Die geläuterte Tote: Krimi aus dem Totenreich 4
Von Myron Bünnagel
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Buchvorschau
Die geläuterte Tote - Myron Bünnagel
1
Emma Schiffl war die Art von Kundin, die einen Detektiv anheuerte, nach ihrer entlaufenen Katze zu suchen. Oder ihrem Hund, vielleicht auch dem Kanarienvogel. Klein, gebeugt, dem Äußeren nach um die Siebzig, mit silbernem Haar, Perlenkette und Monogramm auf dem Spitzentaschentuch. Ihr Kleid war Mode gewesen, als McKinley Präsident gewesen war – grau, mit Rüschen und hochgeschlossenem Kragen. Im Gesicht hatte sie mehr Falten als ich in meinem zerknitterten Trenchcoat. Ganz die nette Großmutter, die einen alten Webley in ihre zierliche Handtasche gezwängt hatte, um den erstbesten Tierquäler über den Haufen zu pusten. Aber Emma interessierte sich nicht für Haustiere, sondern für Mord.
Es war später Nachmittag, die Sonne fing gerade an, sich vom trostlosen Anblick des Totenreichs abzuwenden, und ich war in Gedanken begriffen, den Laden für heute dicht zu machen, als es an der Tür klopfte. So zaghaft, dass ich lieber selbst nachsah, ob nicht jemand dabei war, auf der Schwelle zu sterben. Stattdessen stand dort die alte Dame, ein trauriges Lächeln auf den Lippen, mit einer Stimme, die zahlreiche Enkel in den Schlaf gesungen haben musste. „Sind Sie der Detektiv?"
„So steht es zumindest an der Tür. Kommen Sie rein." Ich trat zurück und machte eine einladende Handbewegung.
„Es ist hoffentlich noch nicht zu spät? Ich habe versucht, Sie anzurufen, aber der Anschluss war nicht zu erreichen. Und von Andrew’s Field hierher ist es eine lange Fahrt mit dem Bus." Sie nahm auf dem einsamen Kundenstuhl Platz.
Ich fischte den Hörer vom Telefon und lauschte. Nichts. Störungen waren nichts Ungewöhnliches im Land der Toten. Telefon, Strom, Wasser, Aufzüge, … die Liste ließ sich beliebig fortsetzen. Vielleicht brachte es jemand beizeiten in Ordnung, vielleicht löste es sich von selbst, oder ich musste mir ein neues Büro suchen. Ich legte auf und setzte mich hinter den Schreibtisch. „Wie kann ich Ihnen denn helfen, Mrs. …?"
„Schiffl, aber sagen Sie Emma zu mir, alle sagen Emma."
„Emma …"
„Ich bin wegen dem Clauberg-Mädchen hier, meiner Nachbarin. So ein liebes Ding, immer freundlich, herzensgut. Dass ihr so etwas Schreckliches passieren konnte …"
„Hat Ihre Nachbarin Ärger?"
Emma sah mich mit großen Augen an: „Sie ist tot."
„Sie meinen toter als tot?"
„Ja, natürlich."
„Das tut mir leid."
„Sie ist ermordet worden!"
Die Sache begann interessant zu werden. Einen Toten umzubringen, war nicht unbedingt einfach. Die Seelen der Leute hier waren zäh und klammerten sich an ihren kleinen Ektoplasmakörper. Man konnte sie erstechen, erschießen, in die Luft jagen – einige Zeit später saßen sie wieder im Sattel. Um jemanden wirklich in die Verdammnis zu schicken, brauchte es Kreativität oder die entsprechende Waffe. „Was ist passiert?"
„Ich weiß es nicht genau. Vor zwei Tagen … Ich kam von meinem täglichen Spaziergang zurück, er dauert so etwa zwei Stunden, und da war sie tot. Die Polizei war in ihrer Wohnung. Als ich fragte, was los sei, versuchte man mich abzuwimmeln, aber ich blieb hartnäckig. Sie nickte entschlossen. „Wenn solche Sachen sind, muss man das doch wissen! Und Jill, also Ms. Clauberg, war die Letzte, der so etwas passieren sollte.
Emma weinte nicht, das war für eine Tote nicht ungewöhnlich. Aber dennoch spürte ich, wie sehr sie der Verlust mitnahm. „Wir waren vielleicht keine Freunde, eher wie eine entfernte Oma und ihre Enkelin. Sie half mir ein wenig bei allem und brachte Zeit für Spaziergänge oder eine kleine Tratscherei auf. Jemand wie Jill hätte man zu Lebzeiten gerne als Tochter gehabt."
„Nicht jeder, wie es scheint. Wie lange kannten Sie das Clauberg-Mädchen schon, Emma?"
„Ich weiß nicht genau, vielleicht vier oder fünf Jahre, sie war damals noch nicht lange tot. Ein Autounfall."
Wie die alte Dame abgetreten war, konnte ich auf den ersten Blick nicht sagen. Vermutlich friedlich entschlummert. „Hatte Jill irgendwelche Feinde?"
„Niemanden. Wie auch? Sie ist … war ein so herzensguter Mensch. Ihre Lider flatterten. „Sie müssen herausfinden, wer das getan hat und warum! Ich habe das Gefühl, dass ihre Seele erst dann Ruhe finden kann.
Wegen der Clauberg-Seele konnte man sich durchaus Sorgen machen. Niemand wusste, was mit einem Toten geschah, der noch einmal starb. Er schlugen weder bei den Jungs und Mädels mit Schwefel-, noch bei denen mit Fliederduftwässerchen auf. Er war einfach weg. Ein paar kluge Köpfe sinnierten darüber, dass es die Unglücklichen in die Leere verschlug. Einen Ort für diejenigen, die weder lebendig, noch tot, noch auf der Durchreise waren. Ein Ort, in dem es entsprechend nichts gab. Nur Leere. Bisher gab es allerdings niemanden, der von dort zurückgekommen war. Das Gerede der klugen Köpfe konnte also bloßes Gerede sein. Allerdings zweifelte ich daran, dass es Jill noch viel half, wenn ihr Mörder überführt wurde. Aber, was wusste ich schon? Zumindest würde es Emma helfen. Viel anderes gab es zurzeit ohnehin nicht zu tun. „Ich sage Ihnen was, Emma: Ich fahre Sie zurück nach Andrew’s Field und schaue mir die Sache mal an - stelle ein paar Fragen, stochere etwas herum. Wenn es irgendetwas gibt, an dem ich ansetzen kann, werde ich das tun."
Sie war erleichtert, in ihrem faltigen Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. „Jill hätte Sie bestimmt gemocht, Mr. Cross."
Ich griff nach Hut und Mantel. „Kommen Sie, Emma. Mein Wagen steht in der Garage."
Wir fuhren über das West End, dann vorbei am Corpse Land-Vergnügungspark und direkt ins Bone County. Der Stadtmoloch wich Industrieanlagen und vereinsamten Vororten, deren vorherrschende Farben Grau und Braun waren. Viele der Gebäude befanden sich in einem desolaten Zustand, nur selten kämpfte ein Bewohner gegen den allgegenwärtigen Zerfall an. Bald darauf verabschiedeten sich auch die letzten Häuser und wir waren allein mit dem Asphaltband und den Knochenfeldern dort draußen. Man konnte sie von der Straße aus schimmern sehen. Die Erde hier war von einem schmutzigen Rot, die Landschaft wirkte an vielen Stellen wie aufgerissen und dort lagen die Knochen. Unmengen menschlicher Überreste, die in der Erde leuchteten. Saubere, fahlweiße Gebeine. Eine Fundgrube für jeden Anthropologen, nur machte sich hier draußen niemand etwas daraus.
„Was können Sie mir noch über Jill erzählen, Emma?"
Sie saß klein und vorne übergebeugt neben mir und starrte aus dem Seitenfenster. „Nicht viel, um ehrlich zu sein. Sie hat kaum etwas von sich mitgeteilt, weder über ihr Leben, noch über den Unfall. Ich habe sie einige Male darauf angesprochen, aber sie hat das Thema immer wieder gewechselt. Manche sind wie sie und wollen nie mehr an ihren Tod erinnert werden."
„Über was haben Sie beide gesprochen?"
„Viel über mich, meine Vergangenheit. Jill hat die Geschichten aus meiner Jugend geliebt. Ich war ein ganz schöner Feger, müssen Sie wissen. Ansonsten war es nur nette Tratscherei – Wetter, Nachbarn, Stadtgeschehen."
„Und in letzter Zeit? War sie irgendwie anders? Nervös oder bedrückt?"
Die alte Dame überlegte einige Zeit, ehe sie antwortete. Uns kam ein klappriger Lastwagen entgegen, auf dessen Seitenwand ein stilisierter Löwe mit Flügeln prangte, dann gehörte die Landstraße wieder uns. „Jetzt, wo Sie fragen – ja, Jill schien abwesend. Manchmal hörte sie gar nicht zu, was für sie untypisch war."
„Können Sie eingrenzen, seit wann Jill sich so verhielt?"
„Ungefähr eine Woche, bevor sie … bevor die schreckliche Sache passierte. Meinen Sie, dass da ein Zusammenhang besteht?"
„Noch zu früh, um irgendetwas zu meinen. Ich versuche nur, mir ein Bild zu machen. Wie sah Jill aus?"
„Ein hübsches Mädchen. Schlank, mit brünettem Haar, halblang. Beim Unfall hatte sie sich die Hüfte gebrochen, deshalb hinkte sie."
Hinter dem nächsten Hügel tauchte Andrew’s Field vor uns auf. Eine kleine, altmodische Stadt, durchzogen von Friedhöfen, die das Knochenland ablösten. Die Rasenflächen erinnerten an Parks, nur, dass es statt der Bäume weiße, zerbröckelnde Grabsteine waren. Wir nahmen eine der zwei Hauptstraßen, die sich im Zentrum kreuzten. Der Verkehr war mäßig, der ganze Ort erweckte den Anschein, als wollte niemand das Gedenken an die Toten stören. Emma lotste mich an einer verschlafenen Einkaufsstraße vorbei in den östlichen Teil der Stadt. Hier standen heruntergekommene Mehrfamilienhäuer aus angelaufenem Backstein um eine hässliche Betonkirche herum, deren Architekt hoffentlich in der Hölle schmorte.
„Das Haus da vorne ist es." Die alte Dame ließ mich auf einem mit Müll überzogenem Parkplatz halten und wir gingen die letzten Meter zu Fuß. Die Nummer 17 unterschied sich kaum von den Nachbargebäuden, es gab zwei Stufen zum Haupteingang hinauf, eingefasst von einem bröckeligen Mäuerchen, an der linken Seite eine Feuertreppe bis hinauf in den sechsten Stock. Die Bewohner des siebten und letzten hatten im Ernstfall Pech gehabt. Für die jetzigen Bewohner spielte es keine Rolle mehr,