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Blicke: Kriminalroman
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eBook315 Seiten4 Stunden

Blicke: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

„Otto vergewisserte sich, dass alle Kameras liefen. Die Spotlights verbreiteten eine enorme Hitze. Es war wichtig, dass alles genau ausgeleuchtet wurde. Er schwitzte, zog sich den Pulli und die Hose aus . Hinter ihm die Männer an den Kameras und an den Leuchten machten blöde Witze. Die Schnapsflasche kreiste. Es wurde für seinen Geschmack zu viel geraucht. Die junge Frau vor ihm war mit beiden Armen nach oben an die Heizungsrohre gefesselt...“

Oliver Kienbaum, Journalist einer Hamburger Tageszeitung, erhält vom Redaktionsleiter einen neuen Auftrag: „Tut mir leid, Kienbaum, Sie müssen ran. Der Kollege für die Polizeithemen ist krank.“ Schon bald recherchiert er über einen Frauenhändlerring, deren Mitglieder die Opfer brutal kidnappen und ausbeuten – als Auftragsarbeit, für horrende Summen, gestreamt ins Darknet.
SpracheDeutsch
HerausgeberOmnino Verlag
Erscheinungsdatum24. Aug. 2017
ISBN9783958940680
Blicke: Kriminalroman
Autor

Birger Blantek

Birger Blanteks Debüt. Er hat kasachisch-polnische Wurzeln, lebt in Hamburg, hat Kinder und schreibt ums Sterben gerne.

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    Buchvorschau

    Blicke - Birger Blantek

    Blicke_Blantek_Cover_Ebook

    Birger Blantek

    Blicke

    Kriminalroman

    Impressum

    Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek 

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    ISBN: 978-3-95894-068-0

    Coverabbildung: © hebstreit / Shutterstock

    © Copyright: Omnino-Verlag, Berlin / 2017

    Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

    „Visuelle Pornographie zeigt eine für das Auge des Betrachters arrangierte und inszenierte Sexualität. Der Betrachter ist in der Inszenierung anwesend, sofern diese mit Blick auf seinen Blick erfolgt"

    (Sven Lewandowski, Internetpornographie, 2003 – im Jahr der „Blicke")

    „Als sie das Theater erreicht und sich einen Platz erobert hatten, fieberte schon alles in wilder Lust. Alypius schloss die Pforten seiner Augen und verbot seinem Geiste, sich an die sündhaften Gräuel hinzugeben. Hätte er sich doch auch die Ohren verstopft! Denn als bei einem Zwischenfall im Kampfe das unbändige Geschrei der ganzen Menge auf ihn einbrauste, öffnete er die Augen, von der Neugier überwältigt, und als wäre er gerüstet, auch aus dem Anblick sich nichts zu machen, sei es was immer, und Herr über sich zu bleiben. Da ward er an der Seele mit schwererer Wunde geschlagen, als am Leib der andere. Denn kaum sah er das Blut, trank er auch schon wilde Grausamkeit in sich hinein, und er sah nicht weg, sondern fest dahin und trank die wilde Wut und wusste es nicht und lechzte sich an der Untat dieses Kampfes und berauschte sich in blutsüchtiger Wollust. Nein, er war nicht mehr derselbe, der gekommen war, sondern einer aus dem Haufen, in den er sich gemischt hatte, und der echte Genosse derer, die ihn hergeschleppt hatten. Brauch ich mehr zu sagen? Er schaute, schrie, flammte, er nahm von dort den Wahnsinn mit, der ihn stachelte, immer wiederzukommen." 

    (Aurelius Augustinus, Confessiones)

    „Das Antlitz ist Bedeutung, und zwar Bedeutung ohne Kontext ... Normalerweise ist man eine ‚Person‘: Man ist Professor an der Sorbonne, Vize-Präsident im Staatsrat, Sohn eines Soundso, alles das, was im Pass vermerkt ist, die Art, sich zu kleiden, sich zu präsentieren. Und jede Bedeutung, im üblichen Sinn des Begriffs, bezieht sich auf einen derartigen Kontext: Der Sinn einer Sache beruht in ihrer Beziehung zu etwas Anderem. Hier hingegen ist das Antlitz für sich allein Sinn. Du, das bist du ... Es ist das, was nicht ein Inhalt werden kann, den unser Denken umfassen könnte; es ist das Unenthaltbare, es führt uns darüber hinaus ... Die Beziehung zum Antlitz ist von vornherein ethischer Art. Das Antlitz ist das, was man nicht töten kann oder dessen Sinn zumindest darin besteht, zu sagen: ‚Du darfst nicht töten.‘"

    (Emmanuel Levinas, Ethik und Unendlichkeit)

    1

    Otto vergewisserte sich, dass alle Kameras liefen. Die Spotlights verbreiteten eine enorme Hitze. Es war wichtig, dass alles genau ausgeleuchtet wurde. Er schwitzte. Zog sich den Pulli und die Hose aus. Hinter ihm die Männer an den Kameras und an den Leuchten machten blöde Witze. Die Schnapsflasche kreiste. Es wurde für seinen Geschmack zu viel geraucht.

    Die junge Frau vor ihm war mit beiden Armen nach oben an die Heizungsrohre gefesselt. Ihre Beine waren seitlich an den Stuhlbeinen festgebunden. Sie war hübsch, auf die Weise der blonden sportlichen wohlhabenden jungen Frauen. Durchtrainiert und zugleich viel weiches Fleisch an den richtigen Stellen. Sexy. Deshalb war sie ausgesucht worden. Irgendwer aus der Maske hatte dick Lippenstift aufgetragen. Der Lippenstift verlief und war über die Ränder des Mundes hinaus verschmiert. Die langen Haare hingen ihr wirr in die Stirn. Eine der Kameras wurde nahe an ihr Gesicht herangefahren. Otto schlug sie brutal auf den Mund. Die Lippe platzte an einer Stelle auf und blutete etwas. Die Kamera wurde langsam in die Position der Totalen zurückgefahren. Die Frau schluchzte und zog ihren Schnodder hoch. Sie zerrte an ihren Handfesseln. Die locker geknüpfte Bluse ließ einen Blick aufs Dekolletee frei. Die Netzstrumpfhose über ihren langen Beinen war an mehreren Stellen gerissen. Die weiße Haut schimmerte durch. 

    Otto spürte seine Erektion. Er trat blitzschnell auf den Stuhl zu und riss ihr die Bluse von oben an auf. Die Frau trug keinen Büstenhalter. Ihre großen festen Titten entfalteten sich. Otto ließ sich von der Maske den Lippenstift geben und malte ihren Brustwarzen einen Hof. Dann nahm er das Messer und schnitt über ihrer Scham ein großzügiges Loch in die Strumpfhose. Sie hatte kein Höschen an. Die Möse war unrasiert. Otto stellte sich neben den Stuhl und masturbierte die Frau, bis er an seinen Fingern spürte, dass sie feucht wurde und ihre Fotze sich öffnete. Er rieb sie weiter und ließ seinen Mittelfinger weit in ihr Loch eindringen. Dann massierte er konzentriert ihre Klitoris. Die Frau atmete schnell und stoßweise. 

    Die Männer hinter den Kameras feixten. Sie zoomten auf ihr Gesicht, die Brüste und den Schambereich. Eine vierte Kamera blieb in der Totalen. Die Frau krümmte sich und kam schluchzend zum Orgasmus. 

    Otto nahm die Peitsche vom Beistelltisch und schlug sie jetzt konzentriert auf die Brüste, vor allem auf die Brustwarzen. Lange rote Striemen bildeten sich auf dem zarten Fleisch. Die Frau wimmerte bei jedem Schlag auf. Jetzt nahm er einen Stock und schlug sie auf die Innenseite der Oberschenkel. Als er sie mit voller Wucht in die Scham schlug, wurde sie ohnmächtig. Otto nahm den Wassereimer und kippte ihr das eiskalte Wasser über den Kopf. Die Frau prustete, versuchte Luft zu bekommen. Otto baute sich vor ihr auf. Er packte ihren Schopf und zog ihren Kopf nach hinten. Mit der anderen Hand schlug sie hart auf den Mund, immer wieder. Ihre Lippen bluteten jetzt heftig. Als sie jammernd protestierte, beugte er sich zu ihr und sagte ihr leise, aber klar genug für die Mikrofone ins Ohr: „Bald stirbst du. Freust du dich?" 

    __________

    Das Einzige, was Irene hören konnte, war das unregelmäßige Geräusch des Dieselmotors. Die Kisten mit Fisch, Spinat und Rindfleisch, die sich hinter ihrem Kopf stapelten, schwankten in jeder Kurve. Offenbar eine kleine Seitenstraße. Wie lange waren sie jetzt schon unterwegs? 

    Sie stöhnte und veränderte ihre Lage. Die Druckschmerzen vom langen Liegen waren kaum auszuhalten. Alles tat ihr weh. Die Stellen an Hand- und Fußgelenken, an denen die Riemen ihr die Haut aufscheuerten. Der Rücken. Der Po. Diese Fahrt war endlos. Aber die heftigsten Schmerzen waren im Kopf. Sie vertrug den schlechten Whiskey nicht mehr, den sie ihr einflößten. Irgendwann wurde gehalten. Meistens nachts oder spätabends, auf jeden Fall im Dunkeln. Sie konnte die Umgebung nicht erkennen. Es ähnelte sich immer wieder. Karge Räume mit Stühlen oder Betten. Grelles Licht der Scheinwerfer und Kameras. Sie wurde vor jeder Prozedur festgebunden. Entweder an ein Gitter über dem Kopfende des Bettes oder mit den Unterschenkeln an den Stuhlbeinen. Immer so, dass sie ihre Scham nicht schützen konnte. Wenn sie sich zur Wehr setzte, nahmen sie den Trichter. Sie gossen so lange Whiskey in sie hinein, bis sie keine Luft mehr bekam. Was dann folgte, nahm sie wie durch einen Schleier wahr. Sie war zu betrunken, um sich an Einzelheiten zu erinnern. Vielleicht war das ihre Chance. Vielleicht war sie deshalb noch am Leben und nicht schon vollkommen verrückt. Keine Erinnerung an einzelne Szenen. Nur das grelle Licht für die Aufnahmen, die laufenden Kameras, das Bewusstsein, dass sie jetzt wieder nackt war und sich nicht wehren konnte. Sie spürte die Schmerzen in ihrem Unterleib und musste weinen. Der Wagen bremste scharf ab und kam zum Stehen.

    __________

    Oliver hatte die Redaktion erreicht. Er warf die halbangerauchte Zigarette weg. Auf dem Schreibtisch fand er einen Zettel von Frau Mennicke, der Sekretärin von Mahnke: Mahnke will Sie sehen. Und wo bleibt Ihr Beitrag über Ohlsdorf?

    Mahnke rannte hektisch in seinem Büro umher. Die Ringe unter den Augen waren schwarz. „Setzen Sie sich, Herr Kienbaum." 

    Herr Kienbaum hatte er gesagt. Es musste ernst sein.

    „Krebs hatte gestern Nacht Koliken. Krankenhaus. Nierensteine. Fällt wochenlang aus. Sehen Sie, was hier los ist?"

    Oliver wartete. Krebs hielt Kontakt zu Justiz und Polizei. Schrieb Berichte über publikumswirksame Prozesse der Stadt. Drogendealer, Entführer, aus Eifersucht mordende Ehefrauen, kleine Leuchten im Gewebe des organisierten Verbrechens, Kiezgrößen. Oliver hatte diese Beiträge schon gern gelesen, als er noch nicht zur Lokalredaktion des Hamburger Kuriers gehörte. Manchmal reißerisch, manchmal schwülstig, wenn es um das verkorkste Lebensschicksal von Kriminellen ging. Immer präzise recherchiert und mit Drive geschrieben. Krebs war immer präsent. Er wollte schneller sein als die Kollegen von der Konkurrenz. Hatte jede Menge Beziehungen zu Polizisten, vielleicht auch einige zu Größen von der dunklen Seite der Macht. 

    „Tut mir leid, Kienbaum, Sie müssen ran. Wir haben jede Menge Ausfälle wegen der Grippewelle". Oliver überlegte kurz. Er hatte in Krebs’ Arbeitsbereich keinerlei Erfahrung. Aber es war ihm nicht unrecht. Er brauchte die Ablenkung. Er hatte den Schreibtisch in der Redaktion gerade erst wieder bezogen. Mehr Arbeit, als er schaffen konnte, nicht nur wegen der Grippewelle. In der Redaktion brannte die Luft. Wolfgang Krebs krank – für das Betriebsklima eher ein Segen. Aber jetzt fehlte die Hälfte der Lokalredaktion.

    „Ich weiß, das ist jetzt eine Überforderung. Ich sehe keine andere Möglichkeit. Sie übernehmen den Aufgabenbereich von Krebs. Zusätzlich. Solange er krank ist."

    Mahnke machte eine Pause. „Bitte."

    Oliver hatte keine Chance, in Ruhe seine Gedanken zu ordnen. Es ging auch gar nicht um die Frage, ob er sich schon in der Lage fühlte. Mahnke redete sofort weiter. „Vor sechs Stunden kam die Information rein beim Nachtdienst. Exklusiv für den Hamburger Kurier. Eine Mail ohne rekonstruierbaren Absender. Eine große Nummer ist ermordet worden. Okay, Kienbaum. Ich habe nicht vergessen, was in den letzten Wochen mit Ihnen los war. Ich würde Ihnen gerne Zeit gönnen. Aber es geht einfach nicht."

    Mahnke überlegte eine Weile. Er setzte sich endlich hin. Oliver hatte für einen Moment den Eindruck, dass er jetzt auch etwas sagen sollte. Mahnke redete schon weiter.

    „Sie haben im Bereich Polizei und Justiz keine Erfahrung. Weiß ich, weiß ich. Herr Krebs hat Kenntnisse, Kontakte, Routine. Alles, was Sie nicht haben. Ist Ihre Feuertaufe, klar? Sie haben schon Interviews gemacht mit lokalpolitischen Größen. Sie haben Ahnung von Politik. Das hier ist was Anderes. Trotzdem. Ich traue Ihnen das zu. Sie können schnell arbeiten. Sie schreiben gut. Ich verlasse mich auf Sie. Sehen Sie zu, was Sie rauskriegen. Ich will Ihren Beitrag heute Nachmittag bei mir auf dem Schreibtisch."

    Mahnke wurde förmlich. Er stand auf. Oliver sah keine Möglichkeit, als sich ebenfalls zu erheben. Mahnke suchte mit müden Augen seinen Blick. „Alles Gute!"

    Oliver ging zu seinem Schreibtisch. Die Blicke der Kollegen folgten ihm. In der Lokalredaktion hatte keiner ein eigenes Arbeitszimmer. Bis auf Mahnke. Keine Chance für Intimität. Oliver fand das nicht schlecht. Die Atmosphäre schreibender Kollegen war ansteckend. 

    Oliver machte sich ein paar Notizen. Er horchte auf seinen Puls. Er war aufgeregt. Die Müdigkeit der letzten Nacht war wie weggeblasen. Er brauchte einen Plan. Als Erstes die Kollegin von der Nachtschicht. Er beschloss, den weiteren Schlachtplan davon abhängig zu machen, was er hier erfuhr.

    Er würde jedenfalls den vorhin angefangenen Beitrag fertigstellen. Die Geschichte mit den Engeln. Interessanter, als er gedacht hatte. Sein Gesprächspartner von der Presseabteilung des Ohlsdorfer Friedhofs hatte mal Geschichte studiert. Der größten Friedhof Europas, wie er versicherte. Oliver hatte repräsentative Grabanlagen aus der Gründerzeit zu sehen bekommen. Mit und ohne Engel. Attraktive Frauengestalten aus den Sechziger-Jahren. Ein Sammelgrabstein von jungen Leuten, die an Aids gestorben waren. Am besten fand er die Engel. Ende des 19. Jahrhunderts durch Galvanisierungstechnik mit einer dünnen Bronzeschicht überzogen. Es gab fabrikmäßig vorgefertigte Figuren unterschiedlicher Preisklassen. Die Gesichtszüge, der zarte Schwung der Halspartie, die sanfte Geste der Hand eines dieser Engel hatte Oliver angerührt. In den Sechzigerjahren hatte die Friedhofsverwaltung hunderte von diesen Engeln aus dem Verkehr gezogen. Die Sechzigerjahre. Zeit des Modernisierungskahlschlags, nicht nur hier. Oliver machte sich auf dem Weg zur Kollegin aus der Nachtschicht innerlich ein paar Notizen.

    Er klopfte vorsichtig. Frau Brüllsahm liebte es nicht, gestört zu werden. 

    Melinda Brüllsahm war eine sehr spezielle Kollegin. Sie war bald fünfundsechzig, füllig, mit tiefblau geschminkten Wimpern und hochgetürmten platinblonden Haaren. Sie arbeitete gern allein. Der Grund war eine nicht enden wollende Konfliktgeschichte mit nahezu allen Kollegen. Melinda Brüllsahm hatte gern die Kontrolle über alles, was passierte. Genauer: Sie war herrschsüchtig. Sie arbeitete ausschließlich nachts. Das hatte bestimmt auch mit ihren persönlichen Lebensumständen zu tun. Darüber gab es in der Redaktion Gerüchte. Aber niemand hatte so guten Kontakt zu ihr, dass Genaueres zu erfahren war. Der eigentliche Grund für ihre Liebe zu den Nachtschichten war, dass es für alle Beteiligten so erträglicher war. 

    Melinda Brüllsahm war anstrengend. Und sie war kompetent. Sie hatte einen klaren Blick fürs Wichtige. „Die Mail kam gegen fünf Uhr morgens rein. Genau um vier Uhr zweiundfünfzig. Sie kam nicht von der Polizei." 

    „Aha. Seltsam." Oliver setzte sich auf den Stuhl schräg vor dem Schreibtisch. Melinda Brüllsahm brauchte den Schreibtisch zwischen sich und ihren Gesprächspartnern. Ihr Schreibtischstuhl war hochgedreht. Sie mochte es nicht, zu jemandem aufzusehen. 

    „Ja, schon. Die Polizei würde eher anrufen. Die laden aber zu einer Pressekonferenz. Und erst dann, wenn sie mit den Ermittlungen so weit sind, dass sie gut dastehen. Nein. Die Mail hatte einige Grammatikfehler. Niemand mit Muttersprache Deutsch."

    Oliver überlegte. „Irgendwas, was auf Täterschaft hindeutet?"

    „Schwer zu sagen. ‘In Simon-von-Utrecht-Straße liegt Leiche‘. Kommen und fotografieren, dann sind Sie erste.‘ Ich habe bei der Mordkommission in der Davidwache angerufen. Sie hatten die Information schon. Es kann genauso gut eine Frau vom Reinigungspersonal sein, die beim Putzen auf etwas gestoßen ist, was sie nicht wegwischen konnte."

    Komische Geschichte. Welches Interesse sollte eine Putzhilfe haben, eine Zeitungsredaktion über eine Leiche zu informieren? 

    Simon-von-Utrecht-Straße parallel zur Reeperbahn war eine Durchgangstraße. Ein paar Bars, früher mal ein jüdisches Krankenhaus, das die Nazis zerstört hatten. Wenig Betrieb. Der Straßenstrich war auf den Steindamm umgezogen. „Reeperbahn, wenn ich dich heute so anseh’ .... Udo Lindenbergs Song zur Melodie von „Penny Lane hatte schon vor Jahren melancholisch den Niedergang des Kiezes besungen. Udo war anfallsweise ziemlich klarsichtig, was das dominierende Lebensgefühl in seiner Stadt Hamburg angeht. „Das Leben ist sahnig, die Leute sind tranig." 

    Melinda Brüllsahm konnte nicht leiden, wenn ihre Gesprächspartner unkonzentriert waren. „Sie klauen mir die Zeit, junger Mann. Brauchen Sie noch was? Oliver versuchte beflissen, die Stimmung zu retten. „Ich fang gerade erst an, Frau Brüllsahm. Haben Sie noch etwas bemerkt? Ich brauch Ihre Hilfe.

    Melinda Brüllsahm war leicht umzustimmen. Wollen Sie nicht wissen, um wen es sich handelt?

    „Wieso, wissen Sie das schon?"

    „Ich habe die Kollegin von der Davidwache auf ihren klaren Menschenverstand angesprochen. Wir kriegen die Information ja sowieso. Für heute Abend haben sie eine Pressekonferenz angesetzt. Ich habe ihr versprechen müssen, dass der Hamburger Kurier bis dahin die Sperrfrist einhält. Es ist eine Bombe. Heiner Dressel heißt der Mann."

    Melinda Brüllsahm war sichtlich enttäuscht, als sie in Oliver‘ Gesicht weder Unverständnis noch Verwirrung entdecken konnte. „Kennen Sie den etwa?"

    „Kennen wäre zu viel gesagt. Ich musste mal über ihn schreiben."

    Das war tatsächlich eine Nachricht.

    __________

    Heute wurde sie im Stehen angebunden. Die Seile hingen von der Decke, die Arme wurden nach oben auseinandergezogen, so dass die Brüste nach vorn herausstanden. Die Beine gespreizt. Sie hing schon ein paar Stunden so. Otto hatte sie vorbereitet. Er hatte ihr den Schnaps eingefüllt und diesmal jede Menge Wasser. Die Kameras sollten einfangen, wenn sie sich einnässte. Er hatte sie bis auf die Strapse ausgezogen und sie eine Weile lustlos mit dem Elektroschocker an ihrer Scham und an den Brustwarzen gefoltert. Dann hatte er sie systematisch ausgepeitscht. Ihr Körper war überall mit roten Striemen übersät. Besonders an den Innenseiten der Oberschenkel und an den Brüsten. Es bereitete ihm aber keine richtige Lust. Die Kameraleute waren auch entnervt. Die Frau war nicht sexuell erregt. Sie weinte die ganze Zeit. 

    Otto hängte ihr jetzt die kleinen Gewichte ein. Erst in die Brustwarzen. Die Brüste wurden von dem Gewicht nach unten gezogen. Dann in die Schamlippen. Die Kameras waren nah dran. Die Schamlippen wurden runtergezogen und gedehnt, fast wie kleine Lappen. Die Frau weinte. Sie schrie nicht. Sie keuchte nicht. Sie war apathisch, sonst nichts. Als Otto sie zwischen ihren Schamlippen anfasste und ihre Klitoris erregen wollte, pisste sie ihm auf die Finger. Er konnte seine Hand gerade noch wegziehen, sonst wäre ihm die Pisse in den Ärmel gelaufen. Er schlug sie hart ins Gesicht. 

    So ging das nicht. „Aus"! Die Kameras wurden zurückgefahren, die Spotlights gelöscht. Sofort glimmten an vielen Stellen des Raums die Feuerzeuge auf. Auch das noch. Musste das sein? Er hatte keine Lust, den Qualm zu ertragen. Aber er konnte nicht durchsetzen, dass die Crew während der Dreharbeiten das Rauchen einstellte. Vielleicht sollte er ein paar von den Leuten rausschmeißen. Aber die Männer wussten zu viel. 

    Sie würden diese Frau eine Weile aus dem Programm nehmen müssen. Sie musste aufgepäppelt werden. Sie musste erregend aussehen und vor allem: Sie musste erregbar sein. Sie musste gegen ihren Willen erregt werden durch das, was er mit ihr machte. Sonst würden die Videos nichts einbringen. Erst recht nicht der finale Akt. Sie zu töten konnte nur dann den Geldfluss hochschrauben, wenn ihr Körper schön war in dem Moment, in dem er zerstört wurde. Die Kunden wollten eine Frau auf dem Höhepunkt ihrer Lust sehen, wenn er sie umbrachte. Und er selbst wollte schließlich auch was davon haben.  

    __________

    Wieder wusste Irene nicht, wo sie war. Was sollten diese ständigen Ortswechsel? Vor zwei Wochen hatte ihr eine Frau zu Essen gebracht, die Tschechisch gesprochen hatte. Wie lange war der Zusammenbruch des realen Sozialismus jetzt her? Knapp fünfzehn Jahre? Sie war zehn Jahre alt gewesen, als sie wieder nach Deutschland zurückkamen. Ihr Vater wollte die Chancen nicht verpassen, die sich mit dem Fall der Grenzen eröffneten. Jetzt war sie fünfundzwanzig. Kaum zu glauben, wenn sie jetzt an ihrem geschundenen Körper herabsah. Jetzt waren wieder deutsche Laute zu hören. Irene träumte heftig. Bilder aus ihrer Kindheit. Sie blieben manchmal auch tagsüber lebendig, dunkel und undeutlich. Das freundliche Gesicht des schwarzen Kindermädchens. Gelbes Gras, soweit das Auge reichte. Die Kudus. Die Trappen. Die Springböcke. Und dann dieser große endlose furchtbare Schmerz. Der Schwarze Tag. Der ganze Körper war nur noch Schmerz gewesen. Der Schmerz hatte alle anderen Erinnerungsbilder gelöscht. Danach hatte sie ihren Körper nicht mehr gespürt. Wie bei einer Nahtoderfahrung. Als hätte sie ihren Körper verlassen und würde irgendwie über ihm schweben und auf ihn heruntersehen. Und es war gar nicht mehr ihr Körper, dem das alles angetan wurde. 

    Das lag weit zurück.

    Und jetzt dieser Schock. Wie lange war das her? Vier Wochen? Wie immer hatte sie an der Raststätte „Harburger Berge" angehalten. Blöder Tick, zugegeben. Sie kam an dieser Raststätte nicht vorbei, ohne sich einen Kaffee zu holen. Sie fuhr diese Strecke jede Woche. Von Lüneburg nach Hamburg und zurück. Der Ablauf war immer derselbe. Eine willkommene Unterbrechung, ehe die Stadt sie verschluckte. Die Leute hinter der Theke kannten sie und begrüßten sie freundlich. Seit ein paar Tagen war da dieses undeutliche Gefühl gewesen: Ich werde beobachtet. Ein grauer VW-Transporter gegenüber, ohne Fenster im Ladebereich. Wurden ihre Bewegungen verfolgt? 

    Was für ein Blödsinn. Wurde sie schon wie ihre hypochondrische Mutter, die jede Krankheit bekam? Trotzdem musste sie an diesen Film denken. Da war Sandra Bullock von einem Irren lebendig begraben worden. Das Grauen hatte mit einer Ätherattacke auf einer Raststätte angefangen. 

    Ja, das musste jetzt vier Wochen her sein. Die Nacht vorher war lang geworden. Im „Fass", ihrer Lieblingskneipe in Lüneburg. Am nächsten Morgen war sie übermüdet losgefahren. Der Kaffee in der Raststätte hatte sie nicht wachgekriegt. Sie musste sich nochmal kurz ins Auto setzten. Nur ein paar Augenblicke die Augen zumachen. Da musste sie eingeschlafen sein. Ein paar Minuten vielleicht. Zu müde, die Autotüren von innen zu verriegeln. Das machte sie sonst eigentlich immer. Der Schlaf musste sie regelrecht überfallen haben. 

    Sie war hilflos, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Starr vor Schreck. Der ekelhafte Geruch des Äthers in dem Taschentuch, das ihr die Luft nahm. 

    Sie krümmte sich zitternd zusammen. Draußen musste es wieder dunkel sein. Es wurde kühl. Aber es war nicht nur die Kälte draußen. Sie konnte nicht mehr. Nicht mehr lange. Sie spürte, wie sie abmagerte und verdreckte nach all den grausamen Minuten, Stunden, den Tagen und Wochen. Zuerst der Schock. Dann die unendliche Langsamkeit der Zeit in den ersten Tagen. Die immer wiederkehrenden Erniedrigungen und Quälereien, die grausame Routine. Wanderte sie wieder aus ihrem Körper aus? Sie wollte nicht. Sie wollte leben. Es war ihr grausamer Alltag. Wenn die Peiniger die Scheinwerfer aufrissen und ihr den Schnaps reingossen und die Kameras anlaufen ließen. Manchmal spürte sie nur noch Schmerz. Sie erkannte ihren Körper nicht mehr. Wenn sie sich über die mageren Schenkel und die schlaff werdenden Brüste strich, die überall von dem gezeichnet waren, was ihr angetan wurde. Ihr Körper hatte keine Kraft mehr. Sie wusste, was ihre Peiniger tun würden, wenn ihre Attraktivität erloschen war. Wenn sie ihr Internetpublikum ein letztes und endgültiges Mal aufgeilen würden. Sie spürte die Panik in sich aufsteigen. Und Trotz. Ein gutes Gefühl. Nein. Sie würde hier rauskommen. Lebend. Sie würde kooperieren. Sie würde wieder essen und trinken. Vor der Kamera mitspielen. Es würde ihr was einfallen. Sie würde hier nicht sterben. Und wenn, würde sie so viele von diesen Monstern mitnehmen wie möglich.

    __________

    Oliver erinnerte sich dunkel an den Beitrag, den er etwa vor einem halben Jahr über Dressel abgeliefert hatte. Es kam ihm unendlich lange her vor. Die Zeit vor dem Unfall, die Zeit ohne Träume und ohne Augen, die ihn verfolgten. Dressel war eine Größe im Milieu. Immobilienbaron vom Kiez, Investor, Betreiber des „Ekstase", eine Art Eroscenter für gehobene Ansprüche. Dressel hatte die Sanierung ganzer Straßenzüge vorangetrieben. Er war allein auf St. Pauli Eigentümer von etwa 25 Immobilien im geschätzten Wert von mehreren hundert Millionen Euro. Der Sohn eines Klempnermeisters aus Sachsen hatte große Pläne. Auf einem brachliegenden Grundstück mit Elbblick wollte Dressel eine Rockarena mit 6000 Sitzen bauen.

    Oliver schwang sich aufs Fahrrad und fuhr in die Simon-von-Utrecht-Straße. Das Gebäude Nummer 412 war ein fünfstöckiger Altbau, frisch renoviert, Jugendstil, Türmchen und Erker und jede Menge Stuckfassade. Nicht protzig. Stilvoll renoviert. Oliver sah sofort die rot-weißen Plastikbänder, mit denen der Zugang versperrt war. Er ignorierte die Absperrung. Er ging zum Hauseingang und wurde prompt von einem Uniformierten abgefangen. Der Mann ließ sich auf nichts ein. Auch nicht, als Oliver ihm seinen Presseausweis vor die Nase hielt. 

    „Kommen Sie heute Abend zur Pressekonferenz. Hier kommen Sie nicht durch. Die Spurensicherung ist noch drin." 

    „Es gibt ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit." 

    „Gehen sie bitte weiter." Der Polizist kam langsam auf ihn zu. 

    Hier war nichts zu machen. Oliver kehrte auf dem Absatz um. Er nutzte den Weg auf dem Fahrrad, um ein paar Zigaretten zu rauchen. 

    Wieder im Büro, versuchte Oliver Kollege Krebs im Krankenhaus anzurufen. „Herr Krebs ist noch nicht aus der Narkose erwacht. Sie können ihn frühestens morgen sprechen." 

    Keine Chance. An Krebs’ Kontakte würde er so

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