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Carlos Lunten: Ein Hippiemärchen aus der östlichen Provinz
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Carlos Lunten: Ein Hippiemärchen aus der östlichen Provinz
eBook147 Seiten2 Stunden

Carlos Lunten: Ein Hippiemärchen aus der östlichen Provinz

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Über dieses E-Book

Die Geschichte spielt in der östlichen Provinz, ein paar Jahre nach dem Mauerbau. Dumpfe Parteibonzen regieren das Land. Der Glaube an den Kommunismus ist höchstes Gebot. Wer nicht glauben will, wird gläubig gemacht. Tom ist ein naiver Träumer, der mehr an die Musik der Stones und Doors glaubt als an die Lügen der Partei. Mit 17 fliegt er von der Schule, weil er die Mauer für eine Gefängnismauer hält und sich von keinem was anderes erzählen lässt. Der Direktor prophezeit ihm, eines Tages im Zuchthaus zu landen. Der Vater schneidet ihm die Haare kurz, die Mutter schämt sich, weil er so missraten ist. Als er eine Einladung von der Polizei im Briefkasten findet, will er nur noch weg. Aber wohin? Ist er nicht längst in einem riesigen Zuchthaus gefangen, so groß wie das Land? Oder ist er nur ein Gefangener seiner Ängste und Träume, die sein Leben zerstören, bevor es begonnen hat?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Jan. 2020
ISBN9783750221574
Carlos Lunten: Ein Hippiemärchen aus der östlichen Provinz

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    Buchvorschau

    Carlos Lunten - Martin Rudolfski

    BYE BYE PENNE

    Als ich mit siebzehn von der Schule flog, gingen für mich alle Lichter aus. Es war der letzte Donnerstag vor den Winterferien, ich erinnere mich noch genau, weil wir donnerstags immer Sport hatten und meine Turnschuhe weg waren. Irgendjemand hatte sie versteckt, was mich aber nicht störte, weil ich in der Sportstunde diese Aussprache mit Direktor Rot hatte.

    Ich schob die Haare hinter die Ohren, um meine Mähne zu entschärfen, als ich in Rots Vorzimmer trat, wo seine Sekretärin irgendwas tippte. Sie deutete auf die Tür, an der Oberstudienrat stand, Direktor der Erweiterten Oberschule.

    Mein blaues Heft lag auf Rots Tisch.

    Ob ich das kenne, fragte er.

    Blöde Frage. Stand doch mein Name drauf. Morzinek, Tom, Fritz Rudolph. In voller Länge und Schönheit. Welcome to the other side. Meine Handschrift war es auch.

    Rot rückte seine klobige Karl-Eduard-von-Schnitzler-Brille zurecht, blätterte in meinem Heft, berührte die Seiten aber nur mit den Fingerspitzen, als handele es sich um etwas Giftiges. Schließlich betrachtete er ein Foto von Brian Jones, das ich ins Heft geklebt hatte, verglich ihn mit einem Landstreicher, der nicht wisse, wo es lang gehe. Auch Geschmack fehle ihm, er kleide sich wie eine komische Schießbudenfigur.

    Aber irre Songs, sagte ich. Während ein Teil vom mir ängstlich in Deckung ging, wurde ein anderer von sturem Eigensinn gepackt.

    Irre Songs, sagte Rot. Balla Balla, Yeah, Yeah? fragte er. Kein Wunder, dass ich bei diesem wüsten Indianergeheul, das über den Äther aus dem Westen in unser Land schwappe, die Orientierung verloren habe. Er blätterte weiter in meinem Heft. Antifaschistischer Schutzwall, las er vor, Schlag ins Gesicht aller Deutschen! Seine Stimme wurde lauter. Zerstörte Seelen, las er weiter, ein halbes Volk! Oder vielleicht alle? fragte er. So einen Humbug habe er lange nicht gehört. Und dieser Sohn des Seeadlers, wer das denn sei?

    Ein Freund, sagte ich, wollte schon ein paar Mal abhauen.

    Abhauen? fragte Rot.

    Ja, sagte ich, in den Westen.

    Das gefiel Rot, weil er meinte, dass es nur die Verrückten in den Westen trieb. Die Söhne der Seeadler und andere Verirrte und Kriminelle. Er sprach von negativen Elementen, wahrhaftig gesehen Volksverrätern, die alle etwas auf dem Kerbholz hätten, Schwerverbrecher und Nazis auch, die sich der gerechten Strafe des Volkes entziehen wollten. Aber wer das tue, gehöre bestraft, im Ernstfall auch erschossen. Wahrhaftig erschossen, betonte Rot, man wisse ja nicht, ob das nicht selbst Mörder seien.

    Wahrhaftig, das war eines seiner Lieblingswörter, wenn er seine knallharte Weltsicht zum Besten gab. Er überlegte kurz und schwang sich dann zu einer längeren Rede auf, in der er mich in Verbindung mit diesen Kriminellen oder sogar Verrückten brachte, mir ähnliche Absichten unterstellte. Er kam extrem in Rage, sah einen Feind der Arbeiterklasse in mir, ein durch und durch negatives, ideologisch verseuchtes Element. Er brauchte ein Opfer, ich spürte es. Immer lauter wurde er. Ein fremdes Wesen blies sich in ihm auf. Mit schneidender, scharfer Stimme machte es sich Luft. Ein fanatisches Krächzen war zu vernehmen. Bald klang er wie einer dieser komischen Nazis, die ich aus dem Thälmannfilm kannte.

    Ich blickte Hilfe suchend auf den gerahmten Staatschef an der Wand. Sein Spitzbart schien in ein ungläubiges Flattern zu verfallen, wie ein Fächer fast, als wolle er dem Direktor Abkühlung zu wedeln, worauf der sich plötzlich besann.

    Woher ich die Fotos habe, fragte er leiser, als sei ihm eine Idee gekommen.

    Sind mir so zugeflogen, sagte ich.

    Zugeflogen? Rot lachte wie einer, der sich nicht ernst genommen fühlt.

    Wie Flugblätter, sagte ich. Vom Himmel herab. Sie lagen unterm Maulbeerbaum. Irgendjemand flüsterte mir die Sätze zu. Was ich tat, brach mir das Genick. Aber ich konnte nicht anders, weil Rot so ein Arschloch und überhaupt alles so verlogen war.

    Wie interessant, sagte Rot.

    Ja, bei uns im Dorf, sagte ich.

    Da steht ein Maulbeerbaum? fragte Rot.

    An der Friedhofsmauer, sagte ich.

    Rot nahm die Brille ab, setzte sie wieder auf. Wer solche Fotos verbreitet, sagte er, macht sich strafbar, und wer Elemente deckt, die solche Fotos verbreiteten, auch. Das ist höchst kriminell und schädlich für die Partei, für den Weltfrieden insgesamt, denn dieses wilde Balla Balla Yeah Yeah ist nichts anderes als akustische Kriegsvorbereitung, wahrhaftig genommen Kriegsgeheul. Rot näherte sich meinem Gesicht, blickte beschwörend auf mich herab. Sie wissen also nicht, wer diese feindlichen Bilder dort hingelegt hat? fragte er. Eine Chance gab er mir noch, wie es schien. Einen Namen wollte er hören, oder mehrere. Es wäre von Vorteil, wenn ich mich besser erinnerte.

    Ich erinnere mich genau, sagte ich, eines Tages fand ich sie unterm Maulbeerbaum. Ich nahm sie einfach mit. Dann lagen wieder welche dort. Jemand legte sie dort ab. Vielleicht war es der Wind?

    Sie werden eines Tages im Zuchthaus landen, sagte Rot. Seine Geduld war aufgebraucht.

    Das Wort Zuchthaus hallte in mir nach, holte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich war wieder im Zimmer, Rot gegenüber.

    Jugendwerkhof war schon schlimm, wo Peter, der Sohn des Seeadlers, die Hälfte seiner Jugend verbracht hatte. Von Peter wusste ich, wie schlimm Jugendwerkhof war. Sie hatten dort ein menschliches Wrack aus ihm gemacht. Peter war praktisch ein totales Wrack, weil er die Hälfte seiner Jugend im Jugendwerkhof verbracht hatte. Und Jugendwerkhof war das Zuchthaus für Jüngere, für solche, die noch nicht alt genug waren, um ins Zuchthaus zu kommen. Ins Zuchthaus kam man erst, wenn man volljährig war, und Zuchthaus war noch viel schlimmer als Jugendwerkhof, auch viel schlimmer als Knast, weil man im Zuchthaus alle Rechte verlor. Da wurde man solange hingebogen, bis ein ganz anderer neuer sozialistischer Mensch aus einem hervorgequollen kam, und das alles in einem finsteren Loch, wo es feucht und schimmelig war und demütigend stank, weil das Klo neben dem Bett stand und ohne Deckel war, und die Wände waren kalt und nackt, und das Licht in den Zellen erlosch jeden Abend um 9, ob man wollte oder nicht, das Licht wurde einfach ausgeknipst. Egal, wie einem grade zumute war, um 9 abends brach Dunkelheit herein, wie an diesem Donnerstag für mich schon am frühen Morgen um 9.

    Rot bat mich, meine Bücher und Hefte einzupacken und unverzüglich die Schule zu verlassen. Er jagte mich fort, erteilte mir strengstes Schulverbot. Die Begründung werde in Form einer schriftlichen Beurteilung nachgereicht.

    Verurteilung, dachte ich. Zuchthaus, Verurteilung, die Worte wirbelten durch meinem Kopf.

    Und noch eines möchte ich ihnen mit auf den Weg geben, sagte Rot, griff in seine Geldbörse, drückte mir 70 Pfennige in die Hand. Das war der Preis, den man für eine anständige Bürste zahlte, einfachste Form. Der Friseur am Stadtpark erledige das perfekt.

    Ich bedankte mich für den Tipp, zierte mich aber, das Geld anzunehmen. Irgendwie war ich völlig erledigt. Eine Art Galgenhumor überkam mich. Ich fing an zu grinsen, weil nichts mehr zu retten war. In meinem Kopf drehte sich die Welt. Ich schwebte über dem Boden, keine Haftung mehr. Zuchthaus, Verurteilung. Mein Gesicht verzog sich unwillkürlich. Ich schnitt Fratzen für Rot. Ein Teil von mir lachte sich halb tot, der andere schaute erschrocken zu. Ich stand neben mir, parodierte mich selbst, schlug die Hacken aneinander wie ein folgsamer Soldat.

    Und noch eines, sagte Rot. Es heiße nicht Mauer, sondern antifaschistisch demokratischer Schutzwall.

    Ganz ihrer Meinung, antwortete ich schwärmerisch. Höchste Errungenschaft des Arbeiter- und Bauernstaates. Einmalige Architektur! Yeah, yeah. Ganz irrer Song!

    Verschwinden sie, schrie Rot, packte mich am Oberarm, schob mich raus. Er wurde grob vor Wut. Damit hatte er nicht gerechnet. Ich auch nicht. Auch der Spitzbart im Wechselrahmen nicht. Der winkte zum Abschied verständnislos.

    Für Rot war ich ein hoffnungsloser Fall, und ich war stolz, ihm das bewiesen zu haben.

    Ich hatte das Gefühl, ganz woanders zu sein. Für Momente war ich nicht da, wo ich war, sondern irgendwo neben mir, in Sicherheit, mit einem Grinsen im Gesicht. Schulrausschmiss, dachte ich amüsiert, wie betrunken. Zuchthaus hin, Verurteilung her, auf der Mauer tanzt ein Zottelbär.

    Als ich die Schule verließ, lief mir Haller über den Weg. Haller war mein Klassenlehrer und der einzige Erwachsene, der irgendwie Verständnis für mich hatte. Er wollte wissen, was Direktor Rot gesagt habe.

    Nichts weiter, sagte ich. Der Herr Direktor war schwer aufgebracht, weil ich den antifaschistischen Schutzwall mit einer Gefängnismauer verwechselt habe, sonst nichts. Ich versuchte zu lachen, weil Haller nicht merken sollte, dass es mir irgendetwas ausmachte, grade von der Schule geflogen zu sein.

    Haller sah mich bekümmert an, sprach von der Schwere meines Falles, der keine mildernden Umstände zulasse, alles liege schon dem Bezirksschulrat vor. Es gebe einen einstimmigen Beschluss auf höchster Ebene.

    Die Schwere meines Falles! Ich stellte mir das Ganze in Kilogramm umgerechnet vor. Keine Ahnung, wie schwer das wog. Schwer genug jedenfalls, um mich platt zu walzen.

    Auch Haller machte mich fertig, warf mir vor, arrogant und unbelehrbar zu sein. Aber er konnte nicht anders. Er tat nur seine Pflicht als Klassenlehrer.

    Die Umstände verlangten es, sie zwangen uns hinter Masken, wie in einem Theaterstück, in dem jeder vorzugeben hatte, ein anderer zu sein, als er wirklich war. Aber es war kein Theater, sondern der Sozialismus, der uns hinter diese Masken zwang. Der Sozialismus machte aus uns so komische Maskenträger.

    Zum Schutz hatte sich Haller diesen seltsamen Bart wachsen lassen. Er sah damit ganz anders aus. Wie ein alter Seereisender oder Erfinder oder wie Nikitin Afanassi, der vor einem halben Jahrtausend von Russland nach Indien aufgebrochen war.

    Haller schaute besorgt und irgendwie traurig. Es tue ihm leid, sagte er, aber er könne nichts für mich tun. Er wünschte mir viel Glück.

    Ich packte meine Sachen, schlich durch einen Hinterausgang aus der Schule. Auf der Straße kam der Wind aus allen Richtungen gleichzeitig, zerrte an mir, als wolle er mich umwerfen oder wegfegen. Die Fassaden der Häuser schnitten Fratzen, die höhnisch auf mich herab lachten. Ein Unwetter zog auf. Es blitzte und donnerte kurz hintereinander. Dann begann es wie aus Fässern zu schütten. Als ich endlich die Bushaltestelle erreichte, war ich klatschnass und halb erfroren.

    Ich setzte mich in die Wartehalle, starrte nach draußen in den Regen, der langsam in Schnee überging. Der Bus kam erst gegen Mittag, zwei Stunden zu spät, aber es war mir egal, denn ich wollte nicht nach Hause. Ich stieg nur in den Bus, weil ich nicht wusste, wo ich sonst hinfahren sollte.

    Der Busfahrer musterte mich gleichgültig. Er hatte rote Flecken im Gesicht und roch, als hätte er gestern zu viel getrunken. Meine Fahrkarte wollte er nicht sehen. Ich setzte mich ganz nach hinten, fühlte die Hose, die klatschnass war und eiskalt an den Waden klebte. Am liebsten wäre ich wieder ausgestiegen, weil mich zuhause nur Mutter erwartete, die wahrscheinlich in Ohnmacht fallen würde, weil ich von der Schule geflogen war.

    Als ich das erste Mal zur Penne radelte, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass ich auf diesen knallharten Abgang zusteuerte.

    Es war ein milder, fast warmer Septembermorgen, die Sonne stieg höher, vertrieb die letzten Nebelschwaden aus den Uferwiesen. Ich radelte schneller, spürte den Fahrtwind, der über mein Gesicht strich. Das Dorf blieb hinter mir zurück. Ich wollte Abitur machen und später

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