Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Suizid - Phantastische Geschichten
Suizid - Phantastische Geschichten
Suizid - Phantastische Geschichten
eBook383 Seiten5 Stunden

Suizid - Phantastische Geschichten

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Suizid in all seinen Facetten - grausig, tragisch, trügerisch, verzweifelt, hoffnungsvoll oder auch verhindert - ist Thema dieser Phantastik-Anthologie.

Dass nicht nur Bestseller-Autoren fesselnd schreiben können, beweisen 21 originelle Erzählungen unbekannter Schriftsteller.
Die Genres erstrecken sich von Fantasy, Mystery und Horror bis hin zu Kriminalgeschichten und gesellschaftskritischer Belletristik. Ein besonderer Fokus der meisten enthaltenen Erzählungen liegt auf dem psychologischen Aspekt, dem Denken und Fühlen der Protagonisten.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum8. Dez. 2021
ISBN9783754930069
Suizid - Phantastische Geschichten

Ähnlich wie Suizid - Phantastische Geschichten

Ähnliche E-Books

Anthologien für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Suizid - Phantastische Geschichten

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Suizid - Phantastische Geschichten - Ruth andere Boose andere

    cover.jpg

    Ruth Boose (Hrsg.)

    Suizid

    Phantastische Geschichten

    Anthologie

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    Herausgeber, Verlag, Satz und Korrektorat: Ruth Boose, 2021, Berlin // Titelbild: Sandra Meyer // Coverdesign: Royana Helmar // Urheberrechte bei den Autoren

    Druck und Vertrieb: epubli, Service der neopubli GmbH, Berlin

    Kontakt: krangii@aol.com

    Inhaltsverzeichnis

    Suizid

    Vorwort

    Das Kino

    Institut zur Behandlung von Selbstmördern

    Das Leben nach dem Tode

    Das Opfer

    Die Strafe der Hölle

    Der Krieg ist vorüber

    die mär von den zwei schwestern und dem weshalb nur

    Vogelleim – eine seltsame Wintergeschichte

    Frank Stenzer

    Sternenlos

    Und am Ende liegt Freiheit

    Und ewig grüßt das Murmeltier

    Abyssus abyssum invocat

    Das Messer

    Der rätselhafte Fall der Susi W.

    Eine Tochter von Kolchis

    Hotel Thanata

    Das Haus

    Nachtmahr

    Eine zweite Chance

    Der perfekte Selbstmord

    Über die Autoren

    Danksagung und Ausblick

    Vorwort

    Im kommerziellen Verlagswesen ist oftmals kein Platz für Experimente oder Risiken. Das betrifft nicht nur unbekannte Schriftsteller, sondern noch mehr heikle Themen. Was sich nicht massentauglich verkaufen lässt, wird gemieden. Somit ist es wohl kein Zufall, dass sich eine nicht-kommerzielle Benefiz-Anthologie diesem stiefmütterlich behandelten und doch so präsenten Thema widmet.

    Erste Reaktionen auf mein zweites Anthologieprojekt waren: „Suizid und Phantastik passen nicht zusammen. // „Bei dem Thema bin ich raus.

    Bemerkenswert, wie ich finde. Über Krieg und Gemetzel, Morde und Vergewaltigungen, Krankheit und Leid, kurz gesagt über jede noch so dunkle Facette menschlichen Erlebens und Verhaltens wird schonungs- und hemmungslos geschrieben. Keine Gräueltat ist zu unmoralisch oder schade dafür, um nicht in einem modernen Horror- oder Fantasyroman für höhere Auflagenzahlen herzuhalten. Aber Suizid … Selbstmord … Freitod? Das geht doch nun wirklich nicht. Da ist der Spaß aber vorbei. Damit möchte doch kein Leser unterhalten werden!

    Ist es die eigene Betroffenheit, mit der man sich nicht beschäftigen möchte? Eine moderne Konvention? Suizid fragt nicht nach Konventionen. Er stellt die Grundfesten unserer Existenz infrage.

    Ist es nicht Zeichen der Verleugnung und des krampfhaften, verdrängenden Umgangs mit dem Suizid, dass eine Zusammenstellung von Geschichten darüber einer gesonderten Erläuterung und Rechtfertigung zu bedürfen scheint? Verdienen nicht alle, die das Thema direkt oder indirekt berührt, ebenso eine literarische Verarbeitung, eine künstlerische Auseinandersetzung?

    Jeder der teilnehmenden Autoren hat mit dem Suizid seine ganz persönliche Umgangsweise, seine individuellen Einstellungen, Phantasien und möglicherweise Erfahrungen, die in seine Erzählung einfließen.

    Denn erst das Wissen um den eigenen Tod und alle sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Grenzen machen den Menschen zum Menschen.

    Das Kino

    von Gregor Samsa

    Es war für einen Apriltag ungewöhnlich kalt. Frierend ging ich durch die fremden, verlassenen Straßen der Vorstadt. Ich war in meinem Leben noch nie in dieses Viertel gekommen. Abweisend standen die niedrigen alten Häuser und versteckten ihre nichtssagenden Fassaden hinter dem Regenvorhang. Wer mochte in diesem trostlosen Stadtteil wohnen? Ab und zu trieb der Wind wie mit unsichtbarer Hand eine schemenhafte Gestalt über das holprige Pflaster, die sich rasch hinter der nächsten Ecke verlor, ehe man sie deutlicher erkennen konnte. Unablässig blies mir der raue Nordwest die eisigen Tropfen ins Gesicht. Es war richtig ungemütlich.

    Ich war froh, als ich mich unter dem Vordach eines kleinen Kinos unterstellen konnte. Mit einem Taschentuch trocknete ich mein Gesicht ab. Ich war ordentlich durchgefroren. Kleine Rinnsale liefen in den Falten meiner Kleidung entlang. Erst jetzt merkte ich, dass ich bis auf die Haut nass war. Ehrlich gesagt verspürte ich keine große Lust, noch länger draußen in diesem Wetter herumzulaufen. Mein Blick fiel auf den Schaukasten, der sich neben dem Eingang befand. Szenenfotos und ein Plakat waren darin angebracht. Es schien ein Krimi zu sein, denn ein Toter lag da, doch Genaues war nicht auszumachen – die Scheibe war angelaufen. Außerdem war fraglich, ob die Bilder zum laufenden Programm gehörten; sie sahen schon ganz verstaubt und verblichen aus. Wer weiß, wann sie das letzte Mal gewechselt wurden. Aber im Grunde genommen war es mir völlig gleich, was hier gespielt wurde. Hauptsache, ich saß im Trockenen.

    Ich drückte die Klinke herunter und lehnte mich gegen den schweren Türflügel, von dem schon die Farbe abblätterte. Er klemmte etwas, aber dann ging er mit einem Ruck auf. Ich stand im Vorraum. Er war leer – kein Wunder bei diesem Wetter.

    Im Kassenraum saß eine weißhaarige ältere Frau und schlief. Ihre Brille war halb von der Nase gerutscht; in einer Hand hielt sie noch das Strickzeug. Ich musste erst mehrere Male energisch gegen die Scheibe klopfen, ehe sie hochfuhr. Entgeistert schaute sie mich an, als sei ich ein Gespenst. „Da sind Sie ja endlich, murmelte sie und schob sich die Brille zurecht, „wir dachten schon, Sie kommen nicht mehr. Sie schien noch halb zu schlafen. Aus was für seltsamen Träumen mochte ich sie hochgeschreckt haben? Ich kaufte die billigste Karte und ein Programm und ging hinein.

    Eine junge Frau stand am Einlass. Ihr dünner Körper wirkte zerbrechlich. Sie war unnatürlich geschminkt, sodass ihr Gesicht noch bleicher wirkte und die Schatten unter den Augen hervortraten. Ihre dürre Hand riss meine Karte ab. „Wann beginnt eigentlich die Vorstellung?, fragte ich. „Sowie Sie drin sind, antwortete sie mit heiserer Stimme, „gehen Sie nur hinein! Mit Verwunderung registrierte ich, dass sie hinter mir die Tür abschloss. Ich klopfte gegen die Scheibe. „Wieso schließen Sie schon ab?, rief ich ihr durch das Glas zu, „Sie wissen doch gar nicht, ob noch jemand kommt. Sie schüttelte bestimmt den Kopf. „Nur für Sie hatte ich noch offen gelassen. Nach Ihnen kommt niemand mehr. Das Verhalten der Frau kam mir merkwürdig vor. In mir stieg ein unbestimmtes Misstrauen auf. Eine innere Stimme warnte mich vor etwas.

    Aufmerksam schaute ich umher. Das Foyer war nur schwach erhellt. In einer Ecke standen wie vergessen vier alte Plüschsessel. Auf der anderen Seite war ein ehemaliger Verkaufsstand. In einer Vitrine lagen einige uralte Keksschachteln. Auf allem lag eine dicke Schicht Staub, als wäre das Kino seit Langem nicht mehr besucht worden. An den Wänden hingen alte Fotos eines Schauspielers. Irgendwie kam er mir bekannt vor, doch ich konnte mich nicht erinnern, in welchem Film ich ihn gesehen hatte.

    Ich stieg ein paar Stufen hoch und geriet in einen stockfinsteren Gang. Vorsichtig tastete ich mich an der Wand entlang und lauschte. Ich vernahm keinen Laut. Das Programm schien also noch nicht zu laufen. Da streifte plötzlich etwas Weiches mein Gesicht. Ich zuckte zusammen. Es war ein Vorhang. Ich schob ihn zur Seite und stand in einem kleinen Zuschauersaal. Auch hier war es ziemlich dunkel, aber mittlerweile hatten sich meine Augen daran gewöhnt. Erstaunt stellte ich fest, dass sich außer mir keine Menschenseele im Kino befand. Es wunderte mich, dass man überhaupt für einen Einzelnen spielen wollte. Es war auf jeden Fall ungewöhnlich.

    Suchend blickte ich mich um. Eine Platzanweiserin war nirgends zu sehen – wozu auch. Ich setzte mich auf den erstbesten Platz. Es war vollkommen still. Offenbar hielt man es für überflüssig, vor Beginn der Vorstellung Musik einzuspielen. Ich schlug das Programm auf und versuchte, die Schrift zu entziffern, doch die Dunkelheit war zu groß. Ich musste mich also überraschen lassen. Schweigend saß ich da und wartete. Die Stille war unnatürlich. Ich saß eine ganze Weile da und döste vor mich hin, aber allmählich wurde ich ungeduldig. „Warum fangen sie nicht endlich an?, fragte ich mich, „zumal sie schon die Tür abgeschlossen haben, weil keiner weiter kommt. Im selben Moment ging wie auf Stichwort das Licht aus und die Vorführung begann. Es schien eine ganz moderne Art Film zu sein.

    Das Gesicht eines Mannes war in Großaufnahme zu sehen. Stumm starrte er mich von der Leinwand an, ohne einen Ton zu sagen. Sein Blick hatte etwas Lauerndes, als warte er auf etwas Bestimmtes, während um seinen Mund ein ironisches Lächeln spielte. An wen bloß erinnerte er mich? Sein Aussehen war mir vom ersten Moment an unsympathisch, ohne dass ich dafür hätte eine Begründung geben können. Noch immer sprach er kein Wort.

    „Das ist wohl ein Stummfilm?", brummte ich unwillig vor mich hin.

    „Nein, antwortete da zu meinem großen Erstaunen der Mann, „ich habe nur gewartet, bis du fragst.

    Ich war überrascht. Der Trick war wirklich verblüffend. Es bestand kein Zweifel – der Mann hatte auf meine laut gestellte Frage reagiert und geantwortet. In der Tat ein merkwürdiger Zufall. Unwillkürlich drehte ich mich um und vergewisserte mich, dass der Mann tatsächlich von hinten auf die Leinwand projiziert wurde.

    „Wie ist das nur möglich?", entfuhr es mir.

    „Ganz einfach, antwortete der Mann, „das ist nur Psychologie. Wir haben im Voraus berechnet, was du für Fragen stellen wirst und wann und konnten so schon vor längerer Zeit die Antworten auf Film aufnehmen.

    „Und das funktioniert?"

    „Natürlich, erläuterte er, als handele es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt. „Es gibt nichts Zufälliges im Leben. Jeder Mensch ist vorprogrammiert. Und deshalb können wir uns heute hier unterhalten, obwohl ich dich vermutlich niemals kennenlernen werde.

    Ich wurde neugierig. Natürlich hatten sich die Fragen, die ich gestellt hatte, ganz aus der Situation ergeben. Jeder andere hätte vermutlich genauso reagiert. Der ganze Dialog musste notwendigerweise scheitern, wenn ich nicht mehr solch simple Fragen stellen würde. Aber auf jeden Fall war es ein interessanter Versuch der Filmschöpfer, den Zuschauer mit in das Geschehen einzubeziehen. Bestimmt hielt der Film noch viele Überraschungen parat. Ich beschloss, den Mann zu testen.

    „Wenn du im Voraus weißt, was ich fragen werde, wandte ich mich an ihn, „musst du ja auf jede Frage eine Antwort wissen.

    „Sicher", entgegnete er.

    Ich triumphierte. Mit einer einzigen Frage konnte ich ihn widerlegen. „Sage mir, wieso ich jetzt in diesem Kino bin!"

    Sein Gesicht wurde ernst. „Weil du heute hier sterben wirst."

    Jäh fuhr ich von meinem Platz hoch. Was ging hier eigentlich vor? Das Kino war unheimlich. Und ich war ganz allein hier. Vorsichtig schlich ich mich zum Ausgang. Er war verschlossen. Angst packte mich. Ich rüttelte an sämtlichen Türen. Vergebens!

    Der Mann auf der Leinwand begann schallend zu lachen. Sein Lachen jagte mich durch den Saal. Ich rannte hinaus in das Foyer und rüttelte an der Eingangstür. Sie gab nicht nach. Da hämmerte ich mit beiden Fäusten gegen die Scheiben. Es musste eine Art Panzerglas sein. Oder waren meine Kräfte so schwach? Im Kassenraum sah ich die ältere Frau sitzen und noch immer schlafen. Hörte sie mich denn nicht? Aber die schlief ja gar nicht, die war ja tot!

    Entsetzt wankte ich in den Saal zurück und ließ mich auf einen Platz sinken. Mein rechtes Handgelenk schmerzte. Ich bemerkte, dass meine Hand voll Blut war. Ich musste mich irgendwo gerissen haben. Der Mann auf der Leinwand hörte auf zu lachen.

    „Nach unserer Berechnung ist ihr Anfall jetzt vorüber. Sie sehen, wir wissen genau Bescheid."

    Ich war schockiert. Die Vorstellung, dass jemand meine geheimsten Gedanken erraten konnte, beunruhigte mich zutiefst. Und doch schien es so zu sein. Die Fähigkeit der Filmschöpfer, meine Reaktionen vorherzusehen, grenzte ans Fantastische. Umso mehr erschreckte mich die düstere Voraussage. Ich zweifelte nicht länger, dass die Drohung ernst gemeint war. Was waren das für Übermenschen, die so furchtbare Geheimnisse wussten, die solch unheimliche Macht besaßen? Mir fiel ein, dass der Mann der Schauspieler auf den Fotos im Foyer war, aber das war jetzt nebensächlich. Denn mich beschäftigte vielmehr die Frage, wie ich dem Phantom auf der Leinwand entgehen könnte.

    Grübelnd saß ich auf meinem Platz. Und ich hatte das Gefühl, als rege sich etwas leise hinter mir. Ich hielt den Atem an. Behutsam schien sich etwas näher zu schleichen. Ich wollte mich umdrehen, aber eine übermächtige Angst verhinderte es. Schweiß brach mir aus allen Poren. Ich wagte nicht, mich zu rühren. Ein Lufthauch streifte meinen Nacken. Atmete da nicht etwas hinter mir? Unter Aufbietung all meiner Willenskraft drehte ich mich mit einem Ruck um. Ich war allein. Feindlich umgab mich die Dunkelheit. Nichts regte sich. Wo lauerte mein unsichtbarer Gegner? Die Stille wirkte tödlich. Meine Nerven waren gespannt. Ich konnte nichts Verdächtiges feststellen, doch ich war sicher, dass sich mein Mörder schon in nächster Nähe aufhielt. Wer mochte es sein? Wer konnte ein Interesse haben, mich zu töten?

    „Wer dich umbringen wird, möchtest du wissen?"

    Ich zuckte zusammen. Wieder einmal hatte der Mann auf der Leinwand meine tiefsten Regungen durchschaut.

    „Ich will es dir verraten, raunte er geheimnisvoll, „du selbst wirst es tun!

    Ich lachte unsicher. „Ich habe keineswegs die Absicht, Selbstmord zu begehen."

    Er lächelte überlegen. „Du wirst es tun, flüsterte er, „nur deshalb bist du doch gekommen. Greif in deine Manteltasche!

    Unwillkürlich befolgte ich seine Anweisung. Ich brachte ein Rasiermesser zum Vorschein. Wie kam es in meine Tasche? Ich hatte doch nie eines besessen. War es mir von jemandem heimlich zugesteckt worden? Oder hatte ich es tatsächlich in einem dunklen, unbewussten Drang gekauft, ohne es wahrzunehmen? Zu welchem Zweck? Ich benutzte doch nur Trockenrasierer. Gab es wirklich in mir einen selbstzerstörerischen Trieb, von dessen Vorhandensein ich nichts geahnt hatte? Ich wusste, ich wollte mir nicht das Leben nehmen – wovor hatte ich dann Angst? Der Mann auf der Leinwand war nur ein Stück Film. Von wem sollte mir Gefahr drohen? Von mir selbst?

    Ich wollte den Mann etwas fragen, doch ich zitterte plötzlich vor dem Klang meiner eigenen Stimme. Was war mit mir los? Ich wollte aufstehen, fand aber nicht die Kraft dazu. Ich schloss die Augen. Grauen erfasste mich, eine Ahnung des letzten furchtbaren Geheimnisses. Es war wie ein riesiger, drohender Abgrund, in den mich meine Angst wie ein Schwindelgefühl hineintrieb. Ich musste diesen unheilvollen Bann zerstören, oder ich war verloren.

    „Versuch auszubrechen!, höhnte der Mann, als hätte er wieder meine Gedanken erraten. „Zerre an deinen unsichtbaren Ketten! Sie halten besser als der festeste Stahl, denn sie sind geschmiedet aus dem Dunkel deiner Zukunft, aus deinem Verhängnis, das Tod heißt. Du kannst nicht dir selbst entfliehen, deinen Gedanken, die wir errechnet haben, deinem Schicksal, das unvermeidlich ist, deinem Tod, dem du unaufhaltsam entgegentaumelst. Und dein Tod wird besonders grässlich sein.

    Ich schluckte. Meine Kehle war trocken. Ich hatte ein Gefühl, als säße mir das Messer schon am Halse. Was war dies für ein schrecklicher Film? Wie würde es enden? Gab es wirklich keinen Ausweg aus dieser unwirklichen Situation? Wieso wussten die Filmschöpfer alle meine Fragen, alle Reaktionen im Voraus? Woher kannte man mich? Wieso konnten sie wissen, dass ich heute hier ganz allein im Kino sein würde? Es war doch reiner Zufall! Irgendwo steckte da eine Unlogik. Was passte hier nicht zusammen?

    Plötzlich durchzuckte mich eiskalt die Lösung des Geheimnisses. Das war gar kein Film! Der Mann war hier im Kino und beobachtete mich. Das erklärte alles: seine richtigen Antworten auf meine Fragen. Sein Verhalten auf meine Reaktionen. Jetzt verstand ich auch, warum man nach mir die Tür verschlossen hatte. Der Mann bluffte. Statt meiner hätte es jede beliebige andere Person sein können, die zufällig hier hereingeraten wäre. Natürlich durfte kein weiterer Zuschauer hinzukommen und stören. Ich beschloss, dem Mann die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Ich war gespannt, wie er reagieren würde, wenn er sich durchschaut sah.

    „He, komm heraus und zeige dich!, rief ich, „ich weiß, dass du hier bist und lebst.

    Der Mann auf der Leinwand lächelte. „Du hast recht, sprach er, „ich bin hier im Kino. Nur – ich lebe nicht, ich bin schon tot.

    „Was ist das schon wieder für ein linker Trick?, fragte ich, „glaubst du, du kannst mich noch länger an der Nase herumführen?

    „Überzeuge dich!, sprach er mit sanfter Stimme, „hast du noch nicht bemerkt, was sich vorn neben der Leinwand befindet?

    Ich erhob mich misstrauisch und ging langsam nach vorn. Neben einem alten Klavier stand ein schwarzer Sarg. Wegen der Dunkelheit hatte ich ihn bisher nicht entdeckt.

    „Was ist? Hast du Angst? Öffne ihn!"

    Ich bezwang meine Furcht und hob den schweren Deckel. Im Sarg lag tot der Mann, das Gesicht grässlich verzerrt.

    Entsetzt fuhr ich zurück, dumpf polterte der Deckel zu. Meine Hände zitterten.

    „Glaubst du nun, dass du sterben wirst?, fragte der Mann. „Du siehst, ich bin tot; ich kann dir nichts antun. Ich sage dir lediglich die Wahrheit. Willst du mir deshalb böse sein?

    Ich schwieg verwirrt und ging langsam auf meinen Platz zurück. Auf drastische Weise hatte der Mann meine Hypothese widerlegt. Ich hatte ihn unterschätzt. Aufs Neue kam mir das Unheimliche der Situation zum Bewusstsein. Ein Toter versuchte, mir das Leben zu nehmen! Er war tot, und doch fürchtete ich die nächsten Stunden. Worin bestand seine Macht über mich?

    „Du hast Angst vor der Wahrheit", bemerkte der Mann. In mir stieg verzweifelte Wut auf. Konnte ich denn keinen Gedanken denken, den der Mann nicht schon vorher wusste?

    „Deine Wahrheit ist nicht meine Wahrheit, entgegnete ich trotzig, „und Angst habe ich überhaupt nicht, denn ich weiß, dass ich nicht sterben werde.

    „Wieso?, fragte er erstaunt, „bist du unsterblich?

    „Nein, ich meine, ich werde nicht heute hier sterben."

    „Ach, fragte er, „kennst du deine Sterbestunde?

    Ich schwieg.

    „Nein, du kennst sie nicht, fuhr er fort, „für einen Sterblichen wie dich wird die Todesstunde bis zum letzten Moment ein unerforschliches Geheimnis bleiben. Wir wissen es besser. Noch heute wirst du dir das Leben nehmen, du kannst gar nicht anders.

    „Und wenn ich nun gar nicht sterben will?"

    „Ha, ha, hat der Tod jemals einen Menschen nach seiner Erlaubnis gefragt? Die Freiheit endet dort, wo der Tod beginnt. Du wirst sterben, so sehr du dich auch gegen diese Tatsache sträuben magst. Es gibt ewige, unumstößliche Naturgesetze, die keiner ändert – auch du nicht."

    Ich überlegte. Ich musste Zeit gewinnen. Meine Lage war keineswegs rosig. Ich war allein, in der Gewalt eines Toten. Und er schien keineswegs ungefährlich. Bevor ich etwas unternahm, brauchte ich mehr Klarheit.

    „Sage mir, woher wusstest du im Voraus, dass ich allein im Kino sein würde?"

    Der Mann tat erstaunt. „Allein? Sieh dich um! Rings um dich her sitzen viele Menschen. Du bemerkst sie nur nicht."

    „Aber wieso?"

    „Jeder, der stirbt, ist ganz allein."

    „Aber die Menschen – sehen sie mich denn nicht? Warum helfen sie mir nicht?"

    „Sie beobachten dich. Doch sie verstehen dich nicht. Wer könnte je den Tod begreifen?"

    „Aber der Film?"

    „Sie sehen den gleichen Film wie du. Nur – du deutest etwas anderes hinein. Die anderen sehen zur selben Zeit einen Unterhaltungsfilm. Hörst du nicht ihr Lachen? Nein, du vernimmst nur die Stille des Todes, nur du kannst seinen Ruf vernehmen, der tief aus deinem Innersten kommt, denn du sehnst dich zu sterben."

    Ich spürte immer deutlicher, dass man versuchte, mich zu manipulieren. Es war nicht in erster Linie mein Leben, was bedroht war. Ich war in Gefahr, mich selbst zu verlieren. Man versuchte, mein Wesen zu zerstören, mich dazu zu bringen, mich selbst aufzugeben.

    Gerade das würde ich nicht tun. Ich war bereit zu kämpfen. Ich beschloss, mich ganz auf mein Ich zu verlassen, auf meine Logik, auf meine Gefühle. Und eines wurde mir immer klarer: Der Mann konnte alles noch so genau vorausberechnen, eine Möglichkeit entzog sich seiner Kalkulation: dass der Mensch sich ändert, sich entwickelt. Darin lag meine Chance. Bisher war ich nur auf meine Rettung bedacht gewesen. Darauf musste der Mann seinen Plan aufgebaut haben. Ich musste anders sein, ungewöhnlich, mich selbst und meine kleinliche Angst überwindend. Dann würden meine Fragen nicht mehr mit seinen Antworten übereinstimmen.

    Zwar war die Situation verwirrend und undurchsichtig, doch mir war bewusst, dass der Mann nur Macht über mich hatte, wenn ich sie anerkannte, wenn ich auf sein Gerede einging, wenn ich ihm Glauben schenkte. Ich beschloss, ihn zu ignorieren, so zu tun, als existiere er nicht. Was wollte er dann gegen mich ausrichten?

    Ich setzte mich bequem im Sessel zurecht und schaute vor mich hin.

    „Dir hat es wohl vor Schreck die Sprache verschlagen?", fragte der Mann, doch sein Lachen klang erstmals unsicher.

    Ich schwieg und beachtete ihn nicht. Wir würden sehen, wer die stärkeren Nerven hatte: ich – oder der Tote. Ich wusste, ich zwang den Mann jetzt, etwas zu unternehmen. Er musste ans Ziel gekommen sein, bevor der Film zu Ende war. Wie mochte er wohl weitergehen, wenn ich nicht mehr mitspielte?

    Eine Weile saß ich da, ohne dass etwas geschah. Plötzlich flammte das Licht auf. Mein Blick fiel auf das Programm in meiner Hand. Ich sah auf einem Foto – mich selbst, zusammengesunken in einem Kinosessel. Ich lachte laut. Einfallsreich war der Mann, das musste man ihm lassen, aber das zog bei mir nicht mehr. Ich verspürte nicht die geringste Lust, mich umzubringen.

    Das Licht erlosch wieder. Was mochte der Mann jetzt wohl auf Lager haben? Mir war es gleich, ich ließ mich nicht mehr erschüttern. Für einen Lebensmüden war ich verdammt munter. Nach einiger Zeit leuchtete auf der Leinwand ein Dia auf: „Bitte beeilen Sie sich mit dem Selbstmord! Draußen warten noch viele andere, die an die Reihe kommen wollen."

    Aha, der Mann wurde nervös.

    Nervös? Wie konnte er das? Er war doch tot? Wo lag hier der Denkfehler? Mein Hirn arbeitete fieberhaft. Ich musste das Geschehen logisch erfassen, mich nicht vom Schein täuschen lassen. Fakt war, dass der Mann unsicher geworden war. Also musste er leben, das war die einzige vernünftige Erklärung. Je länger sich das Ganze abspielte, umso mehr stieg die Unwahrscheinlichkeit, dass alle Antworten schon vorher aufgenommen worden waren. Doch was war mit dem Toten im Sarg? Wie reimte sich das zusammen?

    Ich musste dahinterkommen. Ich beschloss, alles noch einmal genau zu rekonstruieren. Ich ging nach vorn zum Sarg und überlegte. Jedes Detail war wichtig. Wie bei einer Zaubervorführung hatte jede Kleinigkeit ihren Grund. Warum stand der Sarg gerade hier? Ich blickte mich um. Mir fiel auf, dass ich von hier aus nicht die Leinwand sehen konnte. War das Zufall?

    „Bemühe dich nicht! Du kriegst es ja doch nicht raus!"

    Ich trat einige Schritte zurück. Der Mann war wieder auf der Leinwand zu sehen. Mir war klar, er wollte mich ablenken. Er musste gemerkt haben, dass ich neben den Sarg getreten war. Das konnte keine Vorherberechnung mehr sein. Der Mann lebte. Ich spürte es mit jedem Nerv. Doch wie konnte er mich von der Leinwand aus anlächeln, wenn er zugleich tot im Sarg lag?

    Moment mal! Wieso zugleich? Blitzartig begriff ich, warum der Sarg so platziert war, dass ich von dort nicht die Leinwand sehen konnte. Als ich den Deckel geöffnet hatte, hatte sich der Mann verstellt und das Gesicht verzerrt. Er hatte folgerichtig mit meinem Entsetzen gerechnet. Er musste ein genialer Wahnsinniger sein, anders war sein Tun nicht zu erklären. Und mir wurde klar, dass er eine tödliche Gefahr für mich darstellte. Er würde nicht eher ruhen, bis er mich vernichtet hatte. Er oder ich – eine dritte Möglichkeit existierte nicht.

    Ich weiß heute nicht mehr, woher ich meine Entschlossenheit nahm. Mit festem Griff packte ich das Rasiermesser. Behutsam öffnete ich den Sarg. Der Mann lag totenähnlich, wie vorhin. Doch ich ließ mich nicht mehr verwirren. Mit einem raschen Schnitt trennte ich seine Kehle durch – ein Röcheln bewies die Richtigkeit meiner Theorie.

    Ich untersuchte den Sarg und entdeckte an der Innenseite des Deckels eine Fernsehkamera und ein Mikrofon. Nun betrachtete ich die Leiche genauer und bemerkte, dass das Totengesicht eine Maske war. Ich zog sie weg. Das echte Gesicht kam zum Vorschein, genauso in maßlosem Entsetzen verzerrt wie die Maske.

    Wie erschrak ich, als plötzlich die Stimme des Mannes ertönte. Von der Leinwand aus lachte er mich an. „Ha, ha, du hast mich getötet. Doch hast du damit die Wahrheit besiegt? Die Wahrheit kann man nicht töten. Und ich bin die letzte schreckliche Wahrheit. Hast du durch deine Tat etwas geändert am unumstößlichen Urgesetz, dass du sterben wirst? Hebst du es auf, indem du denjenigen tötest, der dir die Wahrheit ins Gesicht schreit?"

    „Ha, du willst die Wahrheit sein?, rief ich wütend. „Ich werde dir eine bessere Wahrheit entgegenhalten. Dir geht es gar nicht darum, dass ich sterbe, du willst nur verhindern, dass ich sinnvoll lebe! Mich täuschst du nicht mehr. Lüge und Schein bist du, nichts als leerer Schein. Was ich jetzt sehe, ist wirklich ein Film. Doch ich werde auch deinen falschen Schein vernichten, denn er ist das Gefährlichste an dir.

    Ich stürzte zur Leinwand vor und zerschnitt sie mit dem Rasiermesser in kleine Fetzen.

    Dahinter kam eine Bühne zum Vorschein. Das Licht des Mannes fiel auf eine Tür. Ich klinkte. Sie war unverschlossen. Ich gelangte in einen schwach erleuchteten Gang. Noch einmal glaubte ich, den Mann zu erblicken, als ich um die Ecke bog. Doch es war ein Spiegel. Als ich nähertrat und mich im Glas betrachtete, sah ich nur mich.

    Durch den Heizungskeller gelangte ich in einen Hof. Ich trat durch eine Toreinfahrt auf die Straße. Ich war frei.

    Es war schon Nacht. Der Regen hatte aufgehört. Am Himmel leuchteten einige vereinzelte Sterne. In der Ferne bellte ein Hund.

    Später hatte ich das Kino mehrmals gesucht, es jedoch – da ich mir die Straße nicht gemerkt hatte – nie mehr gefunden.

    Institut zur Behandlung von Selbstmördern

    von Gregor Samsa

    Der Direktor empfing mich mit einem strahlenden Lächeln, als begrüße er einen alten, lange erwarteten Freund, und sagte mit liebenswürdiger, weicher Stimme:

    „Willkommen in unserem Hause! Es freut mich, dass Sie endlich zu uns gefunden haben. Womit können wir Ihnen dienen? Halt, sagen Sie nichts! Lassen Sie mich raten! Sie möchten etwas Außergewöhnliches. Einen modernen Tod, doch auch eine gewisse Romantik. Nein, schweigen Sie! Ich weiß genau, was Sie bewegt. Ein Mensch wie Sie möchte nicht einen alltäglichen Tod sterben, nicht wahr! Ich sehe es Ihnen an, Sie sind Individualist. Ein Träumer und Draufgänger zugleich. Sie möchten einen Tod, der ganz einmalig ist, einen spektakulären Tod, einen Tod, der letzten Endes doch noch irgendeinen Sinn hat. Für Sie und für die Menschheit. Lassen Sie sich zunächst eines versichern:

    Ihr Freitod wird sinnvoll sein. Für Sie, weil er Sie von Ihren Qualen erlöst, für die Menschheit, weil Sie ein Vorbild sind, einer, der mehr Mut hat als die anderen, die stumpfsinnig vor sich hin vegetieren. Ihr Tod wird ein Fanal sein, andere aufrütteln und sie anspornen, Ihnen nachzueifern. Nein, widersprechen Sie nicht! Sie fragen sich, wie Ihr Wunsch erfüllt werden soll? Ich bitte Sie, verlassen Sie sich ganz auf unser Haus und unsere langjährigen Erfahrungen. Sie werden mit Ihrem Tod zufrieden sein. Wir verfügen über eine Skala von Selbstmordarten, an die Sie nicht einmal im Traum dachten. Exquisit! Ich sehe Besorgnis in Ihren Augen? Keine Angst, Ihr Tod wird für Sie nicht unerschwinglich sein. Wenn Sie vielleicht gütigst einen Blick auf unsere Preisliste werfen möchten?"

    Er reichte mir mit gewinnendem Lächeln einen umfangreichen Katalog über den Schreibtisch und schaute mich erwartungsvoll an.

    Ich nutzte die Gelegenheit, dass ich endlich zu Worte kam, um erst einmal einiges klarzustellen. „Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor", sprach ich entschieden, doch zugleich behutsam, um den Direktor schonend auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen. „Ich habe keineswegs die Absicht, Selbstmord zu begehen. Ich bin Reporter des Magazins Holiday und möchte einen Artikel über Ihr Institut schreiben."

    „Sie wollen sich gar nicht das Leben nehmen?", meinte der Direktor enttäuscht. In seinen bisher so feurigen Augen war jeder Glanz erloschen.

    „So ist es, sagte ich mit Nachdruck, „hier ist mein Presseausweis.

    Ich reichte ihm meine Karte über den Tisch. Er blickte mich noch immer verständnislos an. Seine buschigen Augenbrauen zuckten nervös. Ich hatte ihn offensichtlich aus dem Konzept gebracht. „Presse also", murmelte er verdattert vor sich hin. Doch dann blitzten seine Augen wieder auf.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1