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Halbzeiten
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eBook212 Seiten3 Stunden

Halbzeiten

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Über dieses E-Book

Wie bekommt man mehr Leben in die Tage, wenn es nicht mehr Tage zum Leben gibt? Wie nutzt man seine Zeit am besten und mit wem? Frau Timo will 90 werden. Die Journalistin hat ihr Leben in zwei Halbzeiten geteilt. Sie ist 44, die erste Halbzeit neigt sich dem Ende. Sie will nichts verpassen. Während sie darüber nachdenkt, ob sie fristgerecht ablieben kann und ihren Körper beim Älterwerden beobachtet, entwickelt sich ihr Leben grundlegend anders als gedacht. Es füllt sich! Die Tage werden praller. Ihr Leben benimmt sich, als wäre es auf die Zielgerade eingebogen und will noch einmal alles geben. Am Ende hat sie eine Wahl, jedoch nicht die, mit der sie gerechnet hatte.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Aug. 2015
ISBN9783738038231
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    Buchvorschau

    Halbzeiten - Anja Nititzki

    Anja Nititzki

    Halbzeiten

    Roman

    Frau Timo hat ihr Leben in zwei Halbzeiten geteilt. Sie ist 44, die erste Halbzeit neigt sich dem Ende zu und sie will nichts verpassen. Während die Journalistin darüber nachdenkt, wie sie mehr Leben in ihre Tage bekommt, ob sie fristgerecht ablieben und mit wem sie ihre Zeit am besten nutzen kann, entwickelt sich alles grundlegend anders als gedacht. Ihr Leben benimmt sich, als wäre es auf die Zielgerade eingebogen und will noch einmal alles geben. Am Ende hat sie eine Wahl, jedoch nicht die, mit der sie gerechnet hatte.

    Für J. L.

    Die Autorin

    Anja Nititzki, Jahrgang 73, lebt und arbeitet in Halle (Saale). Sie ist in Sangerhausen geboren und in der DDR aufgewachsen. Nach ihrem Studium in Halle (Saale) ging sie nach Hamburg und arbeitete als freie Journalistin für Fachzeitschriften und Agenturen. Seit ihrer Rückkehr in ihre Heimat produziert sie Fernsehreportagen, steht als Reporterin vor der Kamera und als Moderatorin auf der Bühne.

    Inhalt

    Erste Halbzeit

    Kapitel 1 … Timoschenko und der Graue Wolf

    Kapitel 2 … Spiderman und Tarzan

    Kapitel 3 … Youngman

    Kapitel 4 … Spiderman allein zu Haus

    Kapitel 5 … Tatort Kneipe

    Kapitel 6 … Opfer und Täter

    Kapitel 7 … Brauche Mann, der mich nicht braucht

    Kapitel 8 … Echte Schmuckstücke

    Kapitel 9 … Falsche Adresse

    Kapitel 10 … Rock ’n’ Roll im Fahrstuhl

    Kapitel 11 … Orientierungslos

    Kapitel 12 … Die Siezgelegenheit

    Kapitel 13 … Abpfiff

    Zweite Halbzeit

    Kapitel 1 … Wie sag ich’s meinem zukünftigen Ex-Freund

    Kapitel 2 … Nachruf für Kohl

    Kapitel 3 … Sonnenblumen

    Kapitel 4 … Vergessen

    Kapitel 5 … Freier Samstag

    Kapitel 6 … Bypass

    Kapitel 7 … Dunkles Kapitel

    Kapitel 8 … Beziehung ohne Namen

    Kapitel 9 … Russendisco

    Kapitel 10 … Zum ersten Mal

    Erste Halbzeit

    Kapitel 1 … Timoschenko und der Graue Wolf

    Der Graue Wolf war mir zugelaufen. Er wurde ausgesetzt, kurz vor Heiligabend. Plötzlich war er ohne festen Wohnsitz. Seine Verflossene hatte über Nacht ein neues Türschloss in sein Haus einbauen lassen. Warum? Weil er mich kennengelernt hatte! Wobei das nicht ganz korrekt ist, denn er und ich kannten uns bereits seit Jahren. Wir waren und sind Kollegen. Wir arbeiten bei der Zeitung. Ich schreibe die Artikel, er macht die Fotos dazu.

    Nun stand er vor meiner Tür, ausgestattet mit zwei blauen Müllsäcken, die er bedeutungsschwer vor sich her trug. Seine Ex hatte ihm auf diese Weise so liebevoll wie deutlich „Lebe wohl" gesagt, ihm seine Kleidung portioniert. Gelegentlich wurde die Empfangsdame an der Rezeption in der Redaktion Teil der Schlüpfer-Logistik zwischen ihr und ihm, weil seine Ex ihm dort die blauen Müllsäcke zu deponieren pflegte.

    Ich nahm ihn bei mir auf und führte fortan ein sehr ruhiges Leben. Was für mich als Frühaufsteherin, Schnelldenkerin, Blitz-Entscheiderin und „Immer zu wenig Zeit-Haberin" eigentlich jenseits meiner Vorstellungskraft lag.

    Mit dem Grauen Wolf an meiner Seite verbrachte ich fünfzig Prozent meines Beziehungslebens damit zu warten.

    „In Hektik passieren Fehler war einer seiner Leitsätze, gefolgt von „Eile macht den Weg nicht kürzer. Ich liebte ihn für jeden dieser Sätze, er brachte Ruhe in meinen Alltag und ich genoss die Zweisamkeit, gewährte ihm und seinen blauen Schlüpfersäcken Asyl auf unbestimmte Zeit, schuf bald Platz in meinen Schränken und in meinem Bett. So schlich er sich peu à peu in mein Leben, langsam, beharrlich, unaufgeregt, leise.

    Mein Kollege aus der Foto-Abteilung hatte mir schon immer gefallen. In der Redaktion wirkte er meist wie lebendiges Inventar. Man hörte ihn nie, er bewegte sich bedächtig. Ein grauhaariger Schleicher, der seine Telefonate im Flüsterton abhielt. Immer umwehte ihn der Ruch des Geheimnisvollen, vielleicht sogar des Verbotenen, Unbekannten, weil er so unglaublich leise war. Für mich machte ihn genau das interessant.

    Für mich – die „Timoschenko". Das ist mein Spitzname. Die Redaktion hat ihn mir für meine Timoschenko-Frisur verliehen, ein Kunstwerk, was für meinen Freund so beeindruckend war wie ein Weltwunder, das jeden Morgen aufs Neue entstand. Ich selbst hatte Jahre damit verbracht, mir mein Haar bis zum Hosenansatz wachsen zu lassen und Monate dafür, das Binden des Zopfkranzes zu üben. Die ukrainische Ex-Regierungschefin hatte dafür bestimmt eine Zofe.

    Und eines Morgens, als sich dank der Schlüpfer-Logistik herumgesprochen hatte, dass die Timoschenko und der Graue Wolf ein Paar waren, fand ich ein „Rotkäppchen und der Wolf"-Plakat an der Wand rechts neben meinem Schreibtisch angepinnt. Dazu ein paar Flaschen Rotkäppchen-Sekt und meine feierlaunigen Kollegen, die mit den Gläsern klirrten.

    Unser grauer Redaktions-Wolf bekam nach dem Umbau im Großraumbüro ein neues Revier zugewiesen. Zusammen mit den anderen beiden Bilderfängern bezog er seinen Arbeitsplatz am Ende des schlauchförmigen Büros. In einem Anflug von Zuneigung heftete ich ein Plakat über seinen Schreibtisch. Die Naturschutzbehörde rief dazu auf, den Wolf zu schützen. „Rettet Isegrim, prangte in roten Lettern unter dem Porträt eines grauen Wolfes. Das hatte zur Folge, dass die Fotografen-Lounge in „Wolfsschanze umgetauft wurde. Über die alte Diskussion, ob man über derlei verbale Relikte aus dem Zweiten Weltkrieg Witze machen durfte oder nicht, waren die Journalisten in unserer Redaktion längst erhaben. Alle konnten darüber schmunzeln, nur einer nicht: Napoleon, unser Chef.

    Der kleine Diktator residierte am gegenüberliegenden Ende des Großraumschlauches in seinem Aquarium. So nannten wir sein Büro – ein Glaskasten, in dem sich der kleine Mann nicht vor uns neugierigen Spähern verbergen konnte, nur vor unseren Lauschangriffen. Das Aquarium war schalldicht, aber nicht blickdicht. Nicht einmal ohne Aufsicht in der Nase bohren, konnte er, kein versonnenes Ohrenschmalzschürfen blieb ungeahndet, kein vergeistigtes Haaresortieren blieb ungesehen, kein Zurechtrütteln seines verklemmten Gemächts unbeobachtet, kein gieriges Verschlingen von Keksresten unbemerkt. Eigentlich hatte er es schwer, unser kleiner Diktator. Aus humanitären Gründen hätte man ihm Jalousien vor die Glaswände seines Aquariums hängen können, auch für uns Außenstehende wäre das ein Gnadenakt der Menschlichkeit gewesen. Doch Mitleid hatte sich unser Chef bislang noch nicht verdient!

    Im Verlauf seiner journalistischen Karriere durfte jeder von uns Mitarbeitern Napoleons Chef-Aquarium nur in den seltensten Fällen betreten. Eigentlich nur einmal zum Einstellungsgespräch oder zur Verabschiedung. Der Chef war in seinen Entscheidungen unberechenbar, willkürlich, eben ein zu klein gewachsener Mann! Unvorstellbar, dass es Menschen geben konnte, die ihn mochten. Aber es musste sie geben. Unsere Büroputzfrau war die Einzige, die in sein Aquarium hinein durfte, wenn er nicht darin saß. Sie hatte eines Tages herausgeplaudert, dass er einen besonders hübschen Bildschirmschoner hatte. Das schöne Wort „Schubberbär" zog auf dem Monitor Kreise und veränderte in regelmäßigen Abständen seine Farbe. Dass er ihn sich selbst geschrieben hatte, schien mir unwahrscheinlich und die Putzfrau war es sicher auch nicht.

    Eines Morgens bat er mich per E-Mail in sein Büro. Kommunikation war nicht seine Stärke, denn er hätte mich auch direkt einladen können, als er mir auf Brusthöhe im Fahrstuhl gegenüberstand und es verkniffen vermied, zu mir aufzuschauen. Ich war keine besonders große Frau, Napoleon jedoch ein besonders kleinwüchsiger Mann. Vermutlich fühlte er sich besser, mir von seinem Bürosessel aus eine Audienz aufzuzwingen, als meine Brust zu besprechen. Mir sackte sofort das Herz in die Magengrube, ich bekam trockene Lippen und schiere Angst machte sich breit, Aufruhr in der Kehlkopfgegend!

    Ich hob mich schwerfällig von meinem Bürostuhl, mit dem sicheren Wissen, dass es das letzte Mal war, dass ich ihn als Inventar der Redaktion allein an meinem Schreibtisch zurückließ. Meine Kollegen wussten Bescheid, ich hatte Napoleons Einladung gleich per E-Mail an alle weitergeleitet. Ihre Blicke sprachen Bände: Angst, der Nächste zu sein, Mitleid, Unverständnis. Selbst aus der Wolfsschanze vom anderen Ende des Büroschlauches vernahm ich ein gespanntes Knistern. In den Augen meines Grauen Wolfes sah ich Rebellion. Er würde mich rächen oder Napoleon den Krieg erklären, wenn der mir den Kampf ansagte. Ich lief mit klopfendem Herzen den Bürogang entlang, der mir heute besonders endlos erschien, schritt wie Jeanne d’Arc zum Scheiterhaufen, wie Marie Stuart zu ihrem Henker.

    „S sss ch Timo! Der vollständige Satz: „Setzen Sie sich, Timoschenko, war Napoleon wohl zu persönlich und zu verschwenderisch. In der Redaktion musste gespart werden, auch an Worten. Meine Position sollte sich schlagartig verbessern, denn sobald ich saß, hatte Napoleon die Chance, mir auf Augenhöhe zu begegnen.

    Ich ließ meinen Blick nicht von dem Kleinen, positionierte mich aufrecht ihm gegenüber, nahm die Schultern zurück, drückte meine Brust heraus, das Kinn leicht angehoben, die Augen starr auf mein Gegenüber geheftet. Ich wollte in Würde geköpft werden. Ich sinnierte krampfhaft, welchen Fehler ich begangen hatte, welcher Fauxpas mir diesen Gang zum Schafott beschert hatte.

    „Timo, Sie sind vorlaut, sarkastisch und bisweilen zynisch. Sie machen mir hier zu viel Stimmung. Das gefällt mir nicht, aber dadurch sind Sie eine für die ganz harten Nüsse und für die abwegigsten Geschichten. Können Sie sich vorstellen für unser Blatt jeden Montag eine „Tatort-Kolumne zu schreiben? Das Volk guckt jeden Sonntag um 20.15 Uhr geschlossen den Tatort in der ARD. Am nächsten Tag ist Volkes Stimme auf sämtlichen Plattformen zu lesen, nur nicht in unserer Zeitung. Ändern Sie das! Versuchen Sie aus Blut und Sperma irgendwas Nettes, Aufrichtiges zu machen. Ich will beim Lesen schmunzeln können – mindestens! Der Chef hatte nicht zum Köpfen ausgeholt, sondern zu meinem Ritterschlag und zum Übertragen einer schweren Bürde auf meine Schultern: Was Nettes machen – aus Blut und Sperma!

    Kapitel 2 … Spiderman und Tarzan

    „Meine Elfe, ich bin stolz auf dich! Bei uns zu Hause gab es keine Timo und auch keinen Grauen Wolf. Die beiden gab es nur in der Redaktion. Mein Freund nannte mich gern „Elfe oder gar „Elflein, stets verziert mit einem süffisanten Grinsen. Denn ich war wirklich keine Elfe. Ich schwebte nicht im leichten Seidenfähnchen auf zartem Fuß durch unsere Wohnung. Ich war auch keine Frau mit Kleidergröße Zero und ich pflegte keine Essstörung, die mich durchsichtig oder zart wie eine Elfe erscheinen ließ. Ich war eine ganz normal gebaute Frau, vielleicht hier und da zu viele Muskeln. An den richtigen Stellen war ich wirklich Frau, entgegen dem allgemeinen Schönheitstrend. Kurzum: „Elflein spottete jeder Beschreibung, aber es war lieb gemeint und ich musste jedes Mal lachen, wenn meinem Freund dieses leichte Wort nur sehr schwer über die Lippen kroch, weil sie sich schon beim ersten Buchstaben zu einem Grinsen verzerrten.

    Im Gegenzug nannte ich ihn „Spiderman oder „Mr. Slowly, weil er der bedächtigste und langsamste Mann war, den ich je in mein Herz geschlossen hatte und der sich frei in meiner Wohnung bewegen durfte.

    Ich war stolz auf den Auftrag von Napoleon, aber vor allem beunruhigt.

    Eine Kolumne war keine Filmkritik, ich musste mir mehr einfallen lassen und vor allem Tatort-Expertin werden. Doch zunächst wurde unser Zuhause zum Tatort, meiner Meinung nach zum Tatort für Tierquälerei.

    Spiderman und ich teilten uns die Wohnung mit Bärbel und Tarzan, unseren Katzen, meinen Katzen. Es tat mir in der Seele weh, wenn mein Freund die Katzen mit geübtem Griff im Nacken packte, sie in die Luft hob und mir auf mein erschrockenes Gesicht hin erklärte, das man Katzen genauso anfassen müsse und nicht anders. Aber was er heute tat, war unverzeihlich. Er schnappte sich Tarzan, legte ihn auf den Bauch und aufs Parkett. Anschließend fasste er ihn hinter den Ohren und begann ihn im Kreis herumzuwirbeln. Es sah aus wie die Todespirouette bei der Eistanz-WM. Tarzan streckte alle Fünfe von sich und drehte übers Parkett bis Spiderman ihn bremste, lachte und mich darüber aufklärte, dass diese Übung „Cosmos-Cat hieße. Der Kater sprang auf, schwankte und hatte für einen kurzen Moment die Orientierung verloren. Ich wurde wütend. „Spider, lass sofort Tarzan in Ruhe, der Kater war eher da als du! Der Satz war nicht klug, aber es brach mir das Herz, mit anzusehen, wie das arme Tier pirouettiert wurde. Es war ein Satz, den mir mein Freund auf ewig vorhalten würde, denn er besagte, dass Tarzan ein älteres Hausrecht hatte als er und er stellte ihn mit dem Tier auf eine Stufe. Mich machte der Satz nachdenklich, denn er kam mir keineswegs als Witz über die Lippen. Er war das Resultat jahrelangen Zusammenlebens mit meinem Freund. Ich erwog gelegentlich, ihn eigentlich nicht zu brauchen. Er war mein Wegbegleiter, mein Vertrauter, mein Kamerad. Aber war er auch der Mann, den ich wollte und brauchte? Wäre das Leben ohne ihn womöglich leichter?

    Ich setzte mir selbst eine Galgenfrist. Ich war jetzt 44, das Ende meiner ersten Halbzeit stand bevor. Ich rechnete, falls mich weder ein Krankenhauskeim noch ein Unfall dahinrafften, damit, dass ich 90 Jahre alt werden würde. Ich nahm mir vor, bis zum Winter darüber nachzudenken, ob ich meine zweite Lebenshälfte zusammen mit Spiderman verbringen wollte. Ich musste mich entscheiden, bevor es für mich zu spät wurde. Ich wälzte Gedankensteine, denn mich quälte das Gefühl, dass die Zeit schneller läuft. Mit 44 lag mein Leben nicht mehr so unendlich lang vor mir. Es war bereits ein Ende abzusehen, das nicht Horizont hieß, denn das Meer der Tage hörte dahinter einfach auf. Die Jahre und Tage erschienen mir kostbarer, als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Ganz klares Prinzip von Angebot und Nachfrage. Das Angebot stagnierte nicht nur, es verringerte sich sogar unaufhaltsam. Meine Nachfrage aber blieb gleich groß. Jeder Tag erschien mir damit wertvoller, kostbarer und durfte nicht ohne ein besonderes Ereignis vergehen.

    Ich schrieb das Wort „Entscheidungsfrist in meine Wortsammlung. Ich hatte mir angewöhnt, an besonderen Tagen ein „Wort des Tages zu notieren. Der Tag musste dafür besonders schön oder besonders schlimm gewesen sein. Die Art der Besonderheit war unbestimmt. Das Wort musste mein Tagesgefühl widerspiegeln und es musste so treffend gewählt sein, dass ich jederzeit die Situation, die zu seiner Wahl geführt hatte, abrufen konnte, ein Schlagwort – bestehend aus möglichst nur einem Wort. In den letzten Jahren hatte ich bereits zwei Notizheftchen mit dem „Wort des Tages gefüllt. Heute kam eines hinzu, das mir Bauchschmerzen bereitete. Es lag mir lang und sperrig im Magen, machte Druck. „Entscheidungsfrist. Die Ecken der Buchstaben piksten gegen die Magenwände. Die beiden i-Punkte fraßen sich ins weiche Fleisch, das „ts und das „st steckten wie Zahnstocher darin. Die ganze Wortschlange krümmte sich, wühlte. Das Wort war nicht geschmeidig, es hatte Stacheln, Widerhaken.

    Kapitel 3 … Youngman

    Wie immer, wenn ich am Montagmorgen die Redaktion betrat, morgens hieß in der Berufsgruppe der Zeitungsredakteure gegen zehn Uhr, galt mein erster Blick unserer Freak-Show-Tafel. An dem Schwarzen Brett durfte jeder von uns Absonderliches anpinnen. Es häuften sich peinliche Tippfehler, sinnlose Sätze, Fauxpas, Fotos aus der Wolfsschanze, die einem vor Lachen die Tränen in die Augen trieben. Montags war die Tafel besonders interessant, weil es bereits die ersten Reaktionen auf unsere Fake-Anzeige vom Samstag gab. Die Fake-Anzeige war zu unser aller Erheiterung erfunden worden. Jede Woche durfte ein Kollege auf unserer Kontaktanzeigenseite die letzten verfügbaren Zeilen nutzen, um eine irrsinnige, aberwitzige Anzeige zu schalten, auf Kosten des Hauses und ohne Napoleons Segen versteht sich. Die Annonce musste so absurd sein, dass die Leserschaft sie einfach nicht ernst nehmen konnte. Natürlich tat sie es trotzdem und beschenkte uns unfreiwillig mit den witzigsten Reaktionen. Freilich pinnten wir die Antworten darauf unter anderen Namen an die Freak-Show-Tafel, schließlich wollten wir niemanden vorführen. So viel Menschenwürde musste sein. Es hätte ja sein können, dass des einen oder anderen Partner oder Freunde und Bekannte auf den Blödsinn antworteten. Die aktuelle Fake-Anzeige musste von einem Kollegen aus der Wolfsschanze stammen. „Junger Fotograf sucht Fotomodelle mit extrem asymmetrischen Brüsten (von Natur aus), selbst betroffen."

    Nun ja, die Reaktionen waren in diesem Falle verhalten, denn wer konnte sich schon vorstellen, dass der Fotograf selbst vom Schrägwuchs betroffen

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