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Argatai
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eBook275 Seiten4 Stunden

Argatai

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Über dieses E-Book

Alice Brown existiert nicht mehr. Sie war einst eine Freundin, eine Tochter und eine Schwester. Nun ist sie eine Nummer. Eine Nummer, die es nicht würdig ist, eine eigene Meinung zu vertreten. Jemand, der dafür geschaffen ist, Aufträge zu erfüllen. Aufträge, von den Göttern höchst persönlich, die entgegen aller Gesetze der Natur existieren. Die du nur aus Geschichten kennst. Für die Alice bereit sein soll, zu sterben. Ohne Fragen zu stellen. Ohne an ihren Anweisungen zu zweifeln.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. Okt. 2016
ISBN9783734565434
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    Buchvorschau

    Argatai - Marina Wenn

    PROLOG

    Mitleidig betrachteten die strahlend grünen Augen des Kriegers die regungslosen Vermummten vor sich. Ein weiterer Auftrag war zu Ende gegangen und über die Hälfte der Rekruten waren tot. Er, Nummer 5, hatte als einer der wenigen überlebt. Nur Francesco hatte es noch mit Mühe und Not lebend zurückgeschafft.

    Selbst die Kinder der Athene hatten sie geopfert, bevor sie den Rückzug angeordnet hatten.

    Was mit ihren Toten passierte, wusste niemand und die meisten scherten sich auch nicht darum. Wahrscheinlich wurden sie verbrannt oder irgendwo im Boden verscharrt. Angehörige, die um sie trauern würden, hatten sie ja alle nicht mehr.

    Von ihnen wurde erwartet, die Verstorbenen zu vergessen und nach vorne sehen. Ihre Arbeit davon nicht beeinflussen zu lassen. Niemals Vertrauen oder – noch schlimmer – Gefühle zu entwickeln. Jeden, einschließlich sich selbst, als eine Nummer zu betrachten. Als eine anonyme Spielfigur des Systems.

    Der große, dunkelhaarige Junge warf noch einen letzten Blick auf die eiskalten, erstarrten Körper und wandte sich dann um. Bisher hatte er alles getan, was sie wollten. Widersetzte sich nie einer Anweisung. Hinterfragte keinen einzigen Befehl. Er hatte an das System und seine Arbeit darin geglaubt. Er war sich sicher, dass er Gutes tun würde und dass er etwas bewirken konnte. Immer hatte er geglaubt, dass Verluste für die größere Sache nötig seien. Hatte die Toten tatsächlich vergessen … Und dennoch spürte er nun ein für ihn sonst unbekanntes Gefühl. Misstrauen.

    Zum ersten Mal in seinem Leben zweifelte er an seinen Prinzipien, als er dabei zusah, wie die Toten hinausgetragen, Zimmer ausgeräumt und nach neuen Rekruten gesucht wurde. Neue Rekruten. Neue Opfer, die ihre Familien und Freunde unfreiwillig hinter sich lassen und das Kämpfen erlernen mussten. Ihnen blieb nichts anderes übrig. Würden sie nicht kämpfen, würden sie sterben.

    Wie benommen setzte Nummer 5 seinen Weg durch das große Gebäude fort. Es war so unheimlich still. Nirgends war Lachen, oder angestrengtes Keuchen von Rekruten beim Training zu hören. Bald hatte er den „Krankentrakt" erreicht, in dem mehr Treiben herrschte. Kaum zwei Tage waren vergangen, seitdem der Auftrag offiziell als gescheitert benannt wurde und schon lagen hier neue, junge Krieger. Aus manchen Räumen waren Schluchzer zu hören, aus anderen wütendes Schreien und aus wieder anderen gar nichts. Kein einziger Mucks. Das waren die, die am schnellsten starben. Die, die mutig genug waren, nicht zu kämpfen und schon bei ihrer Aufnahmeprüfung ihr Leben ließen. An einer Tür blieb er stehen und betrachtete das stille kleine Mädchen mit den dunklen kurzen Haaren. Nummer 6 sollte sie werden. Wahrscheinlich war sie kaum 14 Jahre alt. Wie er, als er hierher kam. Und dennoch ließ sie alles ohne Geschrei über sich ergehen.

    Gerade wollte er hineingehen, als ihm Francesco entgegenlief. Das warme Lächeln, das er sonst trug, war in den letzten Tagen aus seinem Gesicht gewischt worden. Auch er hegte Zweifel an der Organisation und seinem eigenen Vater, der diese führte. Er hatte sich Nummer 5 anvertraut und so hatten die beiden die oberste Regel des Hauses gebrochen. Verschwörung.

    Öfter als in seiner gesamten Zeit hier, hatten sie darüber nachgedacht, zu fliehen und all das hinter sich zu lassen. Aber sie brachten es nicht über sich. Zu wem sollten sie auch … sie würden sie überall finden. Der Tod wäre der einzige Ausweg. Und dafür waren sie beide zu feige. Nicht einmal das konnten sie leugnen.

    Stirnrunzelnd betrachteten die smaragdgrünen Augen die bläulichen Ringe, die einen dunklen Schatten über das Gesicht des Italieners vor ihm legten. Es schien keine gute Nachricht zu sein.

    „Du musst in die Zentrale kommen. Wie es aussieht, holen wir die nächste", stieß Francesco keuchend hervor.Wahrlich keine schöne Nachricht. Ein weiteres Mal würden sie aufbrechen müssen, um einen armen jungen Teenager aus seinem Leben zu reißen und ihn in unsere grausame Welt führen. Der Braunhaarige nickte knapp, versuchte seine Missgunst darüber zu verbergen, doch der Italiener kannte ihn zu gut.

    „Sie scheint dieses Mal älter zu sein. So alt wie wir. Sie wird es leichter verkraften."

    Worte, die nicht viel bedeuten mögen, doch bringt einem 14-jährigen Mädchen mal bei, dass sie ihre Mutter nie wiedersehen wird. Grausam. Da ist es bei einer 18jährigen jungen Frau leichter. Immer noch schrecklich, aber dennoch leichter.

    Wortlos eilten die beiden in Richtung Zentrale, wo ihr Anführer, Francescos Vater, bereits auf sie wartete. Ohne auf seine Worte zu achten, die sowieso jedes Mal die gleichen waren, betrachtete er die Bildschirme. Sie war hübsch, keine Frage. Die rostbraunen Locken hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und sie trug nur schwarze Pyjamashorts und T-Shirt.

    Ja, ihre Organisation spionierte sie aus bis es soweit war. Analysierte Gewohnheiten und ihren Tagesablauf. Plante alles bis ins kleinste Detail, damit auch ja nichts schief ging. So auch bei ihr. Es schien, als würde sie eine Pyjamaparty mit Freundinnen planen, die schon alle in einem Zimmer versammelt waren und sich angeregt unterhielten. Aufmerksam betrachtete der Krieger jedes Bild genau, doch schon nach kurzer Zeit fanden seine Augen wie von alleine wieder die hübsche Nummer 12. Sie hatte etwas Faszinierendes an sich, das den Jungen fesselte. Ihn dazu brachte, die Augen nicht von ihr lösen zu können. Schon lange Zeit hatte er so etwas nicht mehr gefühlt, sich vor jedem Mädchen in seinem Alter verhalten, wie vor allen anderen.

    Distanziert.

    Kalt.

    Gefühllos.

    Aber irgendetwas hatte dieses Mädchen auf den Bildschirmen. Er konnte seinen Blick kaum von ihr abwenden, wusste, dass sie für ihn Ärger bedeuten würde. Jedes Mal, wenn sich zwei der Rekruten näher füreinander interessierten, verschwanden sie wie all die anderen, die gegen Regeln verstießen. Sie kamen nie wieder und wurden durch unerfahrene Krieger ersetzt. Wie Puppen, die einem irgendwann nicht mehr gefielen und weggeschmissen wurden.

    Auch wenn es ihm schwer fiel, wandte sich Nummer 5 schließlich an den Anführer.

    „Wann geht es los?", waren seine Worte.

    „In zwei Stunden", lautete die schlichte Antwort.

    Schwer schluckend wandte er sich wieder den Bildschirmen zu und betrachtete abermals die junge Alice Brown. In zwei Stunden würden sie ihr diesen Namen und ihr Leben nehmen. In zwei Stunden würde sie vor ihm gefesselt und bewusstlos auf einer Liege liegen. In zwei Stunden würde Alice Brown nicht mehr existieren.

    „Wenn du die Wahrheit suchst, sei offen für das Unerwartete, denn es ist schwer zu finden und verwirrend, wenn du es

    findest."

    – Heraklit -

    KAPITEL 1

    Lachend stand ich auf und folgte meinem pelzigen besten Freund nach unten. Schon seit mehreren Minuten versuchte er das Gespräch mit meinen Freundinnen zu stören und mich dazu zu bringen, ihm was zu Futtern zu geben. Dass die Chips leer waren, hatte ich als Anlass dazu genommen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.

    Auf dem Weg in die Küche begegnete mir der schwarze Lockenkopf meiner Schwester Eva. Unsere Eltern waren auf eine Geburtstagsfeier eingeladen und ich endlich volljährig. Eine perfekte Gelegenheit also, einen ungestörten Abend mit Freunden zu verbringen, wenn da nicht die kleine, nervige Schwester wäre. Immer wollte sie irgendetwas von mir oder brauchte Hilfe. „Alice?", erklang es da auch schon. (War ja klar, warum sollte es dieses Mal auch anders sein …)

    Die Augen verdrehend wandte ich mich zu ihr um und zog ungeduldig eine meiner Augenbrauen hoch.

    „Ich glaube Ma hat den Gartenschlauch angelassen, vielleicht könntest Du mal danach schauen?"

    Genervt schnaubte ich auf. „Kannst Du das nicht selbst machen? Du weißt doch, dass Danielle und die anderen oben warten." (Danielle und Ben – ihr Freund – waren meine besten Freunde, doch Ben hatte heute irgendetwas wie einen Männerabend mit William – meinem Freund – vor, deshalb konnten die beiden nicht kommen.)

    Erstaunt beobachtete ich, wie Eva nervös begann, ihre Hände zu kneten und betreten zu Boden sah. (So sah man sie wirklich nicht oft.)

    „Ja, könnte ich … nur es gewittert so heftig, und dunkel ist es auch schon …"

    Nur schwer konnte ich mir ein Lachen verkneifen. Wo Eva von uns beiden doch die viel Hübschere und Talentiertere war, war sie doch ein ganz schöner Angsthase. Mit einem – trotz meiner Bemühungen – belustigten Lächeln auf den Lippen nickte ich und drückte ihr die leere Schüssel in die Hand, bevor ich meine Jacke von der Garderobe riss und die gläserne Tür zum Garten aufschob. Eva hatte Recht gehabt. Ein heftiges Gewitter tobte über meinem Kopf, das den Abendhimmel unnatürlich dunkel färbte. Es war zwar Mitte November, doch so dunkel sollte es erst in einer Stunde sein …

    Fröstelnd zog ich den warmen Stoff meiner Jacke etwas enger um mich und trat ins Freie. Eigentlich hätte ich mir den dünnen Mantel auch sparen können. Schon nach ein paar Sekunden war ich bis auf die Haut durchnässt. (Das würde eine heftige Rache für Eva geben!)

    So schnell es in der Dunkelheit möglich war, suchte ich nach dem tollen Gartenschlauch, den meine Mutter jeden Abend vergaß auszumachen. Das Ende lag in der Hundehütte von Jin – meinem Hund – (fragt mich nicht, wie es dahin gekommen ist) und das Wasser lief tatsächlich noch. Hastig beugte ich mich in die Hütte und streckte meine kalten Finger nach dem Schlauch aus, als ein Blitz mit einem lauten Knall ganz in der Nähe einschlug.

    Erschrocken ruckte mein Kopf nach oben und – wie sollte es anders sein – stieß hart auf Holz. Fluchend und mit dem Schlauch in der Hand richtete ich mich wieder auf und rieb mir meinen Hinterkopf. Das würde eine saftige Beule geben.

    Wie von alleine drehten meine Finger das Ventil des Schlauches zu, doch als ich mich umwandte um wieder ins Haus zu gehen, hielt ich abrupt inne.

    Es mochte so dunkel sein, dass man kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnte, aber jedes Mal wenn der Himmel durch einen weiteren Blitz erhellt wurde, sah man es deutlich. Ein Schatten. Und sicher keiner eines Hasen oder einer Katze. Groß und breit wie der eines ausgewachsenen, gut trainierten Mannes. (Ok, das wäre jetzt wirklich der richtige Moment, zurück ins Haus zu gehen.)

    Meine Neugier siegte. Mit schmerzendem Hinterkopf und wie wild schlagendem Herzen setzte ich einen Fuß vor den anderen. Anschleichen war nicht möglich, der Boden war so von Regen durchweicht, dass jeder meiner Schritte quietschte. Er musste wissen, dass ich ihn bemerkt hatte. Und dennoch … Er rührte sich nicht von der Stelle, bis ich direkt vor ihm stand. Der Mann war wahrscheinlich einen guten Kopf größer als ich und Angst packte mich. (Jetzt solltest Du wirklich weglaufen, Alice.)

    Abermals wurde es für kurze Zeit durch einen weiteren schrecklichen Blitz hell und unnatürlich grüne Augen blitzten mir entgegen. Ich hatte ihn kaum erkannt, nicht den Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen, doch da ging die Panik mit mir durch. Mit einem erstickten Aufschrei wollte ich mich umdrehen, doch ich wurde von hinten gepackt und zu Boden geschmissen. Blind trat ich mit den Füßen um mich, bis ich mein Ziel fand und ein schmerzerfülltes Keuchen zu hören war. Meine letzte Chance. So heftig, wie ich konnte, stieß ich die Fersen in den Boden und drückte mich ab. (Da hat das jahrelange Sprinttraining in der Schule ja doch was genützt.) Irgendwie, weiß Gott wie ich das geschafft habe, erreichte ich die Haustür und schmiss sie panisch zu. Auf alles gefasst, warf ich mich zu Boden und hielt meine Hände schützend über den Kopf.

    Stille.

    Kein Knall einer Pistole, kein Klirren einer zerbrechenden Glasscheibe, kein angsterfülltes Aufschreien. Das Befürchtete blieb aus.

    Vorsichtig rollte ich mich wieder auf den Rücken und sah zur Tür hinaus. Dort war niemand. Er war mir nicht gefolgt. Noch immer vor Angst zitternd stellte ich mich auf die Beine und trat etwas näher an die Scheibe. Nichts. Nicht einmal sein Schatten war noch hinter den Bäumen zu sehen.

    Als sich das heftige Pochen in meinem Hinterkopf erneut meldete, kam ich ins Stocken. Ich hatte mir das doch nicht nur eingebildet … Er hatte mich gepackt. Zu Boden geworfen … Ihr könnt mir beim besten Willen nicht erzählen, dass eine Gehirnerschütterung so etwas bewirken kann …

    Noch eine Weile blieb ich, wo ich war und suchte immer und immer wieder den Garten nach einem Anzeichen des Mannes ab, doch nichts passierte. Kopfschüttelnd wandte ich mich ab und beschloss, die ganze Sache zu vergessen. Wüssten Eva und meine Eltern davon, würden sie mich in die nächste Klapse schleifen und erst wieder rausholen, wenn ich „völlig genesen wäre. (Was wahrscheinlich so viel hieß wie „verrückter als vorher.)

    Ich hatte gerade gedankenverloren einen Fuß auf die erste Treppenstufe gesetzt, als ich durch ein schwaches Bellen aus meiner Trance gerissen wurde. Stirnrunzelnd wandte ich mich zu der geschlossenen Tür am anderen Ende des Ganges um. Die Küchentür war sonst nie verschlossen. Und zwar wirklich nie. Verwirrt drückte ich die Klinke herunter. Wie immer ließ sie sich ohne ein Quietschen, ohne jeglichen Mucks öffnen.

    Sofort kam mir Jin schwanzwedelnd entgegen und ich atmete beruhigt auf. Nach der Situation im Garten vorhin hätte ich wirklich viel erwartet … (Vielleicht war die Klapse doch eine recht gute Lösung für mich.)

    Wieder pochte mein Schädel einige Male schmerzhaft und ich beschloss, dass ich eindeutig etwas zum Kühlen brauchte. Schon als der kühle Eisbeutel meinen Kopf berührte, seufzte ich zufrieden auf. Das brauchte ich jetzt.

    Schon war ich wieder auf dem Weg nach oben, als mein Blick auf den Boden vor dem Kühlschrank fiel. Pinke Scherben lagen dort verstreut. Pink, wie die Schüssel, die ich zuvor Eva in die Hand gedrückt hatte.

    Der Kühlbeutel entglitt meinen tauben Fingern und benommen taumelte ich einige Schritte zurück. Den Blick weiter auf den Boden gerichtet. (Ganz ruhig, Alice, hier ist kein Blut, ihr wird nichts passiert sein.)

    Mein Atem ging nur noch stoßweise und es war ein Wunder, dass ich noch keinen Herzinfarkt erlitten hatte, so heftig pochte es in meiner Brust. Sofort rasten meine Gedanken weiter. Danielle.

    So schnell mich meine müden Beine trugen, sprintete ich die Treppen hinauf und stieß die Tür zu meinem Zimmer auf. Abrupt blieb ich stehen und Tränen stiegen mir in die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein.

    Mit kleinen, unsicheren Schritten trat ich in das vollkommen leere Zimmer. In den dicken Kissen, die ich in der Mitte zu einem großen Haufen geformt hatte, war noch zu sehen, dass hier vor Kurzem drei Mädchen gesessen und sich köstlich amüsiert hatten. Nun waren sie weg. Einschließlich meiner Schwester. Und ich drehte durch. (Oh bitte, Gott, lass mich aufwachen.)

    Ungehindert liefen mir dicke Tropfen über die Wangen und trübten meine Sicht.

    Da passierte das, wovor ich mich zuvor so gefürchtet hatte. Das Klirren von Glas. Vor Schock erstarrt blieb ich an Ort und Stelle. Krümmte nicht einmal meinen kleinen Zeh. Hielt den Atem an. Kurz darauf das vertraute Quietschen der Treppe. Er war nicht alleine, das waren Geräusche von mindestens zwei Paar Schuhen.

    Endlich erwachte ich aus meiner Starre, griff noch mein Handy und riss meinen Schrank auf. Panisch kletterte ich in den Spalt in der Schrankwand und quetschte mich so gut es ging in das Versteck, das niemand außer mir kennen durfte. Erst als die Schranktüren geschlossen waren und Dunkelheit mich umgab, erlaubte ich mir, wieder zu atmen.

    Ohne nachzudenken wählte ich die erste Nummer, die mir in den Sinn kam. William. (Ist doch klar, nicht der Notruf, sondern dein Freund, der sonst wo ist. SUPER.)

    Mit zitternden Händen hielt ich mir das Gerät ans Ohr und wartete.

    „Schatz? Hey, was gibt‟s?", erklang schon nach ein paar Sekunden seine vertraute Stimme.

    Mit Mühe konnte ich mir ein erleichtertes Aufschluchzen verkneifen. Ihm war nichts passiert.

    Wieder erklang seine Stimme: „Alice?"

    So leise, wie es meine zitternde Stimme zuließ, antwortete ich hastig: „William … Ich brauche Hilfe, ich weiß nicht, was hier passiert. Eva und die anderen … sie sind weg."

    Ich konnte mir seinen Gesichtsausdruck förmlich vorstellen, als er nicht antwortete. Er glaubte mir nicht.

    „Verarscht Du mich, Schatz? Ich meine, das letzte Mal war es noch lustig, aber das ist gerade echt gruselig."

    Fast hätte ich genervt aufgestöhnt. „Nein, das ist mein Ernst … irgendjemand ist hier im Haus."

    Wieder war Stille am anderen Ende der Leitung. Er wusste nicht, was er sagen sollte. (Was hätte ich auch anderes erwarten sollen, es war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, ihn zu verarschen.)

    Plötzlich erklangen Stimmen und ich zuckte heftig zusammen. Sie waren hier in meinem Zimmer. Genau vor meinem Schrank und redeten leise. Verzweifelt presste ich mir eine Hand vor den Mund, um mein lautes Atmen zu dämpfen. William antwortete immer noch nicht.

    Mein Gott, sie hatten meine Schwester geholt und meine Freundinnen geholt … Wahrscheinlich waren sie schon tot und nun war ich an der Reihe …

    Ein lauter Schluchzer kam über meiner Lippen und die Stimmen verstummten. Sie hatten mich gehört. (Heilige Scheiße.) Ich hörte ihre schweren Schritte, als sie langsam auf mich zukamen. Es gab keinen Ausweg mehr. Es gab keine Rettung. Da öffnete sich auch schon die Tür und ich sah denselben grünen Augen entgegen wie zuvor im Garten. (Wenigstens habe ich mir das nicht eingebildet.)

    Wir beide hielten einen Moment inne, unsere Blicke verflochten sich ineinander, keiner war fähig wegzusehen.

    Er war der erste, der sich wieder fing. Unnachgiebig fasste er mein Fußgelenk und zog. Sofort fing ich an zu Kreischen, trat und schlug um mich, doch er war zu stark und sein Griff zu eisern.

    „WILLIAM!"

    Meine letzte Hoffnung, doch wenn ich es richtig deutete, hatte er bereits aufgelegt. Er hielt es immer noch für einen dummen Streich.

    Mittlerweile lag ich auf dem hölzernen Boden meines Zimmers und wehrte mich noch immer mit Händen und Füßen. Kampflos würde ich mein Leben nicht aufgeben. Ein zweiter Mann wollte nach meiner Hand greifen, doch ich bekam seinen Arm zu fassen und biss so heftig hinein, bis ich Blut schmeckte. Fluchend zog er seinen Arm zurück und genau in diesem Moment fand mein Fuß ein zweites Mal sein Ziel zwischen den Beinen des grünäugigen Mannes.

    Die Sicht von Tränen vernebelt sprang ich die Treppe hinunter und warf mich aus der Haustür. In meiner Eile übersah ich eine Stufe und landete mit dem Gesicht voraus im Matsch. Dreckig oder nicht, ich hatte keine Zeit, mich darum zu kümmern. Blitzschnell war ich wieder auf den Füßen, als mir ein Sack über den Kopf gestülpt wurde und sich starke Arme um meine Taille schlossen.

    Wieder schrie und wehrte ich mich, aber ein zweites Mal kam ich nicht frei. Ich bekam keine zweite Chance, davonzukommen.

    „Bitte, begann ich „bitte, lasst mich leben, ich bin niemand besonderes. Lasst mich gehen.

    Keine Antwort.

    Bitte", flehte ich noch einmal mit Nachdruck. Als wieder keine Antwort kam, ließ ich mich kraftlos gegen den harten Körper hinter mir sinken und gab auf. Stumme Tränen durchnässten den Stoff über meinen Augen und ich erwartete den Schmerz. Vielleicht würden sie sich noch ein wenig Spaß mit mir gönnen. Vielleicht würden sie mich danach erst umbringen. Ich würde mich nicht wehren. Ich hatte genug gekämpft. Es war offensichtlich, dass jemand im Himmel mich tot sehen wollte. Dass die Moiren meinen viel zu kurzen Lebensfaden gespannt hielten, die Schere griffbereit.

    Ich beugte mich meinem Schicksal.

    Ein Ruck durchfuhr mich, als ich eine warme Hand an meinem Nacken spürte, die den kratzenden Stoff des Sackes fast vorsichtig und sanft fortschob. Meine Vermutungen lagen also richtig. Sie würden mich erst so sehr quälen, bis ich um Gnade winselte. (Kranke Menschen gibt es auf dieser Welt …)

    Gewappnet auf jeglichen Schmerz biss ich mir auf die Lippe. Kein Ton würde meine Lippen verlassen, diese Genugtuung würde ich ihnen nicht bieten.

    Umso überraschter war ich, als ich nur ein kurzes Pieken spürte, das mich aufkeuchen ließ.

    Beinahe augenblicklich spürte ich, wie meine Beine unter mir nachgaben und ich in mich zusammensank. (Mörder mit Anstand? Was hab ich für ein Glück.)

    Die starken Arme des Mannes hinter mir aber hielten mich fest und zogen mich fester an seine harte Brust. Eine weitere warme Hand strich mir sanft über den Kopf, als mir mein Bewusstsein immer weiter entglitt.

    Seine Worte waren nur noch ein leises Flüstern, ein kaum zu vernehmendes Wispern. Balsam für meine geschundene Seele.

    „Mach Dir keine Sorgen, meine Schöne, Du wirst nicht sterben."

    KAPITEL 2

    Zitternd atmete ich einmal ein und aus. Ich lebte. Es fühlte sich an, als würde mein ganzer Körper in Säure liegen, aber ich war nicht tot.

    Prüfend bewegte ich einmal jeden meiner Finger und meiner Zehen. Alles noch dran. Während ich meine Augen weiterhin fest zusammenkniff, drehte ich mein Handgelenk. Es war kaum möglich, es zu bewegen. Ein dicker Lederriemen hielt es fest an meiner Seite. Dasselbe mit den Füßen.

    Als ich eine Tür aufgehen hörte,

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