Jazz. Die Mädchen, auf die sie trafen, hatten strähnige Haare, waren bleich geschminkt, die Augen im fahlen Gesicht schwarz umrandet. Sie nahmen sich das Recht, zu tun und zu lassen, was sie wollten.

    Der Jazzdance, dem Rhythmus der Synkopen unterworfen, variierte in kurzen, abrupten Schrittfolgen, ein Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung. Die rasanten Tänze wurden unterbrochen vom Blues. Dann schmiegten sich die Mädchen und Jungen aneinander. Mit offenen Mündern atmend, bewegten sie sich kaum noch von der Stelle, um allein ihre Körper zu spüren.

    Im Nebenraum, debattierten die über Zwanzigjährigen. Über den runden Tisch zogen Rauchschwaden. Die tief hängende Lampe gab ihren Gesichtern eine diabolische Note. Eine Zeitung lag vor ihnen, Stalin war tot, hieß es in der Schlagzeile. Ein Junge mit Stoppelhaar schrie, dabei mit der flachen Hand auf die Zeitung schlagend: „Er ist zu früh abgetreten, er hat seine Sache noch nicht zu Ende geführt, es ist ein Jammer!"

    Ein Bärtiger lachte: „Du meinst die Schauprozesse, die Massenmorde?"

    „Blödmann, du hast ja keine Ahnung von Dialektik, die Notwendigkeit und Freiheit als Einheit begreift."

    „Ja, gewiss doch, die Notwendigkeit, die Menschen frisst!"

    Der Junge im gelben Cordjackett lehnte sich an einen Pfeiler, um die Gruppe aus einiger Entfernung ins Auge zu fassen, ihr mimisches Spiel auf sich wirken zu lassen.

    Es wurde kontrovers diskutiert, einer überschrie den anderen. Mit einem Mal empfand er die erhitzte Erregung als nutzlos, die Widersprüche, in einer fehlgeleiteten Realität begründet, als unlösbar. Ein Mädchen, in einem bis zum Oberschenkel geschlitzten Kleid, die in der Nähe des Tisches auf einem Barhocker saß, verfolgte den Disput mit einem ironischen Lächeln. Sie war ihm schon vorher aufgefallen, weil sie auf eine herbe, ungewöhnliche Art schön war. Es war ihr gefasster Ausdruck, ihr klarer Blick, der ihn faszinierte, wie sie die Runde von ihrem erhöhten Sitz aus beobachtete, als würde sie nicht nur den widerstreitenden Argumenten folgen, sondern die Personen als Ganzes erfassen wollen. Sie schien zu bemerken, dass auch er alles wahrnahm und lächelte ihm zu. In einer Ruhepause, als die Stimmen für einen kurzen Moment verstummten, warf sie einen Handschuh auf die Zeitung, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und sagte, als alle sie ansahen, betont ruhig: „Stalin hat Hitler besiegt, das ist als Erstes festzustellen!"

    „Was willst du damit sagen, Celia, sind Stalins Verbrechen damit nichts?", fragte einer mit einer kreisrunden Brille im hageren Gesicht.

    „Stalin brachte seine politischen Gegner um, das ist das, was in jeder Revolution passiert. Zum Verbrechen wird es, wenn die Gewalt auf jedermann übergreift, wenn das Volk selbst zum Feind wird. Doch Hitler aberkennt den Juden und anderen bestimmten Menschen, ob Kindern, Frauen, Männern, das Recht, überhaupt zu leben. Das pure Sein ist ihr Vergehen. Im ersten Fall verrät die Revolution sich selbst, im zweiten wird die Zivilisation vernichtet. Es ist das Ende von allem."

    Das Mädchen argumentierte ruhig, streifte dabei aber mit einer unnachahmlich ungeduldigen Geste ihre schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sie überzeugte mich. Stalin hat Hitler besiegt, das musste bedacht werden.

    Ein Langer, der mit am Tisch stand, warf nun ein, wobei er den Bärtigen fixierte: „Es gibt Leute, die immer noch so naiv sind zu glauben, die Geschichte, auf ihrem Höhepunkt angekommen, würde darauf warten, bis sich alle ihre Widersprüche wohlgefällig und friedlich auflösen."

    Der Bärtige lachte: „ Oh, wer ist diese faszinierende Gestalt, die Geschichte heißt; die uns zum Zweck des Guten zwingt, Dinge zu tun, die wir sonst nie verantworten würden?"

    Er verließ den Tisch und machte eine wegwerfende Handbewegung.

    Das Mädchen Celia zog an ihrer Zigarette und kommentierte mit ihrer rauen Stimme seinen Weggang:

    „Der Mann hat keinen Schimmer von Politik, vom Wesen der Revolution null Ahnung und spielt sich hier als Moralist auf. Was kann man schon von solchen Typen erwarten, wenn es darum geht, die Verhältnisse zu verändern?"

    Sie blies den Zigarettenrauch gegen die Decke und lachte ihn an.

    Der Junge im gelben Cordjackett lachte zurück, wurde aber von einem anderen Mädchen auf die Tanzfläche im Nebenraum gezogen.

    Peter Peterson gab beim Tanzen eine bizarre Figur ab. Mit bleckenden Zähnen – die Lust zog sein Gesicht zu einer grinsenden Maske zusammen – schleuderte er mit abrupten Gebärden seine Partnerin umher und warf ruckartig seine schwarzen Locken. Von Raserei ergriffen, schien sein hagerer Körper das Skelett seiner Existenz bloßzulegen. Nur in ekstatischen Eruptionen war die Lust zu leben wiederherzustellen.

    Der Stil des Jungen im gelben Cordjackett war nicht minder wild, vielleicht weniger fanatisch, er tanzte figurenreicher. Aber was sich glich, war die Leidenschaft, die ihren Tribut einforderte.

    Später, vom Tanzen erhitzt, ging der Junge vor die Tür, machte einige Schritte in die Nacht hinaus und traf unvermutet auf Celia.

    „Ach, du bist es, sagte sie lachend. „Vorhin hast du so aufmerksam zugehört, ich würde gern wissen, wie du die Sache siehst.

    Nachdenklich, ihn hatte die Thematik die ganze Zeit nicht losgelassen, antwortete er:

    „Ich fürchte, die Revolution ist gestorben und mit ihr die Geschichte. Sie wurde vertan, als sie notwendig war. Ich meine, vor neunzehnhundertdreiunddreißig. Das war der Höhepunkt der Geschichte, das war der Moment zu handeln. Es hätte nie geschehen dürfen, was danach geschah; es ist irreparabel. Die Menschheit hat versagt. Aber jetzt noch von Revolution zu sprechen …?"

    „Wir revoltieren, also leben wir!", unterbrach sie ihn lachend.

    Sie gingen einige Schritte auf die Moorweide hinaus.

    „Auschwitz ist noch nicht beendet, es kann sich überall wiederholen."

    Ihm fiel dieser Satz ein, ohne ihn vorher bedacht zu haben. Sie sah ihn an:

    „Das ist es ja: Die Revolte, notwendig wie nie zuvor, stirbt nicht", erwiderte sie ruhig.

    Nach einer kleinen Weile, sie sah ihn lächelnd an, fügte sie hinzu: „ Der Höhepunkt der Geschichte ist auch keine Kirchturmspitze, sondern ein Hochplateau. Da befinden wir uns noch immer."

    Nun lachte auch er sie an: „Gut, überqueren wir das Plateau der Geschichte."

    Sie machte einen Schritt auf ihn zu, und sie umarmten sich. Einen Augenblick standen sie da, einander umschlungen, umhüllt von der Nacht.

    Auf dem Nachhauseweg entlang der nächtlichen Rothenbaum‑Chaussee, die Straßenbahn fuhr nicht mehr, gingen Peter Peterson und der Junge schweigend nebeneinander her.

    In jenen Momenten der Stille spürten sie die Unruhe der Zeit. Sie waren in jener Epoche angekommen, in der jedwede Zukunft von der Gegenwart assimiliert wurde, und diese Wucht des Gegenwärtigen, seine überbordende Energie, die geeignet war einen auszulöschen und das Gefühl vermittelte, ausgeliefert zu sein, einer Macht, die jedes und alles umfasst, von deren inneren Zusammenhalt man nicht die geringste Vorstellung hatte, hinterließ nichts als Leere. Die Botschaft war: Das ist die entblößte Realität. Es gibt nichts, was sie nicht bereits enthält, also auch ihre Auslöschung oder, sehr ungewiss, ihre Befreiung. Entweder – Oder.

    Peter Peterson brach das Schweigen und fragte den Jungen, was er von der Stalindiskussion halte.

    „Du hast sie also auch mitgekriegt?"

    „Ich stand hinter dir, du hast mich nur nicht bemerkt." Er fügte hinzu: „ Die Argumente des schwarzhaarigen Mädchens müssten dir doch zu denken

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