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Düwelsmoor: Erzählungen
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eBook255 Seiten3 Stunden

Düwelsmoor: Erzählungen

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Über dieses E-Book

"Düwelsmoor" basiert auf einem Erzählungszyklus (PROLOG, LOTS VERMÄCHTNIS, NORWEGISCHE HUREN, KINGFISH REDUX, GUT FEHRENBRUCH) über drei Generationen von Menschen, von der Zeit des Ersten Weltkriegs bis in die Gegenwart, ansässig am Rande des "Teufelsmoors" in der norddeutschen Tiefebene, deren Lebenslinien scheinbar unverbunden und doch auf vielfältige Weise ineinander verschlungen sind. "Düwelsmoor" versinnbildlicht den Urgrund und Kristallisationspunkt ihrer Erfahrungen in einer gleichermaßen am Realismus und religiös geprägten Elementen des phantastischen Realismus ausgerichteten Erzählprosa.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Nov. 2015
ISBN9783738047349
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    Buchvorschau

    Düwelsmoor - Laszlo Petersen

    Prolog

    Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab ... und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war.

    (1. Mose 19, 24-25)

    Die untergehende Sonne tauchte die Burg in ein blutiges Dunkelrot. Windböen rissen vom Meer kommend chaotische Muster in ihr Haar. Sie setzten sich ins hohe Gras auf dem Deich und starrten in die Ferne, wo ein Leuchtfeuer mit hellen Fingern über die landwärts rollenden Wellen tastete. Die Umrisse eines hellblau und weiß gestrichenen Schiffes zeichneten sich glitzernd seitwärts der Burg ab. Möwen kreischten in der Brandung, schwangen sich gleitend, stürzend und taumelnd im schäumenden Zwielicht über dem tosenden Wasser. Die Frau drängte sich fröstelnd an ihn, er legte behutsam einen Arm um ihre Schultern. Er spürte ihr Haar weich in seinem Gesicht. Der Wind blies es sanft um seine Augen, seinen Mund, seine Wangen. Ihre Körper wärmten einander. Die Zeit schien stillzustehen. Nacht brach herein. Die Möwen hörten auf zu kreischen, aus den grazilen Fingern des Leuchtturms waren im fahlen Licht der sinkenden Sonne kräftige Arme gewachsen, aus denen gleißend Elektrizität anmaßend schön über das Meer strömte. Die nahende Dunkelheit umhüllte bald das weißblaue Schiff wie ein schwarzes Gewand. An seiner Stelle leuchteten Lichterketten rot und blau in die Nacht.

    - Lass uns gehen, sagte er tonlos.

    Sie umarmte ihn, küsste seine trockenen Lippen. Es gab nur einen Weg hinauf zur Burg, daneben unberechenbare Strömungen, Treibsand, Scherben, giftige Quallen. Sie hatte sich auf ihn gestützt, ihr Gewicht drückte ihn nieder, ihre Haut schmiegte sich weich an seine Haut, Fleisch von meinem Fleisch. Er lud sie auf seinen Rücken und suchte mit unsicheren Schritten den Weg. Ihr geduldig reitender Leib wärmte seinen Rücken, seine Arme spürten den Druck ihrer Schenkel, ihr Atem strich leise an sein Ohr. Schweiß bedeckte sein Antlitz, als er gebeugt den Hügel erklomm. Der Obstgarten. Golgatha. Sie reichte von seinen heißen Schultern nach den Kirschen über ihrem Gesicht. Sie steckte ihm eine Kirsche in den Mund. Sie riss einen Zweig vom Baum und fütterte den Träger ungestüm lachend mit ihren süßen, gestohlenen Früchten. Der Mond war aufgegangen und beschien die Szene mit fahlem Licht. Der Mann hielt an der Herberge. Sie spuckten Kirschkerne gegen die Mülltonne am Straßenrand, dünn schepperte das Metall.

    - Du, ich hatte einen Traum, flüsterte sie. Sie sah seine Hand, seinen Arm. Sie drehte sich zu ihm, streifte sein ausgestrecktes Bein. Sie spürte seine schwere Hand auf ihrer Haut, seinen schweren Körper auf ihrem Körper, seine muskulösen Arme, seinen Mund über ihrem Gesicht. Sie starrte nachdenklich durch seine Augen und gewahrte auf der Balkonbrüstung eine Fliege, die über den Rand kroch und ihrem Blickfeld entschwand.

    - Ob Fliegen ihr Blut in den Kopf fließt? Wahrscheinlich nicht. Angst haben die auch nicht. Angst hat nur das höher entwickelte Wesen, Raubtier oder Mensch. Angst setzt Erinnerung voraus oder eine Vorstellung von Zukunft. Fliegen können sich nicht erinnern, denken ohne Blut im Kopf. Blut transportiert Angst.

    - Hast du manchmal Angst? fragte sie ihn.

    Ihr Atem berührte seine Wangen. Seine Lippen blieben stumm, seine Augen streiften nachdenklich ihren Mund. Céline schwieg. Sie spürte ihn nah, seine Gedanken drangen zu ihr auf geheimen Wegen. Alles ist nah wie Sandkörner, alle sind gleich geformt, Gesicht, Körper, Geruch, Augen, Haar, Arme, Haut, Schweiß, Sonne erlöst. Sie küsste ihn. Drückend lastete die Schwüle auf ihr, schwer, wie männliche Haut. Ihre Lippen waren trocken. Sie hielt ihre Augen geschlossen und folgte einer sonoren Stimme aus dem nussbraun lackierten Grammophon.

    Seine Hand gleitet von ihrer im Sonnenlicht schimmernden Hüfte auf die feuchte Decke, fährt zurück und legt sich fast ein wenig verschämt auf ihr tiefschwarzes Vlies, magisches Dreieck, gotisch geschwungene Pforte ins Paradies; gefiltertes Licht teilt grell und dunkel die sanfte Haut ihres Körpers in geometrische Formen, logisch, vage, empfindungslos. Ihr Haar fällt dicht, schwarzbraun, auf das zerwühlte Kissen. Ihre Augen starr auf das geöffnete Fenster gerichtet, spürt sie unangenehm Schweiß auf der Haut, doch sie blickt reglos, schweigsam, in ohnmächtiger Geduld. Er seufzt verlegen, dreht sich auf den Rücken, seine linke Hand tastet nach ihrer Schulter, legt sich sanft auf ihren Arm.

    - Lass uns aufstehen, sagt er leise, wie zu sich selbst.

    Sie antwortet nicht. Er richtet sich auf, schaut auf ihren seitwärts geneigten Körper. Er schluckt unwillkürlich, als ihm frischer Speichel in die Luftröhre rinnt.

    Sie schweigt. Er streckt ein Bein über die Bettkante, zieht mit gekrümmten Zehenspitzen die Hausschuhe unter einem umgestürzten Stuhl hervor und stakst mit steifen Gliedern ins kühle Bad.

    Es war ein schöner Tag. Die Bäume so grün, das Moos, die Weiden, die bunten Felder, gelb der Raps, weite Flächen malerisch schön, die alten Dörfer, die Bäuerinnen in Trachten. Die Kirchen. Das Fachwerk. Winklige Gassen. Holde Glückseligkeit. Pablo - ein trauriger Fall. Don Quixote. Trotzdem. Die sonnige Luft hauchzart, fast zerbrechlich. Die Bäume am Wegesrand, glasklare Schatten in ungetrübt hellblauer Luft im Mai. Klarer Fall. Zerbrechlich. Glasklar. Céline richtete sich auf. Gebannt folgte sie den Umrissen der schattigen Nachmittagssonne, die auf ihren Gliedmaßen grazile Formen von Schatten und Licht erzeugten. Sie beugte sich vor und fischte mit der sicheren Routine ihres dehnbaren Körpers einen hauchdünnen Slip aus dem Faltenwurf der vom Liebesspiel sichtlich in Mitleidenschaft gezogenen Lagerstätte. Sie saß kerzengerade auf der Bettkante und mühte sich mit nach hinten gerenkten Armen mit ihrem neuen Playtex-Living BH, als er ins Zimmer trat, und fuhr fort sich anzukleiden, ohne ihn weiter zu beachten.

    Pablo fand John mit den Leuten von der Initiative beim Italiener am Markt. Er setzte sich zu ihnen und bestellte bei der Kellnerin ein Bier. Jemand fragte, warum er nicht mehr zu den Sitzungen komme. Er entgegnete, das gehe sie einen feuchten Dreck an. John legte besänftigend einen Arm auf seine Schulter.

    - Pablo, unser bourgeoiser Hamlet.

    Er grinste und schaute triumphierend in die Runde. Pablo wand sich aus seiner Umarmung. Die anderen sahen ihn mit ausdruckslosen Gesichtern an. Pablo wich ihren Blicken aus.

    - Lasst mich in Ruhe, brummte er, stand auf und zog sich eine Schachtel Zigaretten aus dem Automaten. Er kehrte zum Tisch zurück, brach die Packung auf, fischte sich eine Zigarette heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen und zündete sie an. Sie musterten ihn mit unverhohlener Neugier. Pablo fuhr auf, balancierte die Zigarette aggressiv zwischen Daumen und Zeigefinger und begann erregt mit seiner Hand über den Gläsern zu fuchteln.

    - Ist was? Was glotzt ihr mich so an? Sie schauten auf ihre eigenen Gläser und schwiegen. John räusperte sich.

    - Komm, Alter, reg´ dich nicht auf.

    Pablo hielt einen Filzdeckel in der Hand und begann Löcher hineinzubohren. Er brach ihn mittendurch, rieb ihn zwischen den Fingern, hob ihn bedächtig an die Lippen und blies einige Krümel quer über den Tisch. Seine Finger folgten den Krümeln und scharrten sie in kleinen Häufchen zusammen. Die Tischplatte glänzte matt. Pablo blies Rauch unter die Lampe, die einen scharfen Lichtkegel auf die Mitte des Tisches zwischen ihre Gesichter warf. Ihre Köpfe schienen wie von den Rümpfen gelöst, frei schwebend über dem Qualm, der von dem Licht in den Raum getragen wurde. Niemand sprach. An der Theke erklang schallendes Gelächter, Wortfetzen drangen zu ihnen herüber. Eine Musikbox dröhnte laut in der Ecke, wo vier junge Burschen um einen Flipper-Automaten standen. Sie trugen blaue Jeans Anzüge. Die Worte HELLS ANGELS FULDA glänzten silbrig aus dem verräucherten Halbdunkel.

    - Hättest mit nach Bochum kommen sollen zur Demo, sagte Jenny.

    - So? Pablo paffte an seiner Zigarette, drückte sie umständlich am Aschenbecher aus. John starrte verlegen auf seine Fingernägel. Er hob den ruinierten Filzdeckel und wedelte dessen klägliche Überreste nachdenklich vor seinem Gesicht.

    Er blies hüstelnd Zigarettenqualm in die Runde.

    - Stimmt, sagte er. Da hast du was verpasst. Stimmung war echt super.

    Pablo nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Er hatte Kopfschmerzen. Er fingerte nach der Zigarettenschachtel, zündete sich eine Neue an, filterlos, schwarz.

    Er zögerte, suchte nach Worten. Es widerstrebte ihm Rechenschaft abzulegen. Warum sollte er sich entschuldigen?

    - Ich konnte nicht. Mary war schließlich tot.

    Es war eine Ausrede. Seine Hände beschrieben Figuren auf der Tischplatte. Er suchte nach Worten. Aber warum sagte keiner was? War das ein Verhör? Pablo schaute sie an. Sie schienen nachzudenken.

    - Wir finden, du solltest dich nicht so abkapseln, sagte Laszlo, der Anführer der Gruppe. Warum kommst du nicht wie früher zu uns, wenn dich etwas belastet und sagst uns, was los ist?

    - Ach, Scheiß drauf... Pablo dachte über eine geharnischte Entgegnung nach, über Privatsphäre, Psychoterror und Gruppenzwang. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Er fühlte eine große schmerzende Leere in seinem Kopf.

    - Ich weiß nicht, was mir fehlt. Irgendwas. Es hat damit zu tun, dass es zwischen mir und Céline Probleme gibt, die eigentlich gar keine Probleme sind, weil wir ja längst getrennte Wege gehen.

    Er wusste nicht, ob sie ihm folgen konnten.

    - Außerdem hatte ich da vor kurzem so ´ne Sache mit Jane, einer Bekannten von John aus Kalifornien. Freundin von Mary. Aber nichts Ernstes ... nur so...

    Jenny grinste verlegen.

    - Ach so, sagte sie und dehnte provokativ das ´o´.

    Die anderen schwiegen.

    Pablo stocherte mit einem abgebrannten Streichholz im Aschenbecher. Er blickte verwirrt auf, als niemand mehr etwas sagte. Der Lärm verschluckte ihre Gedanken. Jenny, Mike, Paul und die anderen tranken ihr Bier aus. Mike stand zuerst auf. Er zwängte sich an Pablos Stuhl vorbei und ging zu den Hells Angels am Flipper-Automaten, klopfte ihnen jovial auf die Schultern und betrachtete interessiert ihr Spiel. Sie schienen ihn nicht zu beachten. Mike war ihnen überlegen und sie ihm. Pablo spürte es hinter sich knistern. THE LOW SPARKS OF HIGH-HEELED BOYS. Eine Melodie blitzte durch das Gestrüpp seiner Gedanken. John bestellte noch ein Bier. Paul und Jenny standen auf und gingen. Pablo blickte ihnen nach, als sie im Halbdunkel der Kneipe verschwanden. John rückte seinen Stuhl näher zu Pablo hin.

    - Heh, Hamlet, was ist?

    Pablo grinste verlassen. John verzog sein Gesicht. Pablo dachte an jenen Abend im Mai, als er Jane kennenlernte. Sie hatten in Johns Wohnung gefeiert. Jane hatte ihn fasziniert, ihre Unbekümmertheit, ihr Lächeln. Den ganzen Abend hatten sie miteinander geredet und Céline hatte ihm fortan nichts mehr bedeutet. Pablo zündete sich eine neue Zigarette an und bestellte noch ein Bier, als die Kellnerin mit Johns Bier am Tisch erschien.

    - Jane rief mich heute nachmittag an, sagte Pablo.

    John betrachtete ihn nervös aus den Augenwinkeln.

    - Sie bleibt in Berlin und fliegt von dort nach Hause. Das heißt, wir werden uns wohl nicht mehr sehen.

    Die Kellnerin kehrte mit einem frisch gezapften Bier zurück und machte ein Kreuz auf Pablos Filzdeckel. Pablo hob das Glas und leerte es fast in einem Zug. Seine Augen glänzten, als er das Glas absetzte.

    - Aber es hätte ohnehin zu viele Hindernisse gegeben, glaube ich. Sie mit ihrer Erziehung, den reichen Eltern und so...

    John sagte nichts. Er räusperte sich mehrmals und hüstelte, als Pablo sich zu ihm wandte und ihm versehentlich Rauch von seiner Zigarette ins Gesicht blies. Pablo kaute auf einem Streichholz, biss es in vier Teile und zerkleinerte nach und nach jedes Stück. Feuchte Holzsplitter blieben in seinem Bart hängen.

    - Jane war so etwas wie eine Rettungsboje, murmelte er mit leerem Blick.

    - Mehr nicht. Sie hat mir nur geholfen Céline zu vergessen und wir hatten eine gute Zeit. Aber es gab keine gemeinsame Perspektive.

    Er unterbrach sich, um die Holzraspeln aus seinem Bart zu streifen.

    - Jane war okay. Wir haben uns gut verstanden. Aber Céline wusste besser, worauf es ankommt. Was jetzt mit ihr ist, versteh ich nicht.

    Er schüttelte betrübt den Kopf und zündete sich eine neue Zigarette an.

    - Jane war ehrlich. Das muss man ihr lassen. Sowas gibt´s nicht mehr oft.

    John rückte unruhig an seinem Stuhl, seine Hände glitten nervös über den Tisch.

    - Jane schrieb mir letzte Woche einen Brief, flüsterte er für sein Gegenüber kaum hörbar. Aber ich wollte dir eigentlich nichts davon erzählen.

    - Was? Pablo blickte ihn überrascht an. John starrte wieder auf seine Fingernägel.

    - Jane geht es momentan nicht gut - wegen Mary. Sie schrieb mir, sie sei selbst jetzt irgendwie tot, alles sei ihr gleichgültig. Sie habe noch nicht wieder zu sich gefunden. Mary nahm sich das Leben, weil alles zu groß für sie war, zuviele Bezugspunkte, Gefühle, Bindungen, zuviel Ausland. Sie wusste nicht mehr, wer sie war. Und Jane wusste von ihrem Problem, konnte ihr jedoch nicht helfen. Jane braucht jetzt Ruhe. Sie hat nichts gegen dich und sie bedauert alles, aber es geht nicht ... wegen Mary.

    Pablo stierte mit leerem Blick in die Ferne. Natürlich - das brauchte er ihm nicht zu sagen. Oder doch? Pablo war verwirrt. Er betrachtete die feinen Rauchschwaden, die sich um die Lampe legten wie weiße Schleier.

    - Wenn du da hineingreifst, spürst du nichts, murmelte Pablo tonlos.

    Er zog den Filzdeckel unter seinem Bierglas hervor und wedelte die Rauchschleier auseinander. Was hatte er mit Mary zu tun? Er fasste sich mit gespreizten Fingern an die Schläfen. John schwieg. Er saß reglos, in Gedanken versunken. Er spürte den Alkohol in seinem Blut. Sie leerten wortlos ihr letztes Glas. John schlug vor noch ein wenig zu ihm zu gehen, Pablo war einverstanden. Sie saßen eine Weile still am Tisch, beschäftigt mit ihren Gedanken - und dem Aschenbecher voll toter Glimmstengel und grauer Asche.

    Attilas Haar klebte nass an seiner hohen Stirn, erregt funkelten zwei Augen in seinem vor Dreck starrenden Gesicht. Der Rollstuhl, in dem er seit Stunden kauerte, steckte fest im Schlamm, doch es kümmerte ihn nicht. Er spürte die sehnige Muskulatur seines schmächtigen Oberkörpers unter dem klatschnassen Hemd, das im prasselnden Regen auf seiner Haut klebte. Der Weg vor ihm und hinter seinem kläglichen Gefährt war aufgeweicht. Er wusste sie würde kommen. Der meterlange Fangstab, aus grünem Zedernholz geschnitzt, unten scharf gegabelt, lag robust in seiner Hand. Während er mit der anderen Hand die Augen gegen die tiefstehende Sonne abschirmte, bemerkte er wie die Konturen des Deiches, drüben am See, sich schärfer gegen den im Süden verhangenen Nachthimmel abzuzeichnen begannen. Entschlossen presste er seine Zähne aufeinander. Seine Augen fuhren mechanisch über den braunen Morast, der in geringer Entfernung eine ausgefahrene Wagenspur verschlang. Mary wusste von der Schlange, zweieinhalb Meter lang, breite, dunkelgraue Streifen ringförmig um den Körper verteilt. Er musste es Mary beweisen. Er kostete es aus bis zur Neige - das köstliche Leben. Gefühle waren Quantitäten; Stimmungen und Launen ein Luxus, den jene sich leisten, deren Herz dafür krankt. Attila O´Neale besaß ein starkes, gleichmäßig und gesund pulsierendes Herz und starke Glieder im gesunden Teil seines Körpers. Der untere Teil war die Wurzel, aus der er Kraft sog, gefühllos aber lebendig. Attila kannte die Grenzen seiner Kraft. Er lebte wie die Pflanze im Kübel, deren Wurzelgeflecht die schwarzbraune Erde durchdringt und sich Halt suchend an das stützende Steinrund schmiegt.

    Die Schlange streckte ihren Kopf unter dem Stein hervor. Sie war noch halb vom Präriegras verdeckt, doch seine Augen hatten sie bereits erspäht. Seine Muskeln entspannten sich, er hielt den Atem an. Die Schlange rührte sich nicht. Sie lag wie erstarrt. Er ahnte plötzlich, dass es wieder fehlschlagen könnte wie damals - vor Marys Tod. Ihm wurde heiß, er hörte sein Herz pochen. Das Reptil bewegte sich. Ruhig hob es den Kopf, reckte ihn züngelnd in die Höhe, glitt bedächtig aus seinem Unterschlupf und näherte sich dem Querschnittsgelähmten. Attila spannte alle Muskeln seines schmächtigen Oberkörpers, atemlos, wie hypnotisiert folgte er ihren gleitenden Bewegungen, bis seine Hand plötzlich vorschnellte und das Tier mit dem gegabelten Ende des Fangstabes in den Morast presste. Die Schlange wand sich wild zuckend um den Stab, doch Attila gab nicht nach. Er fühlte die Kraft seiner Arme und Hände. Schweißperlen mischten sich an seinen Schläfen mit dem niederströmenden Regen. Seinen Körper auf den Fangstab gestützt, zog er sich langsam an die Schlange heran, die nur noch verbissener kämpfte, als sich das ganze Gewicht des Gelähmten auf sie legte. Attila atmete tief aus und ein. Sein Gesicht war verzerrt. Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln.

    Die Schlange lag unter ihm, ihr Körper zuckte und rieb sich an dem fremden, metallischen Objekt. Attila beugte sich erregt über die Lehne des Rollstuhls. Das Reptil entspannte augenblicklich seinen gestreiften Körper, als er ihn mit der Hand betastete, fuhr jedoch jäh in die Höhe, als der Jäger den Fangstab fallen ließ und mit der freien Hand nach seiner glatten Kehle griff. Attila stürzte ruckartig mit dem Rollstuhl in den Morast. Wie ein langer, erigierter Muskel wand sich die Schlange unter ihm. Mit seiner kraftvollen Rechten hielt er ihren Hals umspannt, bis das Tier wie in einer Schraubzwinge feststeckte. Sein linker Ellenbogen stützte ihn, seine Hand hielt das tobende Reptil in sicherem Abstand von seinem Gesicht.

    - Niemand weiß, dass ich hier bin! durchfuhr es ihn plötzlich.

    Er ließ sich seitlich auf den Rücken sinken, sein Kopf schien ihm schwer wie Blei. Blei in den Knochen. Nicht aufgeben, Attila O´Neale... Mary schrieb, du wärst verrückt, aber SIE schnitt sich die Pulsadern auf, nicht ich... Mary, hier... Dein verrückter Bruder! Mary! Er lachte auf und schrie, während er die Schlange noch fester packte. Wütend schüttelte er ihren sich unablässig windenden Leib, griff sie mit seiner Linken am Schwanz und zog das wild zuckende Knäuel vor seinem verzerrten Antlitz in die Länge. Die Schlange wehrte sich mit aller Kraft, doch Attila war stärker als das Reptil. Er hielt es vor sich in die Höhe wie eine Trophäe und brach ihren Willen. Sie entspannte ihren Körper, ihre halbmondförmigen Augen spiegelten Angst vor dem Tod.

    Attila sah sich nach Rettung um. Sein Blick fiel auf eine umgestürzte Eiche, die nahe dem Waldweg lag und mit klobigem Wurzelwerk in den wolkenverhangenen Nachthimmel ragte. Attila robbte mit angewinkelten Armen auf den Baum zu. Mit seiner Linken zog er den umgekippten Rollstuhl, die Rechte umfasste die Schlange mit eisernem Griff. Der Baum hatte eine griffige Borke, in die sich seine Finger krallten, als er sich wie ein waidwundes Tier an ihm hochzog. Er presste seine Stirn an das borkige Holz, spürte Blut an seiner Schläfe und zog sich mit Mühe auf den Baumstamm, zerrte mit der Linken den Rollstuhl neben sich und ließ sich aufatmend in den Sitz gleiten. Die Schlange war halb erstickt. Seine Hand war im Würgegriff erstarrt, nur unter Schmerzen gelang es ihm seine verkrampften Finger vom Natternleib zu lösen. Er bewegte seine Finger einzeln und ohne Hast. Die Schlange lag zusammengerollt auf seinem Schoß. Seine Linke hielt ihre Kehle umfasst. Es gab kein Entkommen für sie, doch sie verstand nicht, warum der Jäger sie nicht tötete, das Schlangenhirn registrierte seine Schwäche.

    Mary war tot. Das hatte Jane ihm aus Berlin geschrieben. Attila fühlte eine große Leere. Er hatte Mary geliebt, ihre Freunde hatten sie geliebt, die Eltern. Jetzt war sie nur ein Haufen Asche in einer Urne in einem Flugzeug, hoch über den Wolken. Air Mail. Wie ihre Briefe. Attila fühlte die Tränen in seinen Augen. Warum hatte sie es nur getan? Er streichelte die Schlange. Für einen Augenblick vergaß er sich und seine trostlose Umgebung. Dann riss ihn ein stechender Schmerz aus dem Halbschlaf, in den er müde und erschöpft gesunken war. Er fuhr hoch, griff nach der Schlange, doch blitzschnell hatte sie zugestoßen. Sein Arm brannte wie tausend Feuer. Attila spürte das Gift, das sich geschwind zur Schulter hinauf fraß und seinen Arm unheilvoll anschwellen ließ. Schweiß perlte in Bächen von seiner Stirn. Das Fieber begann seinen Körper zu schütteln. Der Schmerz klammerte sich unerträglich um seine Brust, sein Kopf sank nach vorn, seine Hände griffen verzweifelt nach dem kühlen Metall. Als die Dunkelheit ihn schließlich umhüllte, verflüchtigte sich scheinbar der todbringende Schmerz.

    Der Mond schien gespenstisch durch die pechschwarzen Wolken hinter der Burg. Pablo wankte müde und betrunken durch die engen Gassen der Altstadt. Grelle Blitze zuckten lautlos über den

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