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Romane und Novellen 7: Stille Existenz / Unter dem Joch. Aus dem Dänischen von Dieter Faßnacht
Romane und Novellen 7: Stille Existenz / Unter dem Joch. Aus dem Dänischen von Dieter Faßnacht
Romane und Novellen 7: Stille Existenz / Unter dem Joch. Aus dem Dänischen von Dieter Faßnacht
eBook592 Seiten5 Stunden

Romane und Novellen 7: Stille Existenz / Unter dem Joch. Aus dem Dänischen von Dieter Faßnacht

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Über dieses E-Book

Die Werke Herman Bangs (1857-1912) gehören zu den bedeutendsten der dänischen Literatur, teils wegen ihers tiefen Einblicks in die menschliche Seele, teils wegen ihres impressionistischen, filmischen Stils, der die Prosa seiner Zeit veränderte und noch immer die Literatur der Neuzeit prägt. Die auf zehn Bände angelegte Neuübersetzung der Romane und Novellen fußt auf der großen historisch-kritischen Gesamtausgabe der "Danske Sprog- og Litteraturselskap" Kopenhagen 2008-2010.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum23. Juli 2012
ISBN9783844840254
Romane und Novellen 7: Stille Existenz / Unter dem Joch. Aus dem Dänischen von Dieter Faßnacht
Autor

Herman Bang

Herman Joachim Bang (* 20. April 1857 in Asserballe auf der Insel Alsen; † 29. Januar 1912 in Ogden, Utah) war ein dänischer Schriftsteller und Journalist. (Wikipedia)

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    Buchvorschau

    Romane und Novellen 7 - Herman Bang

    Inhaltsverzeichnis

    Stille Existenzen

    Ein paar Worte

    Mein alter Kamerad

    Der Sohn der Witwe

    Ihre Hoheit

    Am Wege

    Nachwort

    Unter dem Joch

    An Jonas Lie

    Ein schöner Tag

    Irene Holm

    Fräulein Caja

    Nachwort

    Hinweis

    Manche Anmerkungen sind der dänischen Ausgabe entnommen (wörtlich oder sinngemäß), die meisten beruhen jedoch auf eigenen Nachforschungen (Näheres siehe Vorwort zu Band 6).

    Ein paar Worte

    Diese Novellensammlung „Stille Existenzen wurde im selben Jahr wie die Sammlung „Exzentrische Novellen aus der Taufe gehoben.

    Es war im letzten Jahr, als ich den Norden hindurch von Stadt zu Stadt zog und etwas von dem Virtuosenleben schmeckte, das diese beiden Bände Erzählungen geschaffen hat, die bei flüchtigem Blick so verschiedenartig aussehen könnten und die doch so eng zusammenhängen und einander so vollständig ergänzen.

    „Charlot Dupont" ist das unmittelbare Abbild der Welt des Virtuosen. Das Porträt ist aus erster Hand aus dem Leben dieser besonderen Kaste genommen, das man geteilt haben muß, ich will nicht sagen, um es zu verstehen, nein, mehr als das, fast um daran zu glauben.

    Die großen Künstler durchziehen alle Gesellschaftsschichten und gehören doch keiner an. Sie sind Menschen, die leben, ohne den Halt eines Zuhauses im Leben zu besitzen oder zu kennen. Sie fahren durch die Welt als dauernd Fremde. Dies gebiert zur gleichen Zeit ihren vollkommenen Mangel an Interessen und ihren endlosen und naiven Egoismus.

    Wie alle Städte, durch die sie geschleppt werden, nur eine Ansammlung mehr oder weniger schief gebauter Häuser sind, an denen man vorbeifahren muß, um zum Hotel zu kommen, wo man sich für das Konzert anzukleiden und danach zu schlafen hat, sind alle diese Leute, die um sie herumrennen, eine Schar souverän gleichgültiger Zweibeiner, von denen ein gewisses Quantum Konzertkarten kauft, Zweibeiner, deren Gesichtszüge mehr oder weniger dumm sind, und die morgen einer Schar Neuer, die auch auf zwei Beinen wandeln, weichen.

    Man sagt „Guten Tag, und man sagt „Auf Wiedersehen; und dann kehrt man wieder zu seiner Eisenbahn und zu den sechs Repertoirestücken zurück, mit welchen man die Welt erheitert, und deren ständige Wiederholung die Fähigkeit, Interessen zu entwickeln, nicht steigert. Und man bereitet sich auf den nächsten Konzertort vor.

    Der Fremde kommt zu neuen Fremden.

    Und so währt es Jahr für Jahr.

    Unter all diesen vollständig gleichgültigen Seelen, während man beständig nur an all diesen Schicksalen vorbeikommt, die einem nicht im mindesten betreffen, wird man sich selbst das einzige in der Welt. Die gleichgültigen Leute gibt es nur, wenn sie nützen, und man rechnet mit den Zweibeinern wie mit leblosen Zahlen. Vollständig allein auf der ganzen Welt praktiziert man wie nirgendwo anders die Formel: Einer gegen alle, alle gegen einen – praktiziert sie auf einem langen Weg über den ganzen Erdball. Die Menschen werden nur – hat man denn auch irgendwann die Zeit, sie anders zu sehen? – in Bezug auf die entsprechenden Konzertreisen gesehen, und der Egoismus des Virtuosen durchdringt alles bis ins Kleinste. Seine ganze Existenz besteht nur aus seinen Repertoirestücken und seinen Berechnungen – lange Rechenstücke, um den Erfolg zu sichern. Seine Sinnlosigkeit, sein vollständiger Mangel an Beschäftigung, die Schwächung seines Geistes durch das ewige Rütteln des Gehirns in Hunderten von Eisenbahnwaggons – all dies, was die Einseitigkeit seines Denkens fördert, und dieses ewig erneute Fahren auf dem Karussell macht mit der Zeit diese Rechenstücke lang und unergründlich.

    Dieser tägliche Ausverkauf von Verbindlichkeiten, von Lächeln, von Komplimenten, der ihr Dasein ausmacht, hat begonnen. Man berechnet jeden Blick und lebt in ewiger Addition und Subtraktion.

    Diese schönen Diven sind die hartherzigsten Rechenmeister unter der Sonne. Oft ist jedoch das gesamte Rechenstück Schall und Rauch. Aber dieser kleinkarierte Egoismus ist ja das einzige Hilfsmittel, um das Dasein auszufüllen. Ihr Leben ist in dem Augenblick, wo sie sich von allen stetigen Verhältnissen zu ihren Mitmenschen lösen, schrecklich vereinfacht worden: Sie haben nur sich selbst, und sie müssen etwas haben, woran sie denken können.

    Sie rechnen und sie kombinieren.

    Ihre Berechnungen für sich selbst werden zu Kombinationen gegen andere – ihre Konkurrenten. Und während sie selbst unablässig Zwietracht säen, auf jeden Fall in der Fantasie, halten sie sich schnell für Opfer der Intrigen anderer, und ihre Gehirne, deren ganzes Wirken sich auf diesen Punkt konzentriert, schafft ein ewiges Spinnengewebe, das neue Berechnungen durchschneidet und zerstört.

    Verschwindet der Virtuose eines Tages plötzlich, ist es oft das Irrenhaus, das ihn versteckt: Der Verfolgungswahn hat ihn ergriffen.

    Aber der Weg zum Irrenhaus war lang gewesen. Er hat meist ein paar Mal rund um die Erde geführt. Als der immer Fremde – der Fremde, der vielleicht nur einmal kommt – wurde der Virtuose als sichere Beute in zwei Erdteilen angesehen. Sein Egoismus hat auf der langen Reise nur eines getroffen: die ungenierte Interessiertheit. Von jedem Kneipenwirt abgefüllt mißt er die Menschen mit dem Maß der Kneipenwirte, und seine Gleichgültigkeit wird zu irritierter Verachtung für die Welt, die er durchquert.

    Ein vollständiger Skeptizismus ist die Ausbeute seines Daseins. Diese Skepsis ist doppelt. Auf Gefühle vertraut der Virtuose äußerst widerwillig. Er hat nicht einmal ein besonderes Vertrauen auf die Begeisterung bei den Menschen. Er hat zu oft gesehen, wie er spurlos vergessen wurde, als daß er für ein kurzes Aufbrausen ernsthaft danken oder es schätzen könnte, was meist ein Produkt von Kunst ist.

    Der Impresario sät ja den Samen der Begeisterung so geschickt aus. Die große Wassermühle der Presse gibt den Samen Feuchtigkeit durch den Schwall ihrer Meldungen und Feuilletons. Die Maschinerie arbeitet in allen Ländern gleich. Dieselben Kniffe erzeugen dieselbe Wirkung, und fröhlich geraten Nord und Süd in dieselben plumpen Fallen. So wenig wie man dem Gefühl Vertrauen schenkt, so wenig glaubt man an die Intelligenz. Man hat zu reiche Möglichkeiten, mit der Dummheit Bekanntschaft zu machen.

    Diese von allem verlassene Leere ist das Leben dieser ewig Fahrenden, dieser Virtuosen. Einsam rollen sie in ihrem Abteil erster Klasse durch die Welt. Der Schwindel ist das einzige, was ständig die Fahrkarte löst und mitfährt.

    Aus dem Dasein dieser Kaste zeichnete ich das Bild des Wunderkindes. Das Schicksal Charlot Duponts berührte mich, weil man hier so deutlich sah: Hier gab es keine Wahl. Man wurde nicht gefragt, sondern man wurde von der Spekulation in diese Reihen gepreßt. Das Schicksal dieser Menschen ist in Wirklichkeit fast immer in den paar Worten ganz wiedergegeben, die ich einmal von einem jungen Tänzer hörte. Der junge Mann oder – der junge Tänzer sagte: „Meine Mutter ging mit mir zur Ballettschule, als ich sechs Jahre alt war… Ich hatte gleichlange Beine.

    Seit jener Zeit habe ich getanzt."

    Und buchstäblich – dieser arme Kerl hatte nichts anderes gemacht.

    „Ich ärgere mich manchmal, sagte dieser junge Tänzer, „darüber, daß ich nie ein Buch lesen kann. Aber ich bin zu müde; wenn ich vormittags meine Pas geübt habe, muß ich schlafen, um dieselben Pas abends tanzen zu können.

    So wenig wie er las, „lebte" dieser Mensch doch. Seine Kameraden lachten über ihn: Er war fünfundzwanzig Jahre alt und keusch.

    „Was soll ich tun? sagte er, „ich darf ja die Kraft in meinen Beinen nicht verlieren.

    Das Leben dieses Tänzers gleicht auch dem Giovanni Bedinis. So leicht kommt man von der einen Kaste zu der anderen. Der Unterschied zwischen hier und dort ist nur die Verschiedenheit, die verschiedene Arten der Beschäftigungen mit sich führt. Wir treffen bei den Artisten auf das Leben genau so vereinfacht wie bei den Virtuosen. Wir treffen – und dies wurde auf meinem Weg von Kaste zu Kaste mein großes Interesse – eine neue Gesellschaft, wo das Milieu vollkommen, innen und außen, von Kopf bis Fuß, die Menschen formt. Nicht einmal Waffeln, deren Teig in ein Waffeleisen gefüllt wird oder Zinnsoldaten, deren Stoff in eine Form gegossen wird, können durch das Eisen eine genauere oder beständigere Form erhalten als diese Individuen, die zu diesem Metier abgerichtet werden, von ihrem Handwerk bestimmt werden, das das Wirken des Gehirns auf ein Minimum beschränkt und so das Leben zu einer unumstößlich bestimmten Frucht einer gewissen Arbeit macht, gemeinsam für alle in der Kaste, so daß Individualität kaum zu entdecken ist; man hat alle geschildert, wenn man einen einzigen beschrieben hat.

    Man schreibt hier nicht die Geschichte einer Leidenschaft; man beschreibt eine Beschäftigung. Man hat nicht die Entwicklung einer Leidenschaft in einer Persönlichkeit zu verfolgen; man braucht bloß der Bestimmung eines Daseins durch eine mechanische Beschäftigung nachzugehen. Man sieht den Menschen als das komplett Passive. Die Beschäftigung ist das Aktive.

    Ich wurde von den Akrobaten- und Virtuosenkasten in die Arme einer dritten Kaste geführt: der Kellnerkaste. Das Einwirken fremder Elemente machte jedoch Franz Pander weniger typisch; und als Bild einer Kaste ist – ich weiß nicht, warum ich dies nicht genauso gut eingestehen könnte? – diese psychologische Studie kaum zu retten.

    Diese drei Kasteninterieurs bildeten den Inhalt der „Exzentrischen Novellen".

    Die jetzt herausgegebenen „Stillen Existenzen" beinhalten ein viertes Bild einer Kaste, von dem ich mir gewünscht hätte, es unmittelbar den drei anderen zur Seite gestellt zu sehen.

    Das vierte Interieur ist „Ihre Hoheit". Es findet sich in dieser Zusammenstellung nicht der leiseste Gedanke, irdische Machthaber zu verhöhnen. Die Schilderung der Prinzessin Maria Carolina selbst wird dies zum Überfluß zeigen. Es ist nur die Lust des psychologischen Untersuchers zusammenzustellen, was verwandt ist, was mich zur Beschäftigung mit dieser vierten Kaste, der der Fürsten, geführt hat.

    Eine Kaste ist dies. Genauso fremd in Anblick und Geist für alles, was unsere Gesellschaften sind und heißen, die sich selbst in allen Ländern gleichen. Die einzelnen Großen des Fürstenstandes brechen die Mauern der Kaste auf und erhalten mächtigen Lebensinhalt, indem sie die freie Luft schicksalsschwangerer Beschlüsse und die Bürde gewaltiger Pflichten fühlen. Das Dutzend lebt unweigerlich das Leben der Kaste und wird davon geformt und – geschrumpft. In „Ihre Hoheit" habe ich versucht zu zeigen, wie Prinzessin Maria Carolina auf das rein mechanische Handwerk der Fürsten abgerichtet wird und wie die Kaste der Fürsten unerbittlich – durch die unverbrüchliche Einförmigkeit, durch die Armut des Lebens, die Ferne und Einseitigkeit – das Dasein ihrer Mitglieder formt.

    Wiederum wird nicht die Geschichte einer Leidenschaft, sondern gewisser Gewohnheiten geschrieben – Gewohnheiten, die Leidenschaft sogar ausschließen.

    Gewohnheiten, die zu schildern die Dichter sich so oft gescheut haben, weil sie das Langweilige fürchteten, und denen die moderne Schilderung jetzt mehr und mehr ihre Aufmerksamkeit zollen wird, so sicher, wie der Erzähler ernsthaft versucht, gelebtes menschliches Leben zu berichten. Das Bild unserer Sitten ist das ungeschminkteste Bild der Zeit.

    – –

    Noch ein weiteres hat die Fürstenkaste mit den drei anderen Kasten, die ich behandelt habe, gemeinsam. Sie gleicht ihnen auch in ihrem Verhältnis zu uns, der übrigen Gesellschaft. Nach alter Sitte nennen wir diesen Kreis den herrschenden. Die Wahrheit ist, daß die Kaste der Fürsten genau in demselben Grad und auf genau dieselbe Weise wie die der Virtuosen und Artisten und Kellner ist – dienend. Wie die diese Kellner dort.

    Du drückst auf einen Knopf, und im schwarzen Rock zeigt sich ein weißbeschlipster Ganymed. Du willst ihn lächeln sehen. Du willst ihn frisch gewaschen sehen. Du willst ihn höflich sehen. Er hat vielleicht zur selben Zeit die Nachricht bekommen, daß seine Mutter gestorben ist. Er sieht deshalb traurig aus, hat vergessen, sich die Hände zu waschen, seit er zuletzt Flaschen spülte, und steht zerstreut da und hört nicht, was du sagst.

    Du bist aufgebracht, beschwerst dich beim Wirt, und das Kellnerwesen wird zur Tür hinausgejagt.

    Er ist auf der Welt, um mit einem Lächeln, gewaschenen Händen und Gehorsam dazusein, wenn du einen Knopf drückst. Alles andere, was diese „Bleichnase" betrifft, ist dir unbarmherzig gleichgültig.

    Es geht dich nichts an, daß er ein Mensch ist.

    (Erklärend kann man hinzufügen, daß er nach und nach aus Mangel an Zeit dieses Menschsein kaum erreicht hat, weil er dauernd die Treppe hinauf und hinunter laufen muß und weil es immer Leute gibt, die Knöpfe drücken.)

    Aber – genauso wie wir den weißen Knopf nach den Kellnern drücken, handeln wir in Wirklichkeit mit der Schar der Fürsten. Es ist nicht unterhaltsamer, den Grundstein zu einer Kirche zu legen, Nägel in einen Fahnenmast zu schlagen, in einer Ausstellung zu wandeln, wenn dies unendlich lange dauert – als eine Schüssel Erbsen oder einen Hirschrücken herumzureichen.

    Wir verlangen ein lächelndes Gesicht bei einer kurzberockten Pferderückenprimadonna; wir verlangen dasselbe Lächeln von fürstlichen Personen in ihren Logen. Daß diese Menschen Menschen sind, die vielleicht Enttäuschungen ertragen haben, die vielleicht leiden, die vielleicht am liebsten weinten, ist uns herzlich gleichgültig – für uns sind es die Fürsten, die erhabene Familie, die zu lächeln hat, die morgens zusammen mit ihren langen Strümpfen Gnade und Huld anzuziehen haben, die, kurz und gut, nur wegen uns existieren.

    Sie sind da, daß unserer Eitelkeit geschmeichelt werde, daß wir nachts ruhiger schlafen können, der Baumkuchen seine Spitze habe, so daß alles seinen Platz und seine Ordnung hat.

    Lassen Sie uns darin einig sein, daß das Publikum bei diesem beständigen Schauspiel in Samt und Seide das tiefe Gefühl hat, daß es seine Eintrittskarte bezahlt hat und es auf das Bestimmteste verlangt, daß die Vorstellung mit allen ihren Herrlichkeiten und in bester Ausführung programmgemäß stattzufinden hat.

    Denn die Herrschaften haben brav zu spielen.

    – – –

    Es würde mich nicht wundern, wenn der eine oder andere in „Ihre Hoheit Beleidigungen gegenüber den Mächtigen der Welt fände. Es gibt jedoch, wie oben erwähnt, keine. Ich betrachte die Monarchie als die am ehesten mögliche Regierungsform und die Republik als die problematischste aller weltlichen Staatsformen. Aber all mein Respekt vor der „Herrscheridee konnte mich nicht daran hindern, Prinzessin Maria Carolina als Mensch zu betrachten. Ich will offen hinzufügen: einen Menschen, den ich zutiefst bemitleide.

    Wenn ich mir etwas darüber hinaus gewünscht hätte: die Wahrheit zu sagen (all das, was mir nach langer und gewissenhafter Untersuchung als Wahrheit erschien), ist es dies, daß möglichst viele diese Schilderung einer Fürstin lesen möchten, um dann weniger neidisch zu sein.

    – – –

    Die Novellensammlung „Stille Existenzen besteht außer „Ihre Hoheit aus drei Novellen, die eng zusammengehören. „Mein alter Kamerad, „Der Sohn der Witwe und „Am Wege", die alle in dieselbe Kategorie gehören.

    Es ist deshalb leicht zu erklären, daß sie neben den Virtuosenund Kastengeschichten im selben Jahr entstanden.

    – – –

    Wir – die Leute, die zu denen gehörten, die man den Honoratioren zurechnete – hatten in der ersten Stadt meiner Kindheit jeden Sonntag nach dem Hauptgottesdienst einen Treffpunkt. Die Gesangbücher in den Muffen und den Taschen gingen wir vor dem Sonntagsbraten hinab zum Bahnhof, um den ½1-Uhr-Zug zu sehen. Es war der Schnellzug aus dem Norden, der vorbeikam. Wir trafen uns dort auf dem Bahnsteig zu einem Grüppchen, das über alle kleinen Begebenheiten der Woche quasselte, die kleinen Sorgen und die kleinen Freuden (für uns waren sie groß, weil sie die unsrigen waren); und der Zug kam an, und wir gingen auf und ab und spähten durch die Abteilfenster, wo sie saßen, die vornehmen Reisenden in ihren schmucken Pelzen; und wenn die Lokomotive wieder pfiff, sahen wir ziemlich lange der Wagenreihe nach, die sich in einem Bogen über die Wiese dort unten auf und ab wiegte; und dann – trotteten wir wieder mit den Gesangbüchern zum Sonntagsbraten nach Hause und zu all dem übrigen, was die Woche nun brächte …

    Jene Sonntage kamen mir im letzten Jahr so oft in den Sinn, wenn der Zug, in dem ich saß, an einer kleinen Station hielt, wo die Leute hingekommen waren, um nach den „Reisenden" zu spähen – und verfolgte mit großen Augen und mit so vielen Gedanken die, die in ihre Winkel trotteten, zum Tisch der Familie und der ganzen übrigen Stille.

    Alte Erinnerungen kamen hoch, Kindheitserinnerungen; die Erinnerungen meiner ersten Jugend kamen und lehrten mich, den Umherstreifenden, vor meinem inneren Auge das glückliche Leben dieser Stillen wieder an mir vorbeiziehen zu lassen.

    Ihr Glückseligen!

    Ich nannte es wohl so, weil es nicht mehr das meinige war. Weil ich, wenn ich mich aus dem Fenster des Abteils hinauslehnte und nach der Schar von Menschen sah, die den kleinen Bahnhofsweg hinabtrotteten, zu dem Flecken dort mit seinem Kirchturm, mit dem Hahn auf der Spitze, und den roten Ziegeldächern – mit demselben Blick, mit dem ich jenes Gesichtes gewahr wurde, diese Minute vor vielen Jahren auf dem Bahnhof von Sorø¹; an das ich nie – bewußt – auch nur den Schatten eines Gedankens in der ganzen Zeit, die seither vergangen war, verschwendet hatte; und das nun eines schönen Tages sich plötzlich in meinem Sinn gemeldet hatte und verstanden worden war …

    Ja, es war wirklich Jahr und Tag her, daß ich dieses Gesicht sah.

    Wir waren damals wohl ungefähr sechzehn Jahre alt. Es war in einem der letzten Jahre, die wir zur Schule gingen. Ich erinnere mich an alles so unendlich deutlich, obwohl das Ganze so herzlich unbedeutend erscheinen kann.

    Einige von uns Gymnasiasten hatten es unten bei der „Jungfrau gelesen … in diesem kleinen, schäbigen, unvergeßlichen Raum hinter der Konditorei, wo wir dünne Mehlpampe mit dem Namen „Crème verschlangen, fläzten wir uns wie Herren in das Roßhaarsofa, verewigten unseren Namen in den Fensterrahmen und machten unsere ersten Schulden – Schulden von acht Schillingen², die uns schlaflose Nächte verschafften. – –

    Dort bei der Jungfrau hatten wir es im „Dagstelegrafen"³ gelesen. Der „Dagstelegraf. Er war von Fingern und Frühstücksbrötchen fettig und vom Lesen durchlöchert; aber er wußte alles. Zu Hause hörten wir, daß er zu viel wußte, um ein feines Blatt zu sein, und in unserem Lesezimmer wurde er nicht gehalten. Aber die „Jungfrau hielt ihn, und sie mußte ihn in drei Exemplaren gehalten haben, so studierten wir ihn mit all seinen Neuigkeiten …

    „Dagstelegrafen hatte es morgens gedruckt. Und wir brachten die Neuigkeit von der „Jungfrau zum Mittagstisch mit: daß diese oder jene Truppe – eine Operntruppe –, die in Kopenhagen singen sollte, mit dem Abendzug von Korsør⁴ in der Hauptstadt ankomme …

    Dann waren sie um 9 Uhr in Sorø …

    „Die Oper kam mit dem 9-Uhr-Zug" …

    Wir, die wir die Schauspielerliste jedes zweitrangigen Theaters auswendig konnten, wir zehn, zwölf Theaterbesessene aus „den obersten, waren natürlich für den 9-Uhr-Zug berufen. Wir hatten ja wochenlang die „Italiener-Namen wie am Schnürchen gekonnt und das Lebensschicksal der Primadonna und das Repertoire und das Ganze. Wir mußten dort sein – aber die ganze Schule war es auch. Sie mußten alle dorthin, die kleinen von „der Eingangsstufe und „die Realschulschläger von der „Fünften – jeder, der kriechen konnte und jeder, der gehen konnte – alle mußten die „Oper im 9-Uhr-Zug sehen …

    Der ganze Bahnsteig draußen war voll. Und so standen wir dort, groß und klein, und starrten auf einige herabgerollte Gardinen in einigen Abteilen der ersten Klasse und stießen einander an und flüsterten geheimnisvoll: Dort war die Oper.

    Bis ein großer dicker Realschüler ein lautes: „Könnten wir jetzt Kaffee bekommen, Fräulein?" sagte.

    Und er spukte durch die Zähne hindurch (so wie man in der „fünften Realschulklasse" spucken konnte) … Dies war das Zeichen für Jungenwitze und Streiche, und nach Hause ging es die Bahnhofstraße entlang, und viele Tage lang war es ein Ulk, den Mund zu verziehen und als Antwort auf alle möglichen Fragen des Himmels und der Erde zu sagen:

    „Ja sicher – hast du die ‚Oper‘ gesehen?"

    Aber einige von uns hatten auf jeden Fall die Primadonna gesehen. Als der Zug gerade abfuhr, erblickten wir sie – wir kannten das Gesicht ja von der „Illustreret"⁵ – wie sie den Vorhang vom Fenster zog und hinausschaute. Und während der Waggon langsam anfuhr, blieb sie mit dem Vorhang in ihrer Hand stehen und blickte auf den Bahnsteig und den kleinen Weg und hinüber zum Wald …

    Und sie schob das Fenster hinunter, und sie streckte den Kopf hinaus, und sie sah unverwandt auf den kleinen Bahnhof zurück, solange wir den Zug noch sahen …

    Sie, jene Unbekannte, deren Stimme ich nie gehört habe, deren Namen ich vergessen habe und deren Gesicht mit einem solch schwermütigen Blick zu uns gewandt war, die ich in diesem Augenblick so klar vor mir sehe, als hätte ich sie gestern getroffen, – sie blickte aus ihrem Virtuosenabteil lange auf den kleinen Weg, der an einem stillen See entlang führte, am Rande eines schützenden und dichten Waldes, nach Hause in einen unbekannten Winkel, wo Frieden herrschte …

    Einer von uns, der sich mit Jamben leicht tat, schrieb ein reimfreies Gedicht: „Sie blickte zu dem Fenster hinaus." Es hatte viele überflüssige Versfüße und viel Gefühl … Aber keiner von uns hat sie je gehört.

    Mit den Augen jener unbekannten Frau sah ich wohl oft auf der langen Fahrt im letzten Jahr auf die stillen Wege der kleinen Städte, wo Spießbürger im Gänsemarsch zu lautlosem Werken nach Hause gingen; schaute auf dieses kleine, friedliche Bahnhaus mit dem engen Hof hinter grün bemaltem Zaun, den Tauben auf den Stangen im Giebel, und die zwei, drei Fächer Fenster, gefüllt mit Blumen …

    So ungestört, so ganz ruhig, ganz traut lag das kleine Haus hier gleich am Weg, während die Züge brausend und lärmend kamen und gingen.

    Hier in einem dieser Fenster hinter den Blumen war es, daß ich jenes andere Gesicht erblickte, jenes, das ich zwei Jahre lang in meinem Sinne nicht loslassen konnte und das ich, wäre ich Maler, in weichen, wehmütigen, halb verwischten Linien zeichnete und es als eine Art Titelbild auf dieses Buch setzte. – –

    Es war vor einigen Jahren in Nordjütland. Ich hatte am Abend vorher in einer Stadt eine Lesung gehalten und würde heute abend in einer anderen wieder lesen. Ich war müde, der Zug fuhr langsam wie alle unsere Eilzüge, und die Fahrt nahm kein Ende.

    Nun hielten wir wieder … Wir hielten ja alle fünf Minuten.

    Ich erhob mich vom Sitz, um zu sehen, wie viele Meilen⁶ es noch waren, als mein Auge von der Meilenangabe unter dem Bahnhofsdach auf eines der grünbemalten Fenster fiel.

    Das Fenster war voll mit üppigen und seltenen Blumen: Palmen und blühenden Kakteen. Und durch die Blumen hindurch starrte ein bleiches Gesicht – das Kinn lag auf zwei schmalen, weißen Hände gestützt – mit den großen und glänzenden Augen einer Kranken auf den Zug. Die junge Frau bewegte sich nicht. Ruhig, den Kopf auf den Händen, starrte sie bloß auf den Zug hinaus, solange ich sie sehen konnte …

    Auf der ganzen Reise sah ich von da an vor mir dieses Frauengesicht zwischen den Blumen. Es war kaum Sehnsucht, die in diesem Blick lag – die Sehnsucht hatte sich vielleicht zu Tode geflattert, als sie sich die Flügel an enge Wände schlug – nur eine stille Resignation, eine verstummte Trauer.

    Und wenn nun der Zug vorbeigefahren war, würde sie, in derselben Stellung, mit demselben Blick wieder über das Heidekraut schauen – über die weite und einförmige Ebene.

    – – –

    Dieses Gesicht kehrte zwei Jahre lang unaufhörlich und wieder und wieder in meine Gedanken zurück. Es blieb in meinem Kopf, und es beschäftigte mich unablässig.

    Es war nicht dies – wie man glauben könnte –, daß die beiden Frauen – (diese im Bahnhof und jene unbekannte Sängerin, deren Gesicht neben dem der Bahnhofsbewohnerin auftauchte) vom Ufer ihres jeweiligen Daseins einander mit so eigentümlich demselben Blick betrachteten; es war nicht das, was mich ergriff.

    Jenes bleiche Gesicht zwischen den Blumen interessierte mich ausschließlich an sich.

    Und ich faßte es in einer kleinen Skizze in Worte; und nach einem Monat tat ich es wieder. Und jedes Mal, wenn ich wieder eine Frauenfigur beschrieb, sah ich, wenn das Bild fertig vor mir lag: Es war wieder sie. Ich begriff, ich würde mit diesem eigentümlichen Antlitz auf diese Weise nicht fertig. Diese Augen forderten, daß man mit ihrer Geschichte zu Ende käme.

    Ein solches Bild in unserem Kopf ist wie ein großer Schwamm. Es saugt leise, lange Zeit, und ohne daß wir es merken, alles in sich auf, was dazu paßt, alles, was damit harmoniert – alles, was wir an Erinnerungen, Erlebnissen, Stimmungen haben; Beobachtungen, die wir bewußt und unbewußt machen, alles saugt das Bild in sich auf und zieht Nahrung daraus und gedeiht. Und eines schönen Tages hat dieses losgerissene Bild einen mächtigen Stoff um sich gesammelt, ein großes Material, das sich uns plötzlich sowohl als Reichtum zeigt, von dem wir kaum ahnten, daß wir es besäßen, als auch eine Bürde, von welcher wir uns befreien möchten.

    Und man nimmt den gesammelten Rohstoff in seine Hand und beginnt die mühsame Arbeit der Darstellung. Der Augenblick ist gekommen, wo man den toten Schatz lebendig machen muß.

    – – –

    Verwinkelt und unübersichtlich ist dieses Vorwort vor und zurück gesprungen. Es gibt gewiß die, die sagen werden, das ganze Selbstgespräch sei höchst überflüssig gewesen. Aber selbst wenn es so ist – ist das so schlimm?

    Die meisten überspringen diese Seiten, um gleich zur Sache zu kommen. Einige der Leute, die keinen so übertriebenen Wert auf den Verfasser und auf das, was dieser Mann schreibt, legen, werden das Vorwort mit Freude lesen: Sie werden ein ganzes Arsenal von Waffen finden, womit sie ihn noch lächerlicher machen können als er in ihren Augen schon seit Jahren war.

    Und die wenigen Freunde, die ein einsamer Mensch rundum in den Winkeln hat, werden mit der Geschwätzigkeit Nachsicht üben. Man wird leicht geschwätzig, wenn man in einem fremden Land auf Landsleute trifft.

    Außerdem habe ich in diesem Augenblick, wo ich von auswärts, wo ich lange und vielleicht für immer bleiben will, dieses Buch nach Hause senden werde, das im letzten Jahr zuhause entstanden ist, eine Stunde lang den Drang gefühlt, wieder einmal – wie so oft früher von der Stelle, wo ich die bunten und verschwommenen Eindrücke meiner frühesten Jugend mit treuen Freunden teilte – ganz ungezwungen und in voller Freiheit zu reden. Was man in einem solchen Augenblick sagt, ist vielleicht unliterarisch und ist vielleicht vereinzelt laut im Ton, aber es erleichtert das Herz.

    Wien im Juni 1886.

    Herman Bang.

    Anmerkungen

    1. Sorø: Stadt auf Mittelseeland, 70km südwestlich von Kopenhagen (1906: 2 300 Einwohner, 2000: 6 800 Einwohner). Um Bischof Absalons Zisterzienserkloster herum entstanden; in der heute noch bestehenden Klosterkirche sind König Valdemar IV. Atterdag (1320–1375, König ab 1340) und der Dichter Ludwig Holberg (1684–1754) bestattet. Bang besuchte von 1872–1875 die berühmte Akademie, wo er sein Abitur ablegte, bevor er dann in Kopenhagen das Studium der Jurisprudenz und der Staatswissenschaften begann. 1872 war die Familie von Horsens in das naheliegende Tersløse gezogen, wo der Vater Bangs eine Gemeindepfarrstelle antrat, die er bis 1875 innehatte.

    2. Acht Schillinge: 1 Schilling (Reichsbanktalerwährung bis 1873) hatte etwa eine Kaufkraft von 20 ¢, 8 Schillinge entsprachen somit 1,60 € (2011).

    3. „Dagstelegrafen": Politik-, Nachrichten-, Handels- und Anzeigenblatt, das täglich erschien. Es wurde1864–1891 von C. Ferslew (1836–1910) mit C.V. Rimestad (1816–1879) als Redakteur in Kopenhagen herausgegeben.

    4. Korsør: Stadt auf Westseeland (1906: 6 000 Einwohner, 2000: 20 000 Einwohner); am Großen Belt gelegen, im Mittelalter als Fährhafen zwischen Seeland und Fünen entstanden. Zur Zeit Bangs war Korsør Endpunkt der Staatsbahnline Kopenhagen–Korsør und Ausgangspunkt der Fähre nach Kiel. Ausgeführt wurden damals in erster Linie Fische, Fleisch und Speck, eingeführt Kleie, Ölkuchen, Kohlen, Holz und Petroleum. Bedeutender Fischfang.

    5. „Illustreret" (Illustreret Tidende): Erschien von 1859–1924 und war die größte Wochenillustrierte, die auch ein großbürgerliches Publikum ansprach. Ihr Inhalt waren aktuelle Berichte, Novellen, Reiseberichte und Nachrichten aus Wissenschaft, Literatur, Kunst und Industrie. Das Bildmaterial bestand aus Xylographien und Federzeichnungen hoher Qualität.

    6. Meile: 1 dänische Meile entspricht 7 532 m.

    Stille Existenzen

    Mein alter Kamerad

    Für Julius Schiøtt

    „Nein – bist du es – daß man dich hier trifft …!

    „Nein – wirklich – du liebe Güte – es ist Kristian!" –

    „Ja – höchstpersönlich – nein, daß man dich hier träfe!"

    „Aber komm doch und setze dich, Mann – ich hätte dich fast nicht wiedererkannt …"

    „Das glaube ich, wenn man sich so herumtreibt wie du – dann vergißt man leicht seine alten Freunde.„Nein, mein alter Freund – im Gegenteil, gerade dann erinnert man sich an sie.

    „Nun – ein Widerspruch – jetzt erkenne ich dich wieder – du Alter – nein – daß man sich wirklich einmal trifft …"

    „Aber so setze dich doch dort in den Lehnstuhl, daß ich dich betrachten kann: Doch, du bist ganz der Alte – bis auf den Bart – er ist dichter geworden – erinnerst du dich an damals – du pflegtest den sprießenden Flaum mit Zwiebelsaft."

    „Ach ja." –

    „Und dann hast du zugenommen!"

    „Und du bist immer noch gleich dünn – und du hast immer noch zu kleine Stiefel an."

    „Das ist zur Gewohnheit geworden. Ich glaube nicht, daß ich noch darauf verzichten könnte."

    Wir setzten uns. Ja – er war ganz der Alte: dieselben Augen, blau und treuherzig, dasselbe Lachen, so klar und arglos.

    Ich verharrte einige Augenblicke und schaute ihn an. Dann sagte er:

    „Wir sitzen da und schauen einander an, und jeder denkt vom anderen: Wie er sich doch verändert hat – in diesen acht Jahren."

    „Acht Jahre, sind es acht Jahre?"

    „Ja, es ist acht Jahre her."

    War es wirklich schon so lange her, daß wir einander gesehen hatten? In diesem Augenblick schien es mir, als wäre es erst gestern gewesen, daß wir bei den geselligen Studentenabenden zusammengesessen hätten, in den Vorlesungen Seite an Seite geschlafen hätten und füreinander Mäntel verpfändet hätten, wenn es knapp herging, und in den Stiefeln des anderen gegangen wären – –

    Und nun war es acht Jahre her.

    Wir redeten über die alten Tage. Über die alten Possen, über die Trinkgelage, über unsere ersten Theatervorstellungen. Wie leicht doch in jener Zeit die Herzen es hatten zu schlagen – –

    Die alten Namen tauchten auf.

    „Erinnerst du dich an den? – Und erinnerst du dich an jenen?"

    „Ach ja – was ist denn aus ihm geworden? Er ist jetzt Oberregierungsrat – an der Westküste – dick und fett geworden.

    „Er war der Schönste von uns." –

    „Davon ist nichts mehr zu sehen!" –

    „Und Ramsay – der Blonde – erinnerst du dich, wo ist er jetzt? Erinnerst du dich an ihn – die Mütze schräg auf den Locken, den Stock in der Tasche¹ – ein Blick aus dem Augenwinkel zu jeder Dame auf der Hauptstraße – nun, er hatte keinen Platz auf dem Gehweg, so stolz wie er dahinwandelte und mit jedem Schritt eine Welt eroberte …"

    „Und ob ich mich daran erinnere!"

    „Bei den Studententreffen samstags hielt er immer die Rede für die Damen – und war immer verliebt – – jede Woche in eine andere – der arme …"

    „Ich glaube, er ist in Indien."

    „In Indien?"

    „Ja – er war auf einen abschüssigen Weg geraten. Man rief ihm zu: „Leih mir eine Krone²! und ging auf die andere Seite, wenn man ihn auf der Straße traf. – – Dann entschloß er sich eines Tages dazu abzureisen.

    „Ach so – nach Indien. Ja, das ist wohl nicht das Schlechteste."

    „Therkildsen – der mit der großen Nase – erinnerst du dich? – Der immer die „Tante" im Saal³ spielte – er ist im letzten Jahr gestorben." –

    So tauchten die Namen auf – dieser war gestorben, jener zu Amt und Würden gelangt, dieser hatte geheiratet, jener war ausgewandert.

    So saßen wir und plauderten. Dann entstand eine Pause, und jeder dachte das Seine, vielleicht dasselbe.

    Und ohne es zu merken, sagte ich:

    „Weißt du, Kristian, wir sind jetzt nicht mehr jung."

    „Dreißig Jahre alt."

    „Ja – dreißig Jahre."

    „Und du – du bist ja ‚berühmt‘ geworden."

    „Ja – dies wurde bei einem Samstagabendgelage nach zwei Uhr von einem Studenten gesagt. Aber ich wäre lieber noch einmal achtzehn Jahre alt …"

    „Um was zu erreichen?"

    „Zu erreichen? Nichts von dem, was ich erreicht habe – du."

    Mein alter Kamerad zögerte. Dann sagte er:

    „Ja, du – ich bin zufrieden."

    „Aber du lieber Himmel – wir reden über alle anderen – und von dir erfahre ich nicht das Geringste. – Was machst du eigentlich?"

    „Ich bin Pfarrer."

    „Pfarrer?"

    „Ja – erinnerst du dich nicht daran, daß ich Theologie studiert habe? – Ach nein – darüber haben wir ja am wenigsten geredet. Doch – ich bin wirklich Pfarrer."

    „Seit wann bist du das?"

    „Seit zwei Jahren, mein Freund."

    „Und wo?"

    „Auf Lyö⁴."

    „Auf – – Lyö?"

    „Ja."

    „Nun – es liegt etwas abseits – nicht wahr!"

    „Ja, das stimmt."

    Ich blickte ihn an. Was doch alles geschehen ist! Seine Eltern waren ja reich. Ihr Ball im Januar war der größte, auf dem ich war – dieses herrliche Haus – am Gammeltorv⁵ – mit den beiden Laternen an der Einfahrt – und dem alten Pförtner, der das Tor so behutsam und sachte auf- und zuschloß – und die warmen Treppen mit läuferbelegten Stufen – und die rundliche, gutmütige Frau Staatsrat⁶ mit ihren schönen hellen Augen, sie, die uns immer half, wenn es klemmte.

    Und Elisabeth – ja – Elisabeth, die Schwester – was wohl aus ihr geworden war?

    Wie elegant sie war, schlank und vornehm – mit dem stillen Lächeln, das mich so sehr verblüffte – wie elegant sie war, und wie ruhig sie ihren Kopf trug, und wie sie grüßte … – wie ich doch für sie geschwärmt hatte! – Meine erste Liebe … voller Hoffnungslosigkeit und mit alten Blumen und einem Bild, das ich aus Kristians Album gestohlen hatte, mit dem ich dasaß und den philosophischen Vorlesungen eine Kußhand zuwarf …

    Und nun – nun war er Pfarrer auf Lyö geworden.

    Als ob mein alter Kamerad meine Gedanken erriete, sagte er:

    „Ja – mein Freund – in acht Jahren kann viel geschehen."

    „Ja – da kann viel geschehen."

    Wir schwiegen einen Augenblick, dann sagte er:

    „Daß Vater gestorben ist, hast du sicher gehört – es war kurz nach deiner Abreise."

    „Ja – ich habe ganz kurz davon gehört."

    „Es war ein trauriger Todesfall – – er wollte das Unglück ja nicht überleben."

    Ich wußte nichts zu sagen. Ich schwieg und wartete.

    „Ja – von all dem wußten wir zu jener Zeit nichts – in der ersten Zeit, als wir beide am meisten zusammenwaren –, aber später, als wir uns seltener sahen – jeder hat ja das Seinige zu tun und sich darum zu kümmern – erfuhr ich es nach und nach. – Erfuhr manches und erriet mehr.

    Mit Vaters Geschäft war es stark zurückgegangen – Vater hatte immer viel ‚gewagt‘ und den Kredit bis zum Äußersten, was der alte Namen hergab, beansprucht. Dann kam Unglück auf Unglück, Verlust auf Verlust.

    Und dann mußte vertuscht und verdeckt werden. – Und wir führten ein immer größeres Haus, sowohl um Mutter als auch alle Fremden zu betrügen. Elisabeth und ich waren die einzigen, die es wußten.

    Der alte Kassierer hatte mir in seiner Angst alles anvertraut.

    Weißt Du, es ist furchtbar, in einem solchen Haus zu leben, das vor dem Ruin steht – es ist, als ob sein Fall in allen Ecken lauerte. Und dann das Spektakel und die Feste und wir Einge-weihten, die aufeinander aufpaßten, ob wir unsere Rollen gut spielten.

    Und mitten während eines Balls konnten Elisabeth und ich uns treffen und einander krampfartig die Hand drücken, während wir uns mit einem verzweifelten Blick anschauten."

    Mein alter Freund zögerte und sagte leise:

    „Ja – die arme Elisabeth."

    „Warum – was macht sie jetzt – sie ist sicher verheiratet?"

    „Nein – sie löste ihre Verlobung, in jenem Winter – jenem Winter, dem letzten Winter, löste sie sie plötzlich auf."–

    „Wer war es? War es nicht Thorsen?"

    „Doch – – weißt du, sie handelte richtig – er hatte sich mit dem reichen Mädchen verlobt – nicht mit der Armut – die nun kam.

    Aber – nun ja – ich glaube nicht, daß sie ihn vergessen hat."

    „Und er war damit einverstanden – und ließ sie ohne weiteres gehen?"

    „Lieber Freund, was hätte er tun sollen? Er verdiente 1800 Kronen jährlich, und Elisabeth hätte das Dreifache für ihre Kleider gebraucht. – Er war sehr traurig, glaube ich … – Jetzt im Frühjahr hat er geheiratet."

    „So groß war die Trauer … ach ja …"

    Mein Freund fuhr sich über die Augen.

    „Siehst du", sagte er, „darüber kann man nicht richten. Tiefe Trauer und tiefe Trauer sind zwei Dinge – und sie sind nicht für alle dasselbe."

    „Und wie ging es dann weiter?"

    „Vater hielt es bis zuletzt am Laufen, – ach – die letzte Zeit – du, als ich alles wußte. Wie das Ganze an einem Faden hing, als sie in unseren Wechseln nach Geld stöberten – es handelte sich um Stunden. Die Banken, weißt du, waren plötzlich vorsichtig geworden, sie hielten sich zurück und weigerten sich und machten Schwierigkeiten … und akzeptierten nicht mehr …

    Ich erinnere mich einmal – der Bank war ein Wechsel vorgelegt worden, als die Nachricht zurückkam, daß der Direktor meinen Vater gerne persönlich gesprochen hätte. –

    Ich war bei Vater im Kontor, als der Bote kam.

    Er blickte auf und drehte sich um, so daß der Kontorangestellte sein Gesicht nicht sehen konnte.

    ‚Und der Wechsel?‘ fragte er.

    ‚Ja – er wurde nicht akzeptiert. – Der Direktor sprach von einem Formfehler.‘

    ‚Gut. Würden Sie bitte läuten – es soll vorgespannt werden.‘

    Früher ging Vater immer zu Fuß. Aber in der letzten Zeit liebte er es zu fahren. – Ich glaube deswegen, um sich zu verstecken, verstehst du, auf jeden Fall in der Zeit alleine zu sein – und dann wohl auch, um den Wagen zu zeigen – –

    Vater war leichenblaß, als er abfuhr.

    Er blieb kurz vor dem Spiegel stehen.

    ‚Sehe ich sehr schlecht aus?‘ fragte er.

    ‚Ach nein – – wie immer.‘

    ‚Was soll das mit dem Wechsel heißen?‘ fragte ich leise. ‚Was es heißen soll?‘ Und Vater senkte die Stimme: ‚Was es heißt? Sie haben kein Vertrauen mehr.‘ –

    Ach du, niemals werde ich den

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