Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Das Erbe der Väter
Das Erbe der Väter
Das Erbe der Väter
eBook280 Seiten4 Stunden

Das Erbe der Väter

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Als die betagte Helene Frankenberger stirbt, hinterlässt sie ihrem Neffen Christian und seinem langjährigen Freund Felix nicht nur eine verschlossene Truhe. Die Suche nach dem passenden Schlüssel bringt unerwartete Akteure und Jahrzehnte zurückliegende, dunkle Geheimnisse auf die Bühne. Alle Beteiligten werden dazu gezwungen, sich mit dem Geschehenen und ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wer lügt? Wer sagt die Wahrheit? Und was ist wirklich mit Helenes verschwundenem Ehemann passiert?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum19. Feb. 2020
ISBN9783750468122
Das Erbe der Väter
Autor

Esther Koch

Esther Koch wurde 1969 in Mainz geboren und wuchs in Wiesbaden auf. Sie absolvierte ein Studium der Anglistik, der Vergleichenden Sprachwissenschaft und der Alten Geschichte in Mainz. Nach Zwischenstopps in Bayreuth und Rangsdorf zog sie 2010 mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen nach Waldshut-Tiengen. Sie ist Trainerin für allgemeines und technisches Englisch und seit 2014 Ortsvorsteherin von Detzeln.

Ähnlich wie Das Erbe der Väter

Ähnliche E-Books

Cosy-Krimi für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Das Erbe der Väter

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Das Erbe der Väter - Esther Koch

    Welt

    Kapitel 1

    Tante Lenis Erbe

    „Ich glaube, wenn Menschen Dinge besitzen

    und sie die Welt eines Tages verlassen,

    dann bleibt etwas von ihrem Wesen

    an den Stücken zurück. Wie Fingerabdrücke."

    - Anna Crowe, The Sixth Sense (1999)

    Felix Leonhardt klappte den Blitz seines Fotoapparates zu, bevor er ihn in die gepolsterte Tasche zurücklegte. Mit dem Handrücken strich er sich die dunklen Haare aus der Stirn und blickte sich um.

    Der weitläufige, niedrige Kellerraum, in dem er sich befand, war trocken, die Wände weiß verputzt, und die LED-Röhren an der Decke versorgten auch den letzten Winkel mit kaltem Licht.

    Dr. Christian Frankenberger, Felix‘ Freund aus Kindertagen, hatte den kleinen Bungalow am Rande des Südschwarzwalds in Waldshut-Tiengen, im Wohngebiet unterhalb des Vitibuck, einige Jahre zuvor gekauft.

    „Was willst du denn mit diesem Riesenkeller anfangen?", hatte Felix bei der ersten Besichtigung seinen Freund gefragt.

    Partykeller," hatte Christian lapidar geantwortet. „Oder ich stelle hier unten einen OP-Tisch auf und mache meine eigenen kleinen … Experimente."

    Dann musst du aber noch Schallschutz anbringen, Herr Doktor. Damit die Schreie die Nachbarn nicht stören," hatte Felix entgegnet. „Oder willst Du aus Frankenberger Frankenstein machen?"

    Ha ha, sehr witzig."

    Was denn? Du hast angefangen."

    Felix lächelte und schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben. Bis vor wenigen Tagen war, entgegen aller Partykeller- und Frankenstein-Pläne, der Kellerraum fast völlig leer gewesen. Natürlich bis auf die üblichen Umzugskartons der Kategorie Die-räume-ich-später-irgendwann-mal-aus.

    Jetzt allerdings standen, lagen und lehnten auf der gesamten Fläche verteilt die Erbstücke von Christians kürzlich verstorbener Großtante Helene, der Schwester seines Großvaters.

    Felix wandte sich seinem Laptop zu, das er auf einer Kommode aus Eichenholz abgestellt hatte. Zeilen und Spalten voller Zahlen, Stichwörter und Bemerkungen füllten die geöffnete Datei. Beschreibungen und Maßangaben von Vasen, Kandelabern, Schatullen, Statuetten, kleineren und größeren Gemälden in hölzernen Rahmen, aber auch von einer ganzen Anzahl an größeren und kleineren Möbelstücken.

    Er nahm seinen aufgeklappten Laptop in beide Hände und drehte sich damit langsam einmal um sich selbst, um zu prüfen, ob er auch wirklich alles erfasst hatte. Vorsichtig schritt er dann, den Computer auf den linken Unterarm balancierend und mit der Hand stützend, zwischen den Möbelstücken hindurch und warf gelegentlich einen Blick in seine Aufzeichnungen.

    Im Vorbeigehen strich er mit der rechten Hand liebevoll über den einen oder anderen Gegenstand.

    Felix liebte diese Tätigkeit, den Kontakt mit Dingen, die so unglaubliche, alte Geschichten zu erzählen wüssten, wenn sie es nur könnten.

    Immer wenn er von Kollegen, Freunden oder Bekannten gebeten oder von diesen an Dritte weiterempfohlen wurde, ein schönes altes Erb-, Erinnerungs- oder Fundstück zu betrachten und zu schätzen, war es für Felix wie eine Reise in die Vergangenheit. Manchmal berührte er ein solches Stück und stellte sich vor, die Gedanken und Empfindungen der Personen nachvollziehen zu können, die es mit Liebe, Fantasie und Geschick hergestellt, verziert oder endbearbeitet hatten.

    Hin und wieder schloss er dann für einige Momente die Augen und konnte die Werkstatt des Künstlers vor sich sehen, das frische Holz riechen. Er spürte die Hitze des Feuers in einer Schmiedewerkstatt und das warme Blut, das nach einer unbedachten Handhabung des Werkzeugs aus einer Wunde auf das Werkstück getropft war.

    Er konnte die Tränen auf den Wangen des Lehrbuben schmecken, der aus irgendeinem Grund eine saftige Maulschelle vom Meister bekommen hatte.

    Dann kam es ihm so vor, als seien es seine eigenen Tränen, die zu weinen er sich immer versagt hatte, trotz des tyrannischen Verbotes seines Vaters, seinen Wunschberuf erlernen zu dürfen. Wie gerne hätte er mittlerweile eine eigene Antiquitätenhandlung, vielleicht mit einer kleinen Holzwerkstatt besessen, anstatt anderen Leuten mehr oder weniger wertvolle Immobilien anzudrehen.

    Wie sehr er es doch hasste, den reichen Klienten und seinem geldgierigen Chef, in dessen Unternehmen ihn sein Vater großzügig hineingebracht hatte, nach dem Mund reden zu müssen.

    Aber er hatte dieses Theater bereits lange und erfolgreich genug durchgehalten, um mittlerweile Junior-Partner zu sein. Das ermöglichte ihm die Abgabe mancher Aufträge an zuverlässige Subunternehmer und die etwas freiere Einteilung seiner Zeit, sodass mehr davon für sein geliebtes Hobby übrig blieb, das er mit mehr Leidenschaft ausübte als seinen Beruf, und das ihm auch die eine oder andere nicht zu verachtende Provision bei erfolgreichen Auktionen und Verkäufen einbrachte.

    Dieses Mal war Felix von seinem Freund Christian gebeten worden, den hinterlassenen Besitz seiner Großtante Helene zu schätzen, zu katalogisieren und – idealerweise – für gutes Geld zu veräußern. Manches würde Christian natürlich selbst behalten. Er hatte die alte Dame sehr gemocht und in den letzten Tagen unter den Dingen in seinem Keller einige Erinnerungsstücke ausgesucht und teilweise schon in seinen Wohnräumen untergebracht.

    Felix hatte ihm dabei geholfen und sich bei jedem einzelnen Teil anhören dürfen, wo es in Helenes altem Häuschen in Freiburg gestanden hatte. Und sogar, welchen Platz es in ihrer letzten Residenz hatte. Dabei hatte Felix Helene selber einige Male mit Christian zusammen in beiden Wohnungen besucht und dort auch einige Stücke bewundern dürfen.

    Außerdem hatte Helene einen guten Geschmack gehabt, für den sie von vielen Leuten bewundert worden war.

    Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Christians Großonkel Walter irgendwann spurlos verschwunden war.

    Danach, so schien es, hatte auch ihr Interesse an neuen materiellen Dingen nachgelassen, denn kaum eines der Objekte, die sie hinterlassen hatte, konnte nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sein.

    Eines der Möbelstücke hatte Felix heute mit besonderer Aufmerksamkeit untersucht und katalogisiert. Es war eine sehr gut erhaltene alte Truhe, etwa einen Meter zwanzig lang, etwas mehr als einen halben Meter breit und achtzig Zentimeter hoch, mit gewölbtem Deckel und feinen Intarsien, vermutlich Nussbaum und Ahornwurzel. Form, Stilelemente und Verarbeitung ließen ihn das gute Stück auf ein Alter von ungefähr 250 Jahren schätzen.

    Unglücklicherweise stellte die schöne Truhe Felix und Christian vor ein Problem. Sie war verschlossen und der Schlüssel schien nicht auffindbar zu sein.

    Felix betrachtete die Truhe mit glänzenden Augen. Er hätte den ganzen restlichen Tag dort verbringen und das Meisterwerk von allen Seiten bewundern können. Es war nicht das Gefühl, dieses exzellent gearbeitete Stück besitzen zu wollen, das ihn fesselte. Ihm genügte es, sie ansehen zu dürfen. Zwar hatte er sich einige Male dabei ertappt, wie er überlegte, die Truhe selber von seinem Freund Christian zu erwerben, aber er war sicher, dass ein Auktionshaus einen Preis erzielen würde, der sich außerhalb von Felix' finanzieller Leistbarkeit befand. Christian selbst würde ihm das Schmuckstück sicher für einen Spottpreis abtreten. Aber allein der Gedanke, seinen Freund um ein kleines Vermögen zu bringen, kam Felix wie Betrug vor.

    Zunächst mussten sie ohnehin einen Weg finden, die Truhe zu öffnen, bevor sie sie zum Verkauf anbieten konnten.

    Felix fuhr sich mit der Hand durch die Haare und überlegte einen Moment. Dann holte er seine Kamera aus der Fototasche. Er überprüfte die Einstellungen, kniete sich vor die Truhe und machte ein paar Nahaufnahmen vom metallenen Schloss der Truhe. Anschließend holte er einen kleinen Messschieber aus dem Aktenkoffer, der aufgeklappt auf der untersten Kellerstufe lag, und notierte sämtliche ermittelten Innen- und Außenmaße des Schlosses in seinem Computer.

    Die Kamera wanderte in ihre Tasche zurück, Computer und Messschieber verschwanden in Felix' Aktenkoffer.

    Mit der Kameratasche über der Schulter und dem Koffer in der Hand ging Felix die Kellertreppe hinauf, knipste das Licht aus und schloss die Tür hinter sich.

    „Christian? Ich bin fertig!" rief er in das stille Haus hinein.

    „Super! Ein hochgewachsener, blonder Mann um die Vierzig trat in den Korridor. „Ich danke dir. Und? Glaubst du, wir werden was los von den Sachen? Es wäre ja schön, wenn ich alles behalten könnte. Aber so viel Stellfläche habe in nun doch nicht, wie du weißt. Die Sachen in meinem Keller vergammeln lassen will ich auch nicht. Und auf den Sperrmüll werfe ich garantiert nichts davon. Die beiden Männer gingen nebeneinander durch den Flur zur Haustür.

    „Nun ja, antwortete Felix. „Da sind viele wunderschöne und möglicherweise durchaus wertvolle Stücke dabei. Besonders, wie gesagt, die große Truhe. Und du hast wirklich keinen Schlüssel dazu?

    Christian öffnete die Tür. „Tut mir leid. Nein. Ich habe nochmal sämtliche Schränke, Schubladen, Schachteln und was man sich vorstellen kann, durchsucht. In Helenes Sachen ist kein Schlüssel, der in dieses Schloss passt. Meinst du, das wird den Preis drücken?"

    Felix lachte auf, während er in den sonnigen Vorgarten hinaustrat. „Würdest du ein so großes Möbelstück für eine vierstellige Summe kaufen, obwohl du es nicht verwenden kannst, bloß weil es von außen hübsch aussieht?"

    Christian blieb stehen und staunte: „Vierstellig? Glaubst du wirklich? Das wäre allerdings enorm." Er ging weiter und beschleunigte seine Schritte auf dem Kies, um das Gartentor für Felix zu öffnen.

    „Andererseits, fuhr er fort, „Tante Leni hat die Truhe trotz dieses Schönheitsfehlers immerhin auch behalten.

    Felix trat zu seinem Wagen, öffnete den Kofferraum und legte den Aktenkoffer und die Kameratasche hinein. „Aber deine Tante Helene hat die Truhe ja bereits besessen, als der Schlüssel abhanden kam. Und weißt du was? Er schlug den Kofferraumdeckel zu. „Vermutlich hat sie persönlich das Wissen um den Verbleib des Schlüssels mit ins Grab genommen.

    Christians Blick fixierte Felix' Kofferraumdeckel. „Wenn wir Pech haben, hat sie sogar den Schlüssel selbst mit ins Grab genommen."

    Die beiden Männer sahen sich eine Weile an, bis Felix fragte, „Warum sollte sie so etwas tun?"

    Christian lachte, „Mann, das sollte ein Witz sein. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und er fuhr fort, „Oder glaubst du ehrlich, dass in der Truhe etwas so Wertvolles steckt, dass sie es am liebsten, na ja, mitgenommen hätte?

    „Wer weiß? Felix ging um den Wagen herum zur Fahrertür. „Auf jeden Fall würde es den enormen Preis völlig ruinieren, wenn du jetzt hinunter gingest und versuchtest, das Schloss aufzubrechen. Davon rate ich dir also dringend ab.

    Er stieg ein und schlug die Autotür zu. Christian beugte sich hinab und sprach durch das offene Autofenster. „Keine Sorge. Ich werde versuchen, meine Neugier zu zügeln. Hast du eine andere Idee?"

    Felix ließ den Motor an. „Oh ja, ich denke schon."

    Das Auto brauste über den Kies davon und Christian blieb mit offenem Mund und einer ungestellten Frage auf den Lippen zurück.

    Kapitel 2

    Generationsspiel

    „Ärzte verbringen die meiste Zeit damit, sich auf die Zukunft zu konzentrieren,

    sie zu planen, darauf hin zu arbeiten.

    Doch an einem bestimmten Punkt erkennt man plötzlich,

    dass sich das Leben jetzt abspielt.

    Nicht erst wenn das Studium vorbei ist, oder die Facharztausbildung,

    sondern jetzt und hier. Es passiert gerade eben.

    Einmal blinzeln und man hat es verpasst."

    - Dr. Meredith Grey, Grey's Anatomy: Die jungen Ärzte, S5E24, Jetzt oder nie, Intro (2009)

    Christian ging langsam zurück ins Haus. Er schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.

    Er dachte an seine Großtante Helene, die wenige Wochen zuvor im Alter von unglaublichen einhundertundzwei Jahren in ihrer Freiburger Einrichtung für betreutes Wohnen im Schlaf verstorben war.

    Rüstig war sie noch gewesen, und geistig komplett auf der Höhe. Bis zuletzt hatte sie sich Bücher aus allen möglichen Leihbüchereien geholt oder bringen lassen. Sie hatte Biographien und Kriminalromane bevorzugt. Die spannenden Leben anderer Menschen, realer wie fiktiver, hatten sie interessiert, über ihr eigenes hatte sie nie sprechen wollen.

    Christian hatte nur wenige Versuche unternommen, seiner Großtante Fragen über ihre Vergangenheit zu stellen.

    Gestern war gestern, junger Mann," pflegte sie dann zu sagen. „Warum willst du deine Gegenwart mit Gedanken an die Vergangenheit verplempern, wenn du doch eine Zukunft zu planen hast?"

    Und doch las sie leidenschaftlich gerne Bücher über die Vergangenheit fremder Leute.

    Christian konnte sich nicht vorstellen, dass Helenes Leben nicht interessant gewesen war. Was konnte man in über hundert Jahren alles erleben! Gut, es war verständlich, wenn sie die Erlebnisse, die die beiden Weltkriege unweigerlich mit sich gebracht hatten, gerne ungeschehen gemacht hätte. Möglicherweise hatte sie liebe Menschen verloren, vielleicht gar den Vater? Christian wusste es nicht.

    Auch sein eigener Vater, Erich, der Sohn von Helenes Bruder Hans, hatte keinerlei Kenntnis über die Dinge, die Helene hätte erzählen können, wenn sie es nur gewollt hätte.

    Vor allem die merkwürdige Sache mit Großonkel Walter, welche das auch immer gewesen sein mochte, hatte zeitweilig für Rätselraten bei Felix, Christian und dessen Eltern gesorgt. Aber die Mischung aus eisigem Schweigen und offener Feindseligkeit, welche ihnen bei ihren unschuldig gestellten Fragen auf das Heftigste entgegen geschlagen war, hatte sie von weiteren Nachforschungen absehen lassen.

    Und nun war Großtante Helenes langes Leben zu Ende.

    Auf ihren testamentarischen Wunsch hin war sie im kleinen Kreis in Freiburg beigesetzt worden, fernab vom Rest ihrer Familie. Ihr Bruder, Christians Großvater, und dessen Frau lagen in Luttingen bei Laufenburg am Hochrhein begraben.

    Christian ging in die Küche und widmete sich wieder der Zubereitung seiner Samstags-Gemüsesuppe, eine Tradition, die er von seiner Mutter übernommen hatte. Er wusste genau, dass gerade in diesem Augenblick in einer anderen Tiengener Küche ebenfalls Gemüse für die Zubereitung einer Suppe geputzt wurde.

    Natürlich konnte er jederzeit zur Wohnung seiner Eltern hinunter gehen und bei ihnen zu Mittag essen. Das galt für jede Mahlzeit an jedem Tag. Das hatten sie ihm unmissverständlich klar gemacht, als er sich damals seine erste eigene Wohnung gesucht hatte. Seine Mutter kochte immer noch für drei und würde es weiterhin tun. Aber meistens war es dann sein Vater, der mit den Resten einer wieder einmal zu üppig bereiteten Mahlzeit beglückt wurde.

    Du mästest mich, Gisela!" hörte Christian seinen Vater sagen. „Und unser Junge ist und bleibt rank und schlank, weil er vernünftigerweise nie mehr kocht als er essen kann."

    Prinzipiell war Christian seine Selbständigkeit und die Unabhängigkeit von seinen Eltern schon immer sehr wichtig gewesen, daher hatte er sofort nach seinem Auszug begonnen, sich selbst um seine Ernährung und Wäsche zu kümmern. Zum Glück hatten seine Eltern keine größeren Probleme damit, das zu akzeptieren, außer eben der traditionellen zusätzlichen Portion bei den warmen Mahlzeiten.

    Allerdings kam es schon das eine oder andere Mal vor, dass Christian nach einer anstrengenden Schicht im Spital weder Lust hatte zu kochen oder essen zu gehen, noch sich mit einem simplen Butterbrot zufrieden geben wollte. Diese Gelegenheiten schienen seine Mutter darin zu bestätigen, grundsätzlich eine Portion ‚für Christian‘ im Topf oder im Kühlschrank zu haben. Kam Christian nicht zum Essen, bekam Erich die Portion zusätzlich.

    So geht das nicht weiter!" hatte ihm sein Vater einmal zugeraunt, als seine Mutter in der Küche verschwunden war, um den nicht weniger üppigen Nachtisch zu holen.

    Entweder brauchen wir einen Hund …" Christian hatte genau gewusst, was nun kommen würde. „Oder du brauchst eine Frau, die das Kochen übernimmt, damit deine Mutter endlich kapiert, dass sie dich nicht mehr füttern muss."

    Christian hatte gelacht und geantwortet: „Als ob das so einfach wäre. Ihr könnt ins Steinatal rüberfahren und euch im Tierheim einfach einen Hund aussuchen, aber die richtige Frau …"

    Du denkst, das ginge so einfach? So ein Hund muss doch zu uns passen! Da kann man doch nicht irgendeinen nehmen, bloß weil er süß aussieht, und hinterher buddelt er uns die Tulpen aus oder pinkelt aufs Sofa."

    „Ach? Und mit Frauen ist das weniger kompliziert? Da nehme ich einfach irgendeine, bloß weil sie süß aussieht, und hinterher buddelt sie mir die Tulpen aus oder pinkelt …"

    „Christian!" Unbemerkt war Gisela wieder an den Tisch getreten. Sie hatte das Tablett abgestellt und finster von einem Mann zum anderen geschaut.

    Wir brauchen keinen Hund, Erich. Und Christian … nun," hatte sie mit gesenkter Stimme angemerkt, „wir hatten doch darüber gesprochen, dass wir ihn sein Leben so leben lassen wollen, wie er sich das vorstellt. Das geht uns nichts an." Sie hatte sich gesetzt und unter den entgeisterten Blicken der beiden Männer begonnen, ihren Schokoladenpudding mit Sahne zu sezieren.

    Es tut mir leid, mein Junge," Erich hatte sich verschwörerisch zu Christian hinübergelehnt. „Sie glaubt immer noch, dass … du … und Felix."

    Mama?" Christian ließ diese Art von Unterhaltung immer halb genervt, halb amüsiert über sich ergehen. „Ich bedaure sehr, dich zu enttäuschen, aber du wirst dir wirklich ein anderes Feld suchen müssen, auf dem du deine Toleranz – die dich natürlich sehr ehrt - ausleben kannst. Aber ich bin da – und ich sage es noch einmal ausdrücklich – KEIN geeignetes Objekt. Denn - ich – bin – nicht – schwul! Felix im Übrigen auch nicht."

    Meistens wurde an dieser Stelle des Gesprächs damit begonnen, die einzelnen – wenigen – Episoden mit Freundinnen zu rekapitulieren, die die beiden Freunde in ihrem Leben schon gehabt hatten, und die Frage erörtert, weshalb die Beziehungen nicht von Dauer gewesen waren.

    Schließlich verabschiedete sich Christian in der Regel mit der Frage an seine Mutter, wie er denn die Tatsache zu bewerten habe, dass sie, Gisela, den größten Teil ihrer Freizeit statt mit ihrem Mann lieber mit ihrer besten Freundin Rosmarie, die sie liebevoll Rosi nannte, verbrachte.

    Gisela schob ihren Sohn dann mit einem „Sei nicht so frech!" und dem Hinweis auf den morgigen Menüplan aus der Wohnungstür hinaus.

    Christian warf ein Lorbeerblatt in die duftende Flüssigkeit auf

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1