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Das Graue Haus
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eBook160 Seiten2 Stunden

Das Graue Haus

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Über dieses E-Book

Im Haus Seiner Exzellenz in Kopenhagen wird die Zeit nicht mehr gemessen. Zwischen Morgen und Abend eines kurzen Wintertages läuft scheinbar Alltägliches ab: Besucher kommen, ein Empfang findet statt, und nur halb im Verborgenen vollziehen sich die Ereignisse, die für die Familie der Hvides von lebenswichtiger Bedeutung sind.Anders als im weißen Haus seiner Kindheit, dessen sich Herman Bang als einer ländlich-geborgenen Welt erinnert, geht es in diesem 1801 entstandenen Roman um Abrechnung mit einer Bürgerlichkeit, die sich Selbst überlebt hat.REZENSIOIN"'Das weiße Haus' von 1898 und 'Das graue Haus"' von 1901, Pendantromane, wie die Titel erkennen lassen, zeigen Herman Bang als einen Autor von düsterer Komik, mit einem starken Sinn fürs Szenische und einer Erzähltechnik, die weit über die Jahrhundertwende vorausweist." - Michael Maar, Frankfurter AllgemeineAUTORENPORTRÄTHerman Bang, geboren 1857 auf Alsen, Nordschleswig, wuchs als Pfarrerssohn in der dänischen Provinz auf und versuchte sich als Schauspieler, Regisseur und Feuilletonist, ehe er sich der Literatur zuwandte. Lesereisen führten ihn durch ganz Europa. Bang gilt als der bedeutendste dänische Vertreter des literarischen Impressionismus. Seine Schriftstellerkollegen in Deutschland erkannten Bang früh als einen der bedeutendsten Prosaautoren der skandinavischen Moderne. Und 100 Jahre nach seinem Tod zieht Herman Bang immer mehr Leser in seinem Bann. Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Hesse und Thomas Mann empfahlen seine Bücher, Klaus Mann machte ihn zum Helden einer Erzählung.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Jan. 2017
ISBN9788711458242
Das Graue Haus
Autor

Herman Bang

Herman Joachim Bang (* 20. April 1857 in Asserballe auf der Insel Alsen; † 29. Januar 1912 in Ogden, Utah) war ein dänischer Schriftsteller und Journalist. (Wikipedia)

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    Buchvorschau

    Das Graue Haus - Herman Bang

    Saga

    I

    Seine Exzellenz richtete sich in dem Bett aus Kiefernholz auf und zündete Licht an. Dann stand er auf. Während er sich mit Wasser übergoß, betrachtete er sich im Spiegel: sein Körper war knorrig und stark wie ein alter Baumstamm.

    Über die weiße Wand glitt es wie der Schatten eines Riesen.

    Er zog sich an, und er verließ den Raum.

    Er ging, das Licht in der Hand, durch die vielen Zimmer. Bronzen, Piedestale und Ehrengaben standen in Laken eingehüllt da. Sie ragten so seltsam aus der Dunkelheit auf, daß es schien, als ginge die Exzellenz, auf dem Weg durch die Räume, zwischen Gespenstern.

    Vor der letzten Tür zögerte er einen Augenblick und horchte. Im Zimmer wurde gesprochen. Das war Ihre Gnaden, sie redete im Schlaf. Im Schlaf glaubte Ihre Gnaden sich stets auf vergangenen Bällen und tanzte mit Durchlauchten, die indessen gestorben waren.

    Seine Exzellenz blieb stehen, und seine erhobene Hand umklammerte die Portiere wie eine Klaue: horchen, wenn Ihre Gnaden im Schlaf redete, war eine seiner Schwächen.

    Plötzlich setzte er das Licht ab, und er öffnete die Tür. Im Dunkel ging er auf das Bett Ihrer Gnaden zu.

    Ihre Gnaden sprach weiter – und lauter, während Seine Exzellenz horchte.

    „Weimar, Weimar", wiederholte Ihre Gnaden.

    Seine Exzellenz stand noch immer da, wie eine Säule.

    „Ja, Hoheit", sagte Ihre Gnaden.

    Die Exzellenz drehte sich um und schloß die Tür und ging weiter.

    Als er die eiskalte Lampe nahm und sie anzündete, zitterten ihm die Hände, dann setzte er sich an seinen Tisch. Er zog Schubladen auf und schloß sie wieder, und er holte die großen blauen Bogen hervor, kniffte Ränder ein und begann zu schreiben.

    Er schrieb, den Kopf gebeugt und die Augen zusammengekniffen, als wolle er ihre Sehkraft erzwingen, während seine linke Hand auf dem Papier lag, blauweiß und schwer, wie von Blei; und er schrieb und schrieb, ohne Unterlaß, mit einer zornigen oder erbitterten Feder, Seite um Seite, Blatt um Blatt, und schleuderte sie weg.

    Kein Laut war zu hören, nur das Sieden der Petroleumlampe.

    In dem matten Licht erschienen die Ørsteds und Mynsters und Hvides so sonderbar ausgelöscht – wie sie da ringsum an den Wänden des Zimmers hingen, als blasse Lithographien, in ihren Goldrahmen, ordengeschmückt, in Ornaten, offiziell – gestorben und still.

    Die Exzellenz hatte sich auf dem Stuhl zurückgelehnt.

    „Ach ja, ach ja.

    Ach ja, ach ja", klang es durch das Zimmer.

    Und er schrieb weiter.

    Der Tag dämmerte herauf, und sein kaltes Licht vermischte sich mit dem spärlichen Schein der Lampe. Immer noch ragte der große Kopf Seiner Exzellenz über den Tisch.

    Der Diener kam herein, beugte seine schmerzenden Knie vor dem Kachelofen und zündete die großen Scheite an. Die Flammen warfen ihren Schimmer über seine bräunliche Perücke – die hatte so merkwürdig hochstehende Ränder – und über sein Gesicht, wo der Mund zwischen hundert Falten einem zusammengeklappten Messer glich.

    Die Exzellenz hörte ihn nicht. Der Diener brachte den Tee und die Morgenzeitung, und mit einemmal drehte die Exzellenz sich um.

    „Laß sie das zusammenheften", sagte er und reichte dem Diener die blauen Blätter.

    Der Diener Georg verschwand, und die Exzellenz stürzte den kochendheißen Tee in einem Zug hinunter – sein uralter Körper schien Kälte oder Wärme nicht mehr zu empfinden.

    Draußen in der Küche war Sofie, die Magd, beim Nähen. Vor der Lampe sitzend, heftete sie mit einem langen schwarzen Faden die beschriebenen Blätter zusammen, und ihre Hand glich einem Bündel roter Knochen.

    „Schreibt er?" fragte sie.

    Der Diener nickte.

    „Ach so."

    Die Bornholmer Uhr neben dem Küchentisch pochte langsam und schwer. Es war, als schöpfte sie jede zögernde Sekunde mühsam und stöhnend aus einem unendlich tiefen Brunnen. Die Bornholmer Uhr war die einzige Uhr im Haus, die noch ging. Die anderen waren stehengeblieben.

    Georg brachte die zusammengehefteten Blätter zurück, und die Exzellenz zog Schubladen auf und schloß sie wieder. Alle waren sie mit Heften derselben Art gefüllt. Die Morgenzeitung ließ er liegen. Zeitungen las er nicht mehr.


    „Passiert denn etwas?" sagte er.

    „Was passiert denn?" sagte Seine Exzellenz.

    „Sie bauen ein paar Häuser mehr, in denen sie gegen sich selber sündigen können."

    „Nimm sie weg", sagte er.

    Der Diener nahm die Zeitung weg, um sie für Ihre Gnaden aufzubewahren. Ihre Gnaden ließ sich von ihrer Gesellschaftsdame täglich die Rubrik „Wohnungsangebote" vorlesen.

    Punkt neun Uhr wurde geläutet, und der Klang der Eisenglocke drang so seltsam tief in das Haus. Das war der Enkel.

    „Ist die Exzellenz zu Hause?" fragte er.

    „Ja", antwortete Georg, und er hängte den Mantel des jungen Manns an denselben Kleiderhaken wie den Tag zuvor.

    „Du hast geschrieben", sagte der junge Mann und neigte den Kopf.

    Der Alte drehte sich um.

    „Ja." Und seine Stimme klang böse.

    „Wie es meine Art ist. Wenn man nicht mehr leben kann, dann schreibt man und vergießt Tinte. Schwarz auf weiß kann man mit den Menschen tun, was man will. Da machen sie nicht mehr Dummheiten, als man ihnen erlaubt.

    Hast du gefochten?" fragte er unvermittelt.

    „Ja."

    Mit einem Blick, in dem eine besondere und plötzliche Stärke aufblitzte, sagte Seine Exzellenz: „Du bist ein Nachgeborener. Du mußt auf dich selbst achtgeben."

    Er sah dem Enkel, dessen Lippen sich von der Blässe rot wie Blut abhoben, unverwandt ins Gesicht und sagte mit derselben Stimme wie zuvor: „Ich weiß auch nicht, wie uns diese Rasse in die Familie gekommen ist."

    Der Enkel, der seinen sehr schlanken Körper sehr gerade hielt, hob ein wenig die dunklen Lider.

    „Hat Großpapa an der Komödie geschrieben?" sagte er.

    „Ja. Lies es vor."

    Der Enkel setzte sich auf den großen Stuhl am Fenster und begann zu lesen – sehr laut, damit Seine Exzellenz ihn hören konnte.

    „Was sagst du, was steht da?" rief Seine Exzellenz.

    Der Enkel las lauter und strengte sich an, die unleserliche Schrift zu entziffern, in der Buchstaben vergessen und Sätze herausgefallen waren.

    „Was soll da stehn?"

    Der Enkel las weiter.

    „Nein, rief Seine Exzellenz, „laß mich selbst.

    Er packte die Bogen. Und zornig und zum Licht vorgebeugt, versuchte er selbst all die Sätze zu lesen, die er längst schon vergessen hatte.

    „Nein, sagte er plötzlich, „ich kann nicht. Das sind die Augen. Die Augen wollen nicht.

    Er ließ das Manuskript fallen.

    „Die Augen wollen nicht mehr. – Leg es weg."

    Der junge Mann nahm die blauen Bogen und legte sie in eine Schublade, zu den anderen.

    Die Augen der Exzellenz folgten seinen Händen.

    „Da liegen viele", sagte er.

    „Ja, Großpapa."

    Die Exzellenz hatte die Augen geschlossen: die Zeit, da Seine Exzellenz noch zu Verlegern fuhr, war vorbei. Jahrelang war er von Tür zu Tür gefahren, hatte Manuskripte abgeschickt und sie zurückbekommen. Nun hatte er aufgehört.

    „Das Papier ist zu teuer geworden, mein Guter", sagte er.

    Seine Dichtwerke wurden nicht mehr gedruckt. Da mußte es schon ein Grabspruch für ein Enkelkind oder für einen Freund sein, der einst berühmt und jetzt vergessen war. Das Regierungsblatt druckte gelegentlich einen solchen Vers auf der hinteren Seite ab, mit sehr kleinen Buchstaben.

    „Großpapa sollte seine Erinnerungen schreiben", sagte der Enkel – wenn er auf seine Stimme nicht achthatte, war sie fast beängstigend weich –, und er schloß die Schublade.

    Seine Exzellenz lachte.

    „Erinnerungen, sagte er, „Erinnerungen – wir haben genug Hirngespinste. Erinnerungen – hm, seine Erinnerungen hat keiner aufgeschrieben. Über die andern lügen sie, und über sich selber reden sie nicht ... Sie schreiben von dem Lumpenpack, das sie erlebt haben, und was sie gelebt haben, nehmen sie mit ins Grab.

    Seine Exzellenz lachte wieder, und seine Stimme hatte einen eigentümlichen, rauhen Klang.

    „Und sie tun recht daran, mein Lieber", sagte er, „würde sich nämlich ein einziger Mensch selbst beschreiben und sich nach seinem Tod gedruckt herausgeben lassen – man würde ihn noch in seinem Grab zu Zuchthaus verurteilen, denn Gerechtigkeit gibt es im Himmel wie auf Erden ...

    Nein, es lohnt sich nicht, jemandem Auskunft zu geben."

    Seine Exzellenz schwieg eine Weile. Dann sagte er: „Laß mich die Zeit hinbringen, wie ich’s kann. Das letzte Stück Weg ist am schwersten, und denken ist dumm. Ein Loch in der Erde ist so viele Gedanken nicht wert."

    Ein wenig später sagte der Enkel: „Du hast ja uns."

    „Ja, sagte die Exzellenz, „ihr müßt ja ernährt und gekleidet werden.

    Der Mund des jungen Mannes zitterte, fast unmerklich.

    Doch der Alte sprach weiter.

    Haben – haben?" sagte er, „die Menschen, Fritz, haben einander nicht. Sie brauchen einander und sind allein. Wenn man alt geworden ist, weiß man das und mag die vielen Worte, die niemand hört, nicht mehr reden. Wer hört denn?

    Die meisten reden, ohne es selbst zu hören.

    Die Tiere, mein Guter, kommen ohne Worte aus, und trotzdem können sie ihre Bestimmung erfüllen."

    Der Enkel saß zusammengesunken da, seine Schultern waren merkwürdig eingefallen.

    „Sitz gerade", sagte der Alte.

    „Ja." Der junge Mann fuhr so hastig auf, daß sein Nacken gegen das Wappenschild des Stuhlrückens stieß.

    „Nein", führte die Exzellenz den Gedanken weiter, „der Fortpflanzung ist zu dienen. Sollen sie zeugen und sterben.

    Das haben sie jahrtausendelang getan. Sollen sie’s weitertreiben und sich nichts einbilden. Sie erfinden und denken sich etwas aus und bauen Städte und schaffen sich Ruhm ... Der Natur ist das gleich. Die Erde wird einmal kalt – wie der Mensch auch.

    Oder was haben sie davon?" sagte er und sah plötzlich zu den vielen Bildern an den Wänden auf. „Da hängen sie mit ihren Ketten, ihren Mänteln, als die Akteure, die sie waren, und" – die Exzellenz machte eine Bewegung mit den Füßen, als wische er seine Schuhsohlen ab – „was sie wollten, verkehrte sich ins Gegenteil, und ihre Werke sind so tot wie sie selbst.

    Was ist das Ganze? fuhr er fort, „es macht nicht satt ... Hm, ich entsinne mich an einen Tag, als Thorvaldsen ..., er war wohl der größte, auch als Komödiant, denn das gehört zusammen ... Er ging herum, als trüge er selbst ein Ornat und sollte vor seinem eignen Marmor Weihrauch brennen. Aber dann kam ein Tag, da war er wach, sonst schlief er viel, Fritz, schlief auf seinem weltberühmten Namen. Aber an diesem Tag war er wach – das war in seiner Werkstatt –, da zeigte er mit einer kleinen Handbewegung auf all die weißen Figuren und all den Ton, und dann sagte er: ‚Ja, das ist ja ganz hübsch.‘ Und das war alles, wenn man es kannte.

    Die Exzellenz lachte kurz auf, wie im Genuß seiner eignen Erinnerung.

    „Und als Oehlenschläger starb, heulte er, weil keiner seinen ‚Sokrates‘ lesen mochte, und Heiberg sah nach den Sternen – falls es jemand glaubt. Laß die Sterne

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