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Augen-Blicke: Kriminalroman
Augen-Blicke: Kriminalroman
Augen-Blicke: Kriminalroman
eBook220 Seiten3 Stunden

Augen-Blicke: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Sie sah Mündungsfeuer aus Hinnerks Pumpgun, bevor sie den Knall hörte. Er war ohrenbetäubend. Es war wie im Zeitraffer. Eine Traumszene. Sie drehte sich um und sah den erstaunten Blick von Pitt, der plötzlich einen großen roten Fleck mitten auf der Brust hatte. Der Brustkorb wirkte wie aufgerissen. Er fiel zu Boden. Sein Körper zuckte unkontrolliert. Dann war es still.

Lange tappt Oliver Kienbaum, Journalist beim Hamburger Kurier, im Dunkeln, was mit seiner Freundin Anja passiert war. Plötzlich weg, kein Lebenszeichen. Ihren Kollegen von der Sportredaktion hatte man erschlagen aufgefunden. Recherchen in der Hamburger Neonaziszene waren ihm zum Verhängnis geworden. Am Ende spitzt sich alles brutal zu. Die Fäden eines psychologisch vielschichtigen Verbrechens kommen zusammen, das Oliver zwischendurch immer wieder verzweifeln lässt.

Birger Blantek füllt mit „Augen-Blicke“ die zeitliche Lücke zwischen „Blicke“ und „Augen“ und schließt damit die Roman-Trilogie ab – über die abgründige Verbindung von „Sehen“, „Imaginieren“ und „Begehren“.
SpracheDeutsch
HerausgeberOmnino Verlag
Erscheinungsdatum2. März 2018
ISBN9783958940796
Augen-Blicke: Kriminalroman
Autor

Birger Blantek

Birger Blanteks Debüt. Er hat kasachisch-polnische Wurzeln, lebt in Hamburg, hat Kinder und schreibt ums Sterben gerne.

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    Buchvorschau

    Augen-Blicke - Birger Blantek

    1

    Er band sie fest, mit den Handgelenken am Stahlgitter über ihrem Kopf. Ihre Beine fesselte er an die Seiten des Bettgestells. Ihr Körper wurde brutal gestreckt. Ihre Scham und ihre Brüste waren schutzlos preisgegeben. Sie hatte diesen Mann mal geliebt. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern. Er sah ihr in die Augen, als er sie würgte. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Sie spürte Todesangst. Sie spürte seine Hand in ihrer Scham. Er rieb ihre Schamlippen und ihre Klitoris schnell und hart. Das hatte er schon immer so gemacht. Wieso kapieren Männer nicht, dass sie Frauen auf diese Weise keine Lust schenken? Irgendwann hatte sie es aufgegeben, ihm das zu unterbreiten. Da war er schon brutal geworden, hatte vor allem Spaß daran, sie zu quälen. Sie spürte, wie er versuchte, mit dem Mittelfinger in sie einzudringen. Das tat weh. Sie war noch gar nicht feucht. Jetzt ließ er von ihr ab, richtete sich auf. Sie sah seine Erektion unter dem Stoff seiner Jeans, spürte seine Erregung. Die Erektion würde sich sofort verflüchtigen, wenn er versuchen würde, mit ihr Liebe zu machen. Sie wusste das aus quälend vielen gescheiterten Versuchen. Wenn er sie schlug, stand sein Schwanz wie ein Stehaufmännchen. 

    Wann hatte das angefangen? Dass sie ihn verachtete? Sie durfte ihm das auf keinen Fall zeigen. Nie. Sie würde das nicht überleben. Jetzt hatte er die Reitgerte in der Hand. Er schlug sie rhythmisch auf die Brüste und zwischen die Beine. Er versuchte, ihre Brustwarzen und ihre Klitoris zu treffen. Mit jedem dritten Schlag. Darauf konnte sie sich ein wenig einstellen. Sie versuchte jedes Mal, wenigsten ein paar Millimeter auszuweichen. Wenn er ihre Klitoris direkt traf, wurde ihr schlecht vor Schmerz. Sie atmete schnell, spürte ihre wachsende Erregung. Sie hasste ihren Körper dafür. 

    Jetzt nahm er den Elektroschocker vom Nachttisch. Als er ihr dieses Ding beim ersten Mal gezeigt hatte, hatte sie zuerst geglaubt, es sei ein Mikrofon. Er drückte ihr den Schocker tief in ihre mittlerweile weit geöffnete nasse Möse. Sie spürte die schnellen heißen Stromstöße. Sie breiteten sich von ihrer Scham über den ganzen Unterleib aus. Sie sah wieder sein Gesicht über sich. Er sah ihr triumphierend in die Augen. Ihr Körper bebte vor unfreiwilliger Lust. Er drückt das Gerät so weit wie es ging in sie rein. Mit der anderen Hand drückte er ihren Kopf in die Matratze. Er hielt ihr Mund und Nase zu. Sah sie direkt an. Wollte den Augenblick in ihren Augen wahrnehmen, wenn ihr Körper zum Orgasmus kam. Weinend wurde sie von der Lustwelle überrollt. Er schlug sie ins Gesicht, bevor er sie losband. „Hast deinen Spaß gehabt, Fotze!"

    Der Wagen war jetzt direkt neben ihr. Sie sah das Martinshorn und den silbergrau-blauen Anstrich des Fahrzeugs. Die neue Aufmachung des Hamburger Polizei-Fuhrparks. Mist, die Bullen. Sie spürte ihr Herz im Hals schlagen. Sie sah nochmal genau hin. Der Wagen war nur einfach besetzt. Sie beendete den Überholvorgang und kontrollierte den Tacho. 150 Sachen. Hatte es eine Geschwindigkeitsbegrenzung gegeben? Sie hatte nichts gesehen. Sie sah schon seit einer Stunde kaum noch was, seit ihr sein Schlag die Lippe gespalten hatte. Sie hatte auf der Zunge den Messing-Geschmack des Blutes geschmeckt hatte. Ihr eigenes Blut. 

    Sie hatte nicht gesehen, dass das ein Polizeiwagen war. Sie hatte einfach draufgehalten. Wahrscheinlich viel zu hohe Geschwindigkeit. Idiotisch. 

    Sie hörte die Sirene, sah das Blaulicht im Rückspiegel. Das Fahrzeug kam schnell näher. Sie drückte das Gaspedal durch. Wenig Hoffnung. Sie wusste, was Piets Karre hergab. Nein, sie würde ihn nie wiedersehen. Piets Karre. Schlägerschwein Piet. Scheißtyp, Mistkarre. Sie sah in den Rückspiegel. Der Polizeiwagen war neben ihr. Sie wurde ruhig. Gefährlich ruhig. Kein Entschluss. Die Bewegung kam von selbst. Der Kotflügel des Polizeiwagens war knapp hinter ihrem. Der Bulle war abgelenkt. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie er mit der Hand auf dem Beifahrersitz rumsuchte. Sie riss den Wagen nach links. Sie traf ihn unvorbereitet. Mit voller Wucht. Sie riss das Lenkrad wieder zur anderen Seite und gab Gas. Es hatte gereicht. Sie hörte das Kreischen der Reifen. Das splitternde Krachen. Sie sah im Rückspiegel, wie der Wagen gegen die Straßenbegrenzung knallte. Sich seitwärts überschlug. Das Martinshorn röhrte weiter. Es wurde rasch leiser. Ein letzter Blick zurück. Der Wagen lag auf der Seite. Das Bild war unwirklich.

    Anja war nicht da. Oliver stieg die Wendeltreppe hoch. Die hatte es in sich. Oliver erinnerte sich: Julia war hier mal alle dreiundzwanzig Stufen runtergekegelt. Ferien mit Verena. Das war jetzt schon zehn Jahre her. Nicht zu fassen. Genau in diesem Haus. Als Verena und er noch ein Liebespaar waren. Julia musste damals drei Jahre alt gewesen sein. Ein glattes Wunder, dass ihr bis auf die dicke Beule an der Stirn nichts passiert war. Da konnte man pusten. Schnell ein kaltes Messer holen. Mit beruhigender Stimme eine Geschichte erzählen, während das Kind schrie wie am Spieß. 

    Zum Beispiel die Geschichte von dem Hengst Kasimir und seiner kleinen Pferdeschwester Annika. Die wollte unbedingt weg, weg, abhauen, weg. Alleine die Pferdewiese verlassen, wo sie zu Hause war. Die gefährliche Straße allein überqueren. Weil sie jetzt schon groß war. Annika war dann auf einen Baum geklettert, um die Landschaft besser überblicken zu können. Was für ein Fohlen ihres Alters eine große Leistung war. Wie ging das weiter? Annika wusste nicht mehr, wie sie wieder runterkommen sollte. Deshalb musste sie von der guten Hexe Esmeralda gerettet werden. Kasimir kannte die gute Hexe von früher. Er ist schnell zu ihr hingelaufen: „Du bist doch eine gute Hexe! Bitte komm und rette meine kleine Schwester. Sie sitzt oben auf der großen Buche und weiß nicht, wie sie wieder runterkommen soll." 

    Am Schluss der Geschichte hatte Julia Schrecken und Schmerz schon vergessen. Sie hatte Oliver mit großen verweinten Augen angeguckt und nur noch wissen wollen, ob alles gut ausgeht. Oliver hatte ein großes weißes Stofftaschentuch geholt. Und Julia musste mit aller Kraft schnauben. Damit der Schnodder und die Tränen weggingen.

    Heute war Julia dreizehn, und schon eine Andeutung solcher Kindergeschichten war ihr peinlich. 

    Und Oliver und Verena waren kein Liebespaar mehr. 

    Anja war wirklich nicht da. 

    Oliver war auf der Dachterrasse angekommen. Wie jedes Mal blieb er unwillkürlich stehen. Der Blick war überwältigend. Von hier aus konnte man den Küstenstreifen kilometerweit überblicken. Sanft geschwungene Hügel, die von Jahr zu Jahr mehr von Gewächshäusern überwuchert waren und sanft zum Meer hin abfielen. Hinter dem Haus stiegen sie an bis hoch zum Monte Faudo. Ihr „Hausberg. Unter alpinen Gesichtspunkten uninteressant. Aber eben ihr Hausberg. Sogar Julia konnte damals motiviert werden: Es gab „Edelsteine auf dem Schotterweg, weiße Kiesel, die in der Sonne glitzerten. Julia sammelte Berge davon ein. Nach dem Urlaub waren sie schnell wieder vergessen. Aber für einen langen Nachmittag waren sie ein unbeschreiblich wertvoller Schatz. Weiter unten, auf halbem Weg zum Küstenstreifen, die Autobahn. Der Wind stand günstig. Man konnte nichts hören. Ohne den Lärm der singenden Reifen sah auch die Autobahn beinahe malerisch aus in der hereinbrechenden Dämmerung. Eine Kette von roten Bremsleuchten der LKWs, die im Tunnel Richtung Imperia verschwanden. Eine Kette, die sich endlos erneuerte.

    Oliver reckte sich. Er zündete sich eine Zigarette an. Ungefähr die vierzigste heute. Die Luft im Wagen war selbst ihm zum Schluss zu dick geworden. Er war durchgefahren. Das „Stattauto", das er sich für den kurzen Urlaubstrip geliehen hatte, war technisch in Ordnung. Aber eben reichlich klein für gut 1300 Kilometer Strecke in einem Rutsch. Er hatte den Polo genommen. Im Rückblick hätte er besser ein paar Euro mehr investiert. 

    Er fühlte sich zerschlagen. Es lag nicht nur an der Autofahrt. Er hatte zu viel gearbeitet in den letzten Wochen. Sofort war der innere Druck wieder da, als er daran dachte. Selbst hier noch, weit über tausend Kilometer von Hamburg entfernt. Er hatte sich so oft geschworen, niemals an zwei größeren Projekten gleichzeitig zu arbeiten. Und jetzt war er doch wieder reingeraten. 

    Oliver lehnte sich über die Brüstung der Dachterrasse. Nicht nur die Berge waren zu sehen, auch das Dorf lag ihm zu Füßen. Die aneinandergeschmiegten Gemäuer waren in der Dämmerung kaum noch zu erkennen. Bis auf den Kirchturm, der von drei Seiten angestrahlt wurde und den Ort um sich versammelte wie eine Glucke ihre Küken. 

    Zuerst hatte er Mahnke regelrecht überreden müssen. Allerdings nicht lange. Die Wahlerfolge und die massive Präsenz der rechten Szene in der Jugendkultur in Ostdeutschland beunruhigten die eher liberale Leserschaft des Hamburger Kuriers. Was war in diesem Feld in Hamburg los? Es lief gut. Vier Essays für die Wochenendausgaben waren inzwischen fertig. 

    Oliver rauchte. Mittlerweile war es stockdunkel. Ligurien lag natürlich eine ganze Ecke weiter südlich als Hamburg. Die roten Rücklichter verschwanden immer noch im Tunnel der Autobahn. Von der Landschaft ringsum war fast nichts mehr zu sehen. 

    Langsam konnte er sich entspannen. Bis auf eine Folge war die Artikelserie abgeschlossen. Über weite Strecken hatte das Spaß gemacht. Im Mittelpunkt stand jeweils ein Hamburger Viertel: die Schanze, St.Georg, Eimsbüttel, Altona, Ottensen. Der Alltag. Das Zusammenleben vor Ort. Integration und Abgrenzung. Alltagsnerv und Beispiele glückenden Zusammenlebens. Er wollte mit seinen Beiträgen der Präsenz von Neonazis in den Medien positive Beispiele eines gelungenen Alltags in der multikulturellen Stadt entgegenstellen. Die rechte Szene bekam in den Medien zu viel Aufmerksamkeit. Er hatte mit türkischen Gemüsehändlern in Altona gesprochen. Mit einer Kirchengemeinde, die sich für den Bau einer zentralen Moschee in St.Georg eingesetzt hatte (das Projekt war gescheitert). Der folgende Artikel handelte von einer Initiativgruppe an der Universität. Es ging um interreligiösen Dialog. Eine „Akademie der Weltreligionen" sollte begründet werden. Schließlich hatte er mit Vertretern von türkischen Fußballvereinen gesprochen, mit deutschen und türkischen Spielern. Und mit den Fans. Dieser letzte Artikel würde am nächsten Wochenende rauskommen. 

    Das Problem war das andere Projekt: Die Situation der Hamburger Polizei. Die Atmosphäre war vom ersten Recherchegespräch an völlig anders gewesen. Bisher waren zwei größere Artikel erschienen. Zwei weitere waren geplant. Manchmal schien es wie zum Verrücktwerden. Oliver hatte auf Granit gebissen, wenn er um ein Hintergrundgespräch gebeten hatte. In vielen Bereichen der Hamburger Polizei hatte man die Führungskräfte aus alten SPD-Zeiten mittlerweile entmachtet. Reden wollten die wenigsten darüber. Fast immer eisiges Schweigen. Besonders dann, wenn er mit Vertretern der neuen Polizeiführung über die Stimmung in der Kollegenschaft gesprochen hatte. Seltsamerweise auch dann Schweigen, wenn seine Gesprächspartner auf der Verliererseite standen. Was er trotzdem wusste, hatte er von Verena erfahren. Er konnte sich nicht auf sie berufen, wenn er sie nicht bloßstellen wollte. Für jede Information, die er von ihr bekam, brauchte er mindestens eine weitere Quelle.

    Oliver stieg die Treppe wieder runter und machte sich auf den Weg durchs Dorf. Mit Einbruch der Dunkelheit war es empfindlich kühl geworden. Tagsüber war es im Oktober noch manchmal richtig warm. Jetzt kroch ihm die Kälte den Rücken hoch. Zu blöd, dass er die Strickjacke im Wagen gelassen hatte. Der stand am Friedhof. Oliver hatte keine Lust, jetzt nochmal hinzulaufen. Obwohl es schön aussah, wenn abends die Lichter vor den Grabstellen brannten. Eine große weiße Wand voller kleiner Öffnungen mit Urnen. Davor wurden in der Dämmerung von Hinterbliebenen Lichter angezündet. Oliver stand unschlüssig am Weg zum Friedhof. Eine schwarz gekleidete Frau mit schwarzem Kopftuch und groben schwarzen Schuhen kam ihm entgegen. Oliver sah kurz ihr Gesicht. Sie konnte nicht älter sein als dreißig Jahre. Kaum hielt man sich ein paar Kilometer von der Küste weg in den Bergen auf, schien die Zeit stillzustehen.

    Er ging den gewundenen Fußpfad zur Piazza. Zündete sich wieder eine Zigarette an. Die Schachtel war bedrohlich leer. 

    Er war bei seiner Recherche auf einige politisch ärgerliche und persönlich schmerzliche Schicksale gestoßen. Fast die gesamte Polizeiführung aus SPD-Zeiten hatte nichts mehr zu melden und verwaltete jetzt technisch-organisatorische Jobs. In der Polizei herrschte Verunsicherung, teilweise latenter Widerstand. Der richtete sich auch gegen den von der neuen Polizeiführung angeordneten Einsatz bei den Demos gegen den Abriss der Bambule-Bauwagen-Siedlung. Die Polizeiakademie war ausgedünnt worden. Politisch missliebige Lehrende wurden versetzt. Mittlerweile traf die Umstrukturierung auch die örtlichen Kommissariate. Manche von den Beamten hatten ihm regelrecht leidgetan. Aber so waren die Spielregeln. Oliver war genügend Profi in seinem Beruf, um zu wissen, dass er nach der nächsten Wahl ähnliche Gespräche mit Polizeibeamten führen würde. In umgedrehter Konstellation, sollte die SPD wieder mal eine Wahl gewinnen. Manche, die jetzt gehen mussten, waren ihm sympathischer als die Kollegen mit dem jetzt angesagten Parteibuch. Das stand auf einem anderen Blatt. 

    Die Wege in Costa Rainera waren so eng, dass bestenfalls die unvermeidlichen Piaggio-Roller durchfahren konnten. Das war typisch für die Dörfer hier. Irgendwann zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert musste es in dieser Gegend einen regelrechten Bauboom gegeben haben. Im Wesentlichen schien die Bausubstanz in den Ortskernen unverändert. Über den Wegen waren gegenüberliegende Häuser oft durch Bögen verbunden. Einige malerische Häuser präsentierten sich verfallen. In den letzten Jahren wurden sie teilweise wieder aufgebaut und bewohnt. Oft von Deutschen, die sich hier billiges Wohneigentum verschafft hatten. Oliver hatte diesen Prozess über Jahre hin verfolgt. Zuerst wenig begeistert, dann zunehmend mit ambivalenten Gefühlen. Auch Einheimische kehrten jetzt nach und nach in ihre Dörfer zurück, die sie vor Jahren auf der Suche nach Jobs verlassen hatten.

    Anja war nicht da. 

    Oliver zog erbittert die Nase hoch. 

    Er rechnete nicht im Ernst damit, dass er sie auf dem Weg treffen würde. Aber er wusste auch nicht, was er sonst tun sollte. Es gab in diesem Dorf kein Restaurant, nicht einmal eine Bar. Auf der Piazza schräg gegenüber der Kirche war der Lebensmittelladen noch geöffnet. Oliver warf einen Blick rein, aus alter Gewohnheit. Nicoletta ließ ihre Kundinnen stehen. Sie hatte Oliver sofort erkannt, obwohl er schon Jahre nicht mehr hier gewesen war. Er hatte damals jeden Morgen Panini geholt. Und als Zugabe Dolce, kleine Gebäckstücke mit Schokolade oder Mandel. Julia war wild hinter ihm her gewesen. Oliver sprach so gut wie kein Italienisch und verstand nur einige Brocken. Trotzdem hatte er bei seinen Besuchen im Laden lange „Gespräche mit Nicoletta geführt. Mit Händen und Füßen. Unter Mitwirkung aller italienischen Kundinnen, die anscheinend endlos Zeit hatten und für die so ein Gespräch mit Händen und Füßen eine erfreuliche Abwechslung war. „Wo du gewesen? Du liebst uns nicht mehr? Nicoletta fuchtelte ihm scherzhaft mit der Faust unter der Nase rum. Anscheinend hatte sie inzwischen besser Deutsch gelernt als er Italienisch. Wahrscheinlich für die Touristen. Oliver lachte und versprach, am nächsten Morgen wiederzukommen.

    Im Dorf weiterzusuchen war sinnlos. Oliver konnte jetzt unmöglich allein ins Haus gehen. Er machte sich auf den Weg nach Cipressa. Da gab es mehrere Läden, eine Bar und zwei Restaurants. Die Straße bewegte sich parallel zur Küstenlinie. Das Meer, das etwa zweihundert Meter weiter unten träge an den Strand schwappte, verschwand langsam im Dunst. In der Ferne glimmten die Lichter eines Kreuzfahrtschiffes. 

    Im Grunde entpuppte sich die ganze Aktion als schwachsinnig. Zum Scheitern verurteilt. Ein Hirngespinst, von Anfang an. Nicht erst, als Anja am verabredeten Treffpunkt nicht erschienen war. 

    An der U-Bahnhaltestelle Schlump. Oliver hatte mit Mühe und Not einen Parkplatz ergattert. Er war den dreistöckigen Bau Rolltreppe für Rolltreppe in die Tiefe gefahren, vom Bahnsteig der U3 zur U2 und dann wieder rauf. Sie hatten verabredet, dass Anja den Flieger nach Genua nehmen würde. Sie wollte sich dann mit der Küstenbahn bis San Lorenzo al Mare und von dort mit dem Taxi durchschlagen. Falls sie es nicht schaffen würde, bis Samstag frühmorgens 5.30 Uhr am Schlump zu sein. 

    Sie

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