Ein zweites Leben: Krimi aus dem Totenreich 6
Von Myron Bünnagel
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Buchvorschau
Ein zweites Leben - Myron Bünnagel
1
Ich hörte die Explosion noch vier Straßen weiter, auf dem Weg zum Büro. Sie ließ die Scheiben der Schaufenster klirren und brachte den Verkehr beinahe augenblicklich zum Erliegen. Die Leute reckten die Hälse, kamen aus den Geschäften oder rissen die Fenster ihrer Wohnungen auf. Ihre Neugier wurde mit einer dunklen Rauchwolke belohnt, ölig und schwarz, die langsam in den grauen Vormittagshimmel aufstieg.
Ihren Ursprung musste sie irgendwo in den Anfängen des Ascension Drive haben, vielleicht in der Nähe der Stadtverwaltung. Das heulen der Sirenen überlagerte das aufgeregte Raunen um mich herum, hinter mir begannen die Fahrer bereits ungehalten zu hupen. Aber es dauerte, ehe der Verkehr wieder anrollte. Ich übte mich in Geduld und sah der Rauchwolke zu, wie sie langsam ausdünnte, in schwarze Stränge zerfaserten. Sah ziemlich bedrohlich aus und ich grübelte darüber nach, was die Explosion ausgelöst haben konnte, als ich zum Büro weiterfuhr. Feuer und Rauch waren in der Stadt der Toten nicht ungewöhnlich. Ihre Bausubstanz war marode, nicht wenige Gebäude waren in der Lebendwelt abgebrannt, eingestürzt oder abgerissen worden. Zumindest letzteres ohne ihre Bewohner. Aber das sah nicht wie einer der üblichen Zwischenfälle aus, in denen ein Haus ausbrannte oder zusammenbrach. Der ölige Rauch löste sich nur widerwillig auf, hing immer noch im tristen Himmel, als ich meinen Wagen ins Parkhaus lenkte. Der Edsel lief gut, aber ich vermisste den Packard, den ich bei einer Verfolgungsjagd eine Klippe hinunter gelenkt hatte. Zudem klemmte bei meinem neuen Wagen das Verdeck, aber ich war ohnehin nicht der Typ für offene Spazierfahrten.
Bis zum Büro war es nur die Straße runter, unterwegs holte ich mir eine Zeitung vom letzten Monat und zwei Kaffee, die nach diesem Alter schmeckten. Die Ausgabe war so alt, weil Dinge aus der Welt der Lebenden mit leichtem Verzug im Totenreich auftauchten. Der Kaffee schmeckte so, weil hier drüben nichts Geschmack hatte, sondern tot war. Ebenso tot waren die Bewohner. Leute, die nach ihrem Ableben in den schimmernden Zug ins Jenseits gestiegen waren. Ein silberglänzendes, dampfspeiendes Ungetüm, das durch den Mahlstrom schnaufte, der zwischen Leben und Tod lag. Doch diese gequälten Seelen fuhren nicht in den Himmel hinauf, oder in die Hölle. Nein, sie wurden am Bahnhof der Stadt aus ihrer Schockstarre gescheucht und ohne Handgepäck ins Totenreich entlassen. Da standen sie, verwirrt und verängstigt. Gerade noch den süßen Atem des Lebens von sich gebend, nun abrupt davon fortgerissen und in eine Welt aus dauerndem Zerfall und Hoffnungslosigkeit gestoßen. Status: neuer Bewohner des Totenreichs. Grund des Aufenthalts: Begleichen, was immer sie daran hinderte, mit dem Zug weiter in Richtung Erlösung fahren zu können. Ob die Erlösung letztlich Himmel, Hölle oder sonst eine metaphysische Existenzebene war. Dauer des Aufenthalts: Vielleicht bis in alle Ewigkeit. Geisteszustand: Kurz vor Durchdrehen. Während sich hinter ihnen das metallische Ungeheuer schnaubend und heulend entfernte, konnten sie ihre verbliebenden Sinne zusammenraffen und zusehen, wie sie zurechtkamen. Nicht, dass man sie gänzlich mit ihrer Misere alleingelassen hätte. Da gab es das Amt der Seelen, das dem Neuankömmling mit ein bisschen Bürokratie bei den ersten Schritten im Jenseits half. Oder das Büro der Erleuchtung, das sich die besten Kandidaten unter den Neuen aussuchte, um sie zur himmlischen Erlösung zu führen. Während die Damen und Herren vom Neunten Kreis genau jene Kandidaten davon zu überzeugen suchten, den Weg ins Fegefeuer anzutreten. Also eine ganze Menge Spaß, während man versuchte, sein Ableben zu verkraften. Manch einer blieb nicht sehr lange, brachte in seinem Seelenleben in Ordnung, was ihn an der Erlösung gehindert hatte, bekam sein Ticket und dampfte ab. Andere brauchte ewig, um endlich von hier wegzukommen. Einigen von ihnen half ich, so gut ich konnte. Die Restlichen richteten sich ein und taten, was sie auch schon in der Lebendwelt getan hatten. Solange, bis es ihnen unerträglich wurde oder sie doch noch auf den Trichter kamen. Nur ein paar, wie ich, bemühten sich, weder Himmel, noch Hölle zu nahe zu kommen.
Der Aufzug streikte schon wieder und ich hatte es aufgegeben, mich bei der Hausverwaltung zu beschweren. Dafür hatte jemand im Hausflur nicht gerade mit Reinigungsmittel gespart, ohne einen nennenswerten Erfolg zu erzielen, außer die Luft zu verpesten. Ich stieß die Bürotür auf, um dem Gestank zu entgehen. „Abbie, ich befürchte, der Hausmeister hat die Mieter nebenan in Reiniger aufgelöst, weil sie sich zu oft über den defekten Aufzug beklagt haben."
„Ich glaube eher, dass er uns ausräuchern möchte, weil wir uns zu häufig beschweren." Sie saß hinter ihrem Schreibtisch und sortierte Akten. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich im Lauf der Jahre so viel Papierkram angesammelt hatte. Abbie, eine rothaarige, schnippische Person mit irischen Wurzeln, arbeitete seit ein paar Monaten für mich. Vorher hatte sie für einen meiner Konkurrenten im Vorzimmer gesessen – einem unsympathischen Kerl namens Brunner, der den Rest seiner Tage die Wand in einer Irrenanstalt anstarrte. Statt sich einen völlig neuen Job zu suchen und über Brunner hinwegzukommen, hatte sie sich entschlossen, sich meiner charmanten Art als Arbeitgeber auszusetzen.
„Hier, dein Kaffee. Ich habe dir gesagt, wir sollten warten, bis der Kerl zur Hölle gefahren ist und jemand anderes den Fahrstuhl repariert, früher oder später müssen sie dieses Scheusal einfach abholen." Enar, der Hausmeister, war ein schweigsamer, dürrer Zwei-Meter-Mann, vermutlich Skandinavier, mit einer Laune, die auch die Höllenfeuer hätte gefrieren können. Er war nie mit dem beschäftigt, um das er gebeten worden war, dafür aber immer beschäftigt. Vermutlich plante er Morde oder mauerte Leichen ins Fundament ein.
„Vorher wird dieser verfluchte Schwede noch den Aufzug in Ordnung bringen. So wahr mir Gott helfe! In ihren grünen Augen blitzte es gefährlich. „Da wartet übrigens ein Kunde auf dich.
Er saß tatsächlich völlig reglos in der Besucherecke, gerade mal auf der Kante des Sessels, um sich die hellgraue Hose nicht besudeln. Ich war nicht besonders erfreut, ihn zu sehen. „Jules Bradford. Das ist … eine Überraschung. Du bist wohl