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Severin: Eine kognitive Dissonanz
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eBook322 Seiten4 Stunden

Severin: Eine kognitive Dissonanz

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Über dieses E-Book

Jacob Severin soll seine Verlobte stranguliert haben. Die Beweislast ist erdrückend. Niemand glaubt an seine Unschuld. Hypnose? Verschwörer? Die Polizei lacht ihn aus. Als ihm die Flucht gelingt, beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Denn die Welt ist versessen darauf, Jacob fertigzumachen. Während er der Spur der brutalen Killer folgt, zieht sich die Schlinge immer weiter zu. Bald kämpft er an allen Fronten, vor allem gegen sich selbst. Denn im Zentrum der Verschwörung wartet eine schreckliche Wahrheit.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Juni 2015
ISBN9783738031997
Severin: Eine kognitive Dissonanz

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    Buchvorschau

    Severin - Myron Bünnagel

    I.

    Für einige Augenblicke war da nur ein klaustrophobisches Gefühl. Festes Halbdunkel und angedeutete Gitter darin. Dann setzte die Bewegung ein, schickte ein Zittern durch den Boden. Der Ruck zog seinen Magen in die Tiefe. Irgendwo über ihm klagte Metall, übertönte das leise Motordröhnen. Es ging aufwärts, langsam und vibrierend, die Dunkelheit angefüllt mit einem mechanischen Ächzen und Stöhnen. Jacob Severin starrte in die Schwärze, dorthin, wo er seine Füße vermutete. In seinem Kopf pochte es dumpf, ein Laut, den nur er selbst hören konnte. Ein monotoner Takt, der ihm den Schweiß aus dem Körper trieb. Der Kragen seines Hemdes schien zu eng, die Krawatte lag wie eine Schlinge um seinen Hals. Unter den Armen spürte er brennende Feuchtigkeit.

    Dünne Lichtfäden fraßen Holzlatten aus dem Halbdunkel, entblößten den zerkratzten Untergrund, das glänzende Leder seiner Schuhe. Sie erstarkten, drangen nun in dichten Bahnen von ihrem grellen Glühbirnenzentrum herein. Obwohl Jacob sie erwartet hatte, stach ihn das Licht in die Augen. Nadeln punktierten schmerzende Stellen in seinem Schädel. Sein Blick haftete auf dem Schatten, der da unförmig aus ihm herauswuchs. Eine schwarze Karikatur seiner selbst, mehr und mehr in die Länge gezogen, während sie an der künstlichen Sonne vorbei weiter hinauf glitten. An seinem längsten Punkt stieß der groteske Jacob mit zwei weiteren Schatten zusammen. Ihre Köpfe verwuchsen für wenige Sekunden miteinander, verschmolzen zu einem abstoßenden Dreileiberhybriden, ehe sie das entfliehende Licht wieder auseinander riss, klein schrumpfte und in der Dunkelheit zwischen den Stockwerken verbarg. Sein Mund fühlte sich ausgetrocknet und taub an, in seinen Augen brannte es. Als das Licht das nächste Mal begann, die Geheimnisse hervorzuzerren, starrte er auf die groben Querstangen vor sich. Aus den Augenwinkeln sah er die beiden Männer. Klobige Umrisse, denen er keine Bedeutung beimessen konnte. Obwohl sie nicht direkt hinter ihm standen, fühlte er sich von ihnen bedrängt, mischte sich ihre Nähe mit dem würgenden Gefühl in seinem Hals.

    Nicht viel, und Jacob hätte aufgegeben, keine Anstrengung mehr unternommen, auf den Beinen zu bleiben oder die Augen offen zu halten. Mit jedem Millimeter, den sie nach oben glitten, verlor er an Kraft. Schweiß perlte auf seiner Stirn, rann ihm über Brauen und Schläfen, sickerte den Hals hinab.

    Mit einem leisen Rumpeln kam die Welt zum Stillstand, erstarb der mechanische Lärm um ihn herum. Einige Momente herrschte völlige Stille, als hätte sich eine wohltuende Taubheit in seinen Ohren eingenistet. Jacob schloss die Augen, sperrte das schmerzende Licht aus. Er trieb für Bruchteile eines Augenblicks in diesem erlösenden Nichts. Dann vernahm er das Atmen der Männer und kehrte mit einem Lidschlag ins Innere des alten Lastenaufzuges zurück. Das Gefühl der Schwäche, des Aufgebens, war verschwunden. Er fühlte sich noch immer ausgelaugt, aber gleichzeitig fähig, sich umzuwenden. Synchron zu seiner Bewegung vollführten auch die beiden Männer eine Drehung. Jacob starrte auf ihre Rücken. Der Größere zog das Gitter mit einem Ruck in die Höhe. Er war groß, größer als Severin selbst, der sich für gut gewachsen und kräftig hielt. Muskulöse Arme, ein breites Kreuz und dunkles Lockenhaar, das über den Kragen eines tiefblauen Anzuges quoll. Das Gittertor rasselte nach oben, brachte den Aufzug durch seinen Aufprall zum Zittern.

    Der andere Mann war kleiner, gedrungener, etwa so groß wie Jacob selbst. Der Ansatz kurzer pechschwarzer Haare war in seinem Nacken zu sehen. Er trug einen Frack und einen samtenen Turban auf dem Kopf. Seine Haltung war sehr aufrecht, die Brust weit rausgedrückt, die Arme davor verschränkt.

    Gleichzeitig setzten sich die beiden Fremden in Bewegung, traten bestimmten Schrittes hinaus in den langen Flur. Eine nackte, grelle Glühbirne baumelte von der Decke, verbreitete knöcherne Helligkeit. Dunkle Backsteinmauern, vom Alter geschwärzt, ein grauer, sauberer Linoleumboden. In der Wand eine Tür, grau lackiertes Metall. Den Gang hinauf und hinunter siegte bald die Dunkelheit, hinterließ nur eine Ahnung weiterer Eingänge.

    Jacob folgte den beiden, während er sich zu erinnern suchte, wer sie waren, warum er bei ihnen war und wo sie waren. Aber da gab es keine Antworten, nur einen unerträglichen Druck in seinem Schädel. Sie blieben vor der Feuerschutztür stehen. Neben ihr stand ein kleines Tischchen mit einer gläsernen Vase darauf. Drei Rosen darin, eine weiße, eine schwarze und eine vertrocknete zwischen ihnen, deren Farbe nicht mehr zu erkennen war. Ihr Anblick beunruhigte Jacob. Ein Anflug von Panik wallte in ihm auf. Der Geschmack von Blut lag ihm auf der Zunge, sein Puls begann in seinen Ohren zu rasen. Der Flur geriet ins Wanken, kippte erst in einem Bogen nach links, dann nach rechts, die nackte Birne der Drehpunkt. Übelkeit kroch seinen Hals hinauf, nistete sich in seinem Rachen ein. Plötzlich legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter, rückte die schwankende Welt gerade. Die Panik ebbte ebenso schnell ab, wie sie gekommen war. Finger drückten sich auffordernd in seine Schulter und Jacob hob den Blick. Er sah zur Seite, schaute in ein Gesicht, das zwischen Turban und dichtem Krausbart nur helle, blaue Augen zu besitzen schien. Klare Augen, die im grellen Licht funkelten, denen etwas Zwingendes anhaftete. Der Bärtige nickte in Richtung der Tür und Severin wandte sich langsam um, tat einen zögerlichen Schritt vorwärts, hob seine Hand und ballte sie zur Faust, um kräftig gegen das Metall zu schlagen. Einmal, ein weiteres Mal. Der hohle Laut hallte geisterhaft durch den Flur.

    Sie warteten. Jacob ließ die Hand sinken. Seine Zunge glitt unruhig über seine aufgesprungenen Lippen. Als sich endlich die Tür öffnete, atmete er erleichtert aus. Eine tiefrote Stofftapete rückte in sein Blickfeld, dann eine Frau. Sie war Mitte Fünfzig mit einem stark geschminkten Gesicht, auf dem sich Falten eingegraben hatten. Ihre Lippen glänzten in einem feuchten Rot, die Lider schimmerten blau, ebenso die klobigen, eckigen Kristallohrringe. Ihr blondes Lockenhaar ging bis zu ihren bloßen, glatten Schultern. Sie trug ein blaues Kleid, dessen Freizügigkeit nicht mehr zu ihrer verlorenen Jugend passte. An ihrer Hand glitzerte ein Ring mit einem weiteren Kristall. Sie schaute ihn mit einem Anflug von Überraschung in den Augen an: „Hallo, Jacob."

    „Hallo, Mutter." Seine Stimme ebenso überrascht, ein wenig unsicher. Er sah sich Hilfe suchend um, bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen. Sich an den Flur zu erinnern, daran, dass er schon einmal hier gewesen sein musste. Aber die Erinnerungen lagen noch immer unter einem erstickenden Schleier.

    Sie öffnete die Tür, ließ eine aromatische Wärme in den Gang dringen. „Und du hast Freunde mitgebracht. Sie musterte die beiden Männer, war zufrieden mit dem, was sie sah und trat zur Seite, den Rücken durchgedrückt. „Immer herein. Jacobs Freunde sind auch meine Freunde. Sie lächelte und klimperte dabei mit den Lidern.

    „Mutter, ich …, setzte er verzweifelt an, aber sie zuckte nur die Schultern: „Schon in Ordnung, Jacob. Es ist nur, … ach, sieh selbst. Damit forderte sie ihn auf, einzutreten. Er ging den beiden anderen voran, vorbei an seiner Mutter, hinein in den dezent erleuchteten Flur. Rot war die vorherrschende Farbe. Die Wände, der Teppich, selbst der Rahmen des hohen Spiegels neben einer offen stehenden Tür. Jacob kam an einem mit Gold und Porzellan überfrachteten Badezimmer vorbei, die Ablage über dem Waschbecken voller Parfümfläschchen. Die Luft war hier warm und süß, führte die Nuancen von fremdländischen Speisen und Räucherstäbchen mit sich. Der Flur öffnete sich in ein großflächiges Wohnzimmer. Heller Kerzenschein schwängerte den Raum mit seiner Hitze, machte die Luft schwer und träge. Im Zentrum stand eine enorme Tafel mit Stühlen darum. An den roten Wänden hingen Ölgemälde mit Szenen aus einem freizügigen, orientalischen Harem. Nackte Sklavinnen, vorangetrieben von muskulösen Wächtern, ergeben in den Armen eines dünnbärtigen Edelmannes. Von einem Beistelltisch, auf dem kleine Schälchen und die goldene Figur einer dreiköpfigen Gottheit arrangiert waren, stiegen Rauchfäden auf, mischten ihren Duft unter die Hitze der Kerzen, die überall verteilt standen.

    „Ich wusste nicht, dass du … dass du hier eine Wohnung hast, Mutter", brachte er hervor.

    Sie griff nach seinem Arm, drückte ihn leicht. „Ich habe es dir bestimmt gesagt, Jacob. Meine kleine Oase der Entspannung."

    Er zuckte unsicher die Schultern: „Vermutlich habe ich es nur überhört." Sein Blick glitt durch den Raum, mühte sich gegen den schimmernden Glanz der Flammen.

    „Vermutlich hast du das, Jacob."

    Am Ende der Tafel saß jemand, eine Frau, die auf einen Teller vor sich starrte. Die Tischplatte war reichhaltig bestückt – Schüsseln und Platten mit dampfenden Speisen, jeder Platz war gedeckt. „Du hast Besuch, Mutter?" Er trat näher an den Tisch, besah sich die Frau. Eine vage Unruhe ergriff ihn bei ihrem Anblick, eine Mischung aus Neugier und furchtsamer Ahnung.

    „Ich wusste nicht, dass du kommst, Jacob", bemerkte seine Mutter in entschuldigendem Ton.

    Mit zögernden Schritten trat er näher. Der Raum um ihn herum schien sich zurückzuziehen, bildete einen Rahmen für die braunhaarige Frau. Ihr Haar fiel in lockigen Wellen auf ihre Schultern, berührte sanft den hellen Stoff des eng geschnittenen Kostüms. Severins Herz schlug heftig, er hörte es in seinen Ohren rasen. Der Lärm wuchs heran, bis er selbst das taube Gefühl in seinem Schädel übertönte. Wie in Zeitlupe hob sie nun den Kopf und die Erkenntnis fraß sich dabei aus Jacobs Innerstem heraus, drängte sich in den Vordergrund, schnitt sich daraus hervor, um in schmerzender Klarheit in ihm aufzusteigen. Ein feines Gesicht, hohe Wangenknochen, Andeutungen von Sommersprossen auf dem schmalen Nasenrücken. Sinnliche, dezent geschminkte Lippen, ein zierliches Kinn. Ihre Rehaugen mieden einen Moment die seinen, dann strich ihr Blick über ihn. Die Erkenntnis traf ihn mit quälender Eindeutigkeit, gleichzeitig spürte er die Wut zurückkehren. Sie war ein gleißender Schnitt und kam so heftig aus ihm hervor, dass Severin schluckte und seine Nägel tief in sein Handbett grub. „Angelica …"

    Ihre Stimme, leise und weich: „Hallo, Jacob." Sie hielt seinem brennenden Blick nicht stand, sah auf die Lichtreflexionen im Besteck vor ihr.

    Er wandte sich in einer heftigen Bewegung um, seine Worte voller Abscheu und Vorwurf: „Was macht sie hier, Mutter? Sein zitternder Finger deutete auf die braunhaarige Frau. „Was verdammt noch mal, tut Angelica hier?

    Seine Mutter sah ihn traurig unter den blauen Lidern an. „Beruhige dich, Jacob. Ich habe sie eingeladen."

    „Du hast was?" Seine Frage bohrte sich in die schwülstige Atmosphäre des Zimmers. Alles darin kam ihm wie blanker Hohn vor, wie billiger, glitzernder Tand. „Warum?"

    „Wir hatten etwas miteinander zu besprechen, Jacob."

    Er trat wütend von einem Fuß auf den anderen: „Diese Person hat hier nichts verloren. Ich dulde nicht, dass sie hier ist!"

    „Führ dich nicht so auf, Jacob. Du benimmst dich wie ein kleiner Junge."

    „Ich setze mich nicht mit dieser … dieser Schlampe an einen Tisch!"

    „Dann bleibst du eben stehen. Aber deine Freunde haben sicherlich Hunger und möchten Platz nehmen. Sie deutete mit einem Kopfnicken auf die beiden schweigsamen Männer. Severin nahm sie verwirrt zur Kenntnis. Den vollbärtigen Fremden mit dem Samtturban und den klaren Augen. Seine weiße Hemdbrust war makellos und gestärkt, der Frack saß perfekt an seinem gedrungenen Körper. Und der andere, der Riese, mit seinen Prankenhänden, glatt rasiert, mit einer Hakennase. Sie musterten ihn mit reglosen Gesichtern. Mit ihrem Anblick verrauchte die Wut in seinem Inneren, die einen Moment lang so tiefrot wie die Stofftapeten gewesen war, und machte wieder dem dumpfen Gefühl von Hilflosigkeit Platz. „Ich … Seine Stimme, beraubt aller Schärfe, klang nun wieder brüchig und unsicher.

    „Genug davon. Nehmt alle Platz. Zum Glück habe ich genügend Essen anrichten lassen, es dürfte für alle reichen. Ein befehlender Unterton in der Stimme seiner Mutter. Severin ließ sich widerwillig zu ihrer Rechten nieder, bemüht, seinen Blick auf alles zu richten, nur nicht auf die Frau gegenüber. „Ist Joseph nicht da?, fragte er und breitete übertrieben sorgfältig die rote Stoffserviette auf seinem Schoß aus.

    Seine Mutter, am Kopfende der Tafel, sah in unruhig an. „Wen meinst du?"

    „Joseph, deinen Butler und …" Er ließ den Satz in einem anzüglichen Grinsen enden.

    Sie seufzte: „Ach, der ist doch nicht mehr bei mir. Der neue heißt Jean, aber ich habe ihm und dem Mädchen freigegeben. Bedient euch."

    Er besah sich das Essen. Gelber Reis, der von innen heraus zu leuchten schien, dünne Fleischstreifen, gedünstetes Gemüse, unzählige Soßen und Gewürze in kleinen Schälchen. Dann wandte er den Blick ab, um die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Die anderen begannen zu essen, er hörte ihr Kauen, den Klang des Silberbestecks auf den Tellern.

    „Was macht sie hier, Mutter?" Die Worte kamen ganz von selbst über seine Lippen, als hätten sie die ganze Zeit darauf gelegen, um einen ungeschützten Moment abzuwarten, um ausgesprochen zu werden.

    Die blonde Frau ließ die Gabel sinken, ihre Finger mit dem klobigen Ring umfassten den langen Stiel eines Weinglases. Kerzenschein fing sich in dem blauen Kristall, funkelte darin. Jacob kam zu dem Schluss, dass es nur billiger Strass war. Ein protziger Angeberstein. Ehe er etwas dazu bemerken konnte, antwortete seine Mutter: „Stell dich bitte nicht so an, Jacob. Eure Verlobung ist nun schon seit vier Monaten gelöst."

    „Mich anstellen? Er sah sie empört an: „Du stellst dich an! Was ist nur los mit dir, Mutter? Du konntest Angelica noch nie leiden, warum ist sie also hier?

    „Beherrsch’ dich doch, Jacob. Wir haben immerhin Gäste." Sie nahm einen gezierten Schluck.

    Er sah sich um, versuchte erneut, die beiden Fremden einzuordnen, die ihr Gespräch still verfolgten. Der Lockenkopf saß ihm schräg gegenüber, neben ihm wirkte Angelica klein und zierlich. Er schien voll auf mit seinem Essen beschäftigt zu sein, betrachtete jeden Bissen sehr sorgsam, ehe er ihn langsam zum Mund führte. Seine Miene blieb dabei ausdruckslos, als schmeckte es ihm weder, noch als würden ihn Jacob und seine Mutter sonderlich interessieren. Nur in seinen dunklen Augen schimmerte ein Anflug von Interesse, der sein unbeteiligtes Verhalten Lügen strafte. Der andere, der mit dem Turban auf dem Kopf, schnitt sein Fleisch in winzige Stücke, die er sorgsam aufspießte und auf denen er lange herum kaute. Seine klaren, auffälligen Augen bewegten sich dabei mit verstehender, amüsierter Arroganz zwischen den zwei Frauen und Jacob hin und her.

    „Sollen sie doch zuhören, stieß Severin hervor. Sein Blick streifte seine Gegenüber. „Ist doch schließlich kein Geheimnis, dass wir uns getrennt haben. Er sprach übertrieben laut und beiläufig. Dann schüttelte er verbittert den Kopf, hob sein Glas und prostete Angelica zu: „Auf gelegentliche Untreue!"

    „Jacob! Seine Mutter fuhr ihn scharf an. „Ich dulde solche Unverschämtheiten nicht in meinem Haus. Angelica ist da in etwas hineingeraten und ich versuche ihr zu helfen.

    „Helfen? Ihr?"

    „Du weißt, dass ich einflussreiche Leute kenne. Leute, die ihr in ihrer Lage womöglich beistehen können."

    Er winkte genervt ab: „Ja, ja, ich weiß! Deine wichtigen Leute! Du schläfst sogar mit ihnen."

    Sie tupfte sich pikiert den Mund ab. „Das war sehr ungezogen von dir, Jacob." Darauf folgte ein langes, bedrückendes Schweigen am Tisch. Severin sah sich um, spürte die Wärme der Kerzen, die sich mit dem Duft des Essens zu einer zähen Masse verband. Im hinteren Teil des Raumes gab es eine offene, moderne Küche. Gegenüber befand sich eine teure Wohnzimmergarnitur im selben Farbton wie die Tapeten. Rot. Er versuchte, Angelica zu ignorieren, sie auszublenden, aber ihr Antlitz schimmerte durch die fremdländischen Frauengesichter auf den Haremsbildern.

    „Sie sind also Freunde von Jacob?", brachte seine Mutter das Gespräch nach einer kleinen Ewigkeit wieder in Gang.

    „Ihr Sohn war so freundlich, uns für den Abend einzuladen, Madame. Der Mann mit dem Turban sprach mit weicher Stimme, in der ein fremdländischer, vielleicht osteuropäischer Akzent mitschwang. Jacob horchte auf. Irgendetwas an diesem Tonfall kam ihm bekannt vor, gleichzeitig verspürte er eine deutliche Irritation. Verwirrt schaute er den Redner an, als dieser fortfuhr: „Wir brauchten ein wenig Abwechslung zwischen den Vorstellungen, mein Assistent und ich. Ihr Sohn meinte, Sie wären eine göttliche Gastgeberin, Madame.

    Die ältere Frau winkte mit einer zierlichen Geste ab: „Sie sind ein netter Charmeur, aber ein lausiger Lügner. Mein Sohn würde so etwas niemals sagen."

    Der Bärtige lächelte entschuldigend. „Verzeihen Sie mir, Madame. Ich müsste es allerdings besser verstehen, die Wahrheiten zu verzaubern. Vermutlich benötige ich für derlei Dinge das Rampenlicht."

    „Sie sind Künstler? Schauspieler vielleicht? Ich kenne einige Ihrer Kollegen." Sie zwinkerte ihm zu.

    „Kein Schauspieler, Madame. Eher Schausteller. Varietezauberer, wenn Sie so wollen." Seine Finger glitten über den üppigen Bart.

    „Ein Zauberkünstler, wie aufregend! Ich bin überrascht, dass du zur Abwechslung einmal ungewöhnliche Leute mitbringst, mein Junge." Sie tätschelte Jacobs Arm.

    „Nenn mich nicht Junge. Du weißt, dass ich das nicht mag. Und … ich … habe die beiden nicht … eingeladen." Die Worte kamen nur zögerlich über seine ausgetrockneten Lippen. Jacob versuchte sich an etwas in dieser Richtung zu erinnern, fragte sich, wer die Fremden waren. Der Bärtige kam ihm vage vertraut vor, wie jemand, an den er sich erinnern müsste. Aber da war nur dumpfer, undurchdringlicher Trübsinn. Keine deutlichen Bilder, keine Namen, nichts.

    Seine Mutter beugte sich verschwörerisch vor, ihre halbgeflüsterten Sätze an den Fremden gerichtet. Das zu enge Kleid ließ dabei einen mehr als deutlichen Einblick auf ihre Brüste zu. „Jacob ist angespannt, wissen Sie. Er und Angelica haben sich vor nicht allzu langer Zeit getrennt. Sie waren sogar verlobt und wollten heiraten. Es gab sehr viel Streit und böse Worte. Aber, Jacob, ich kann dir versprechen, dass Angelicas Besuch hier gar nichts mit dir zu tun hat."

    Severin schwieg verbissen und sah seine Mutter missmutig an. Die billigen Strasssteine funkelten bei jeder ihrer Bewegungen.

    „Dann tut es mir leid, dass wir zu einem so ungünstigen Zeitpunkt erschienen sind. Vielleicht kann ich etwas tun, die Situation zu entspannen?" Der Bärtige hob in einer entschuldigenden Geste die Hände. An seiner Rechten blitzte ein Diamantring.

    „Entspannen? Die Stimme seiner Mutter wechselte in einen weicheren Tonfall. „Was meinen Sie? Ihre Lider klimperten in einer schnellen Abfolge.

    Der Mann beugte leicht den Kopf. „Ein paar kleine … Tricks vielleicht, wenn es Sie nicht stört, Madame?" Seine Finger strichen sorgsam die gefaltete Serviette glatt, die er neben seinen Teller gelegt hatte.

    Die ältere Frau klatschte in die Hände. „Wenn es Ihnen keine Umstände macht. Ich wäre entzückt, wenn Sie uns etwas zeigen würden."

    „Doch keine Umstände für Sie, Madame. Es wäre mir ein Vergnügen." Er erhob sich langsam.

    „Dann lassen Sie sich nicht aufhalten. Benötigen Sie dazu mehr Platz? Jacob könnte die Stühle beiseite räumen."

    Seine kräftigen Hände winkten ab: „Nicht nötig. Ich werde heute Abend keine Jungfrau zersägen." Er trat hinter das Kopfende der Tafel, blieb für alle deutlich sichtbar stehen.

    „Wie überaus Schade! Aber Sie hätten auch Mühe, so eine hier zu finden." Sie lachte leise und warf dem Bärtigen einen koketten Blick zu.

    Seine klaren Augen sahen ins Publikum, fixierten die Gastgeberin, Angelica und schließlich Jacob, dem beim Blickkontakt der Schweiß auf die Stirn trat. Es war, als strahlten die Augen von innen heraus, als wären sie erfüllt von einem magischen Leuchten. Die blasse Haut, der dichte Bart und der schimmernde Turban glitten in den Hintergrund. Severin hatte Mühe, sich davon abzuwenden, in seinem Schädel begann es zu pochen. Ein stetiges Hämmern, wie etwas, das sich unerbittlich aus den tiefsten Abgründen heraufarbeitete. Sein Atem ging stoßweise, seine Finger klammerten sich an den Tisch, krallten sich in das Tuch.

    „Nur ein paar kleine Zaubereien, eine kleine Vorstellung." Der Bärtige verbeugte sich, ließ seine Hände wie einen aufgescheuchten Vogelschwarm durch die Luft gleiten. Schnelle, fließende Bewegungen, die vergängliche Symbole darin niederzuschreiben schienen. An seiner Hand glitzerte der Edelstein an einem goldenen Ring. Sich brechende Lichtreflexionen der Kerzen, ein Tanz wie unruhige Irrlichter. Das Schimmern huschte umher, war hektisch und schnell wie ein Kolibri, zog Münzen aus dem Nichts, Spielkarten, eine Rose. Jacob folgte den Bewegungen, ließ sie nicht aus den Augen. Diamantenrausch, Glanzfieber. Er versuchte die Schrift darin zu lesen, die Zeichen zu erkennen. Es war wichtig. Er spürte, dass es ungeheuer wichtig war. Aber in seinem Schädel schlug nur der Hammer, beschleunigte seinen Takt, brach sich im hellen Aufblitzen einen Weg heraus. Severins Lider fühlten sich bleiern an, aber er war unfähig, sie zu verschließen, sie aufeinander zu pressen, um das stechende Licht auszuschließen. Sein Blick verlor die Fixierung, zuckte ziellos umher. Die Welt drehte sich leicht, schwankte von einer zur anderen Seite. Schweiß und Hitze, die warme Luft brannte in seinen Lungen. Und sie roch. Da war ein zäher Duft, schwer und klebrig, der einen Augenblick zuvor nicht da gewesen war. Er kroch in Severins Mund, in seine Nase, drängte sich in seinen heftig pochenden Schädel hinauf. Nistete sich in seinem Magen ein, spielte mit der Übelkeit. Er sah undeutlich die Rose vor sich, eine verschwommene Dornenblume aus tiefem Rot und Grün. Ihre Blüte war bereits vom Niedergang gezeichnet. Die klaren Augen, die in den Grund seiner Seele starrten, die das Pochen und Hämmern sahen. Der Lärm schmerzte in seine Ohren. Die Finger mit dem grell funkelnden Edelstein daran, der die Luft ritzte, in Severins Gedanken schnitt. Ein Kaleidoskop von Farben, die sich mit dem Duft der Rose mischten. Der Blick ätzte sich in Severin hinein, unaufhaltsam durch das Chaos hindurch. Das rasende Pochen schlug nun in einen schnellen Rhythmus um, einte sich mit dem Takt seines Pulsschlages. Jacob versuchte dem Funkeln des Ringes zu entkommen, aber seine Augen gehorchten ihm nicht mehr. Der schillernde Samtturban, der struppige Bart, die klaren, wissenden Augen. Sommersprossen. Seine Zunge fühlte sich unförmig und aufgedunsen an, als wollte sie ihn ersticken. Schweiß brannte auf seinem erhitzten Körper. Dieser unausweichliche Blick. Die hektischen Finger. Das Pochen in seinem Schädel dröhnte nun im Klang seines Pulses, brandete unerbittlich gegen die wenigen, fragilen Gedanken. Das bannende Funkeln und Glitzern des Edelsteins, das immer wieder den Schein der unzähligen Kerzen einfing und noch überstrahlte. Sanft geschwungene Lippen, leicht geöffnet. Wieder dieser Blick, nah und überdimensional groß, die Pupillen verschwammen zu einem nachtschwarzen Zentrum. Braunes, weiches Lockenhaar. Der zähe Duft, die letzten Räume ausfüllend, alles mit seiner Klebrigkeit bedeckend. In seinem Kopf ein einziger Sog aus Bildern und Licht, in seinen Ohren das Crescendo seines Herzschlages. Und Augen, rehbraun und sanft. Ihre Weichheit angefüllt mit Verlangen. Die einzelnen Fragmente setzten sich zusammen. Kinn, Mund und Augen glitten an ihren Platz, Lippen, schimmernde Zähne und eine feuchte Zungenspitze. Alles andere verschwamm hinter ihrem Gesicht, blieb nur mehr ein blasses Farbenspiel. Leichte Röte unter ihrer weichen Haut, die Sommersprossen wie Myriaden winziger Inseln darin, ihre Augen dunkle Meere. Unergründlich tief im Glanz des Verlangens.

    Jemand stieß ihn unsanft an. „Hey, wachen Sie auf, Severin. Der Staatsanwalt will ein bisschen plaudern." Ein rauer, behäbiger Tonfall. In die Pausen zwischen den Worten drang ein leises Quietschen. Ein gequälter, dissonanter Laut. Jacob wandte den Kopf etwas zur Seite. Dicke Finger malträtierten einen Expander. Die Hand gehörte zu einem kräftigen Arm in einem billigen grauen Jackett, dessen Nadelstreifen eine leichte Krümmung aufwiesen. Der Hemdkragen darunter stand offen. Aus seiner Nase schauten graue Härchen hervor.

    „Ich habe nichts zu sagen." Jacobs Antwort brauchte einen Moment, ehe sie sich aus seiner Kehle gelöst hatte und in schneidendem Ton aus ihm hervor kam.

    Der Mann roch nach billigem Aftershave. „Das sollten Sie aber. Die Dinge stehen nicht gerade gut für Sie." Zwischen den Sätzen das wiederkehrende Quietschen.

    „Ziemlich schlecht, Severin." Eine weitere Stimme drang auf ihn ein. Neben der geschlossenen Tür saß ein anderer Mann, die Beine übereinander geschlagen. Sein Anzug stand ihm besser als dem ersten, auch sein Gesicht war feiner ausgeprägt. Aber seine Augen strahlten dieselbe Härte und Unnachgiebigkeit aus. Um seine Mundwinkel lag ein brutaler Zug.

    Kramer und Feldberg. Severin erinnerte sich wieder an ihre Namen, an ihre Stimmen, die ihn mit endlosen Fragen bombardiert hatten. Fragen, Vorwürfen und Anklagen. Aber das alles war nur ein zäher Brei in seinem Kopf. Feldberg … war der an der Tür. Kramer der mit dem Expander. „Ich habe euch Bullen nichts zu sagen." In seinen Worten schwang Wut mit. Tiefe Wut über ihre Sturheit, ihre Engstirnigkeit, ihren Unwillen.

    Kramer grinste. „Haben wohl schlecht geschlafen in Ihrer Zelle. Er saß vorne übergebeugt, gaukelte Vertrautheit vor. „Sind ziemlich unbequem, diese Zellenbetten, was? Aber man gewöhnt sich daran.

    „Sie müssen es ja wissen." Jacob lehnte sich in seinem Stuhl zurück, so weit es ging. Weg von Kramer und seinem stinkenden Aftershave. Fast wollte er den Bullen wegstoßen. Seine Hände … Severin ließ den Blick zu seinen Knien hinabwandern. Das harte Metall, blank poliert, voller unheilvoller

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