Unheimliche Erzählungen
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Über dieses E-Book
Richard Oliver Schulz
Richard Oliver Schulz, Jahrgang 1959, studierte Psychologie, Philosophie und Humanmedizin, bevor er an verschiedenen Kliniken in Bayern eine Facharztausbildung in Psychiatrie und Psychotherapie absolvierte. Unheimliche Erzählungen ist seine zwölfte Buchveröffentlichung.
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Buchvorschau
Unheimliche Erzählungen - Richard Oliver Schulz
Exekution
Aus dem Höllentagebuch des Dr. Schomol
Mein Name ist Dr. Schomol. Ich bin Psychiater.
Ich war beauftragt, ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche zu inspizieren, das von einer Nonne geleitet wurde. Bereits bei der ersten Begehung fielen mir ihre sonderbaren Erziehungsmethoden auf. Die Nonne pflegte die tobenden Kinder dadurch zu strafen, dass sie sie in eben der Stellung einzugipsen pflegte, in der sie sie beim Herumtoben angetroffen hatte. So schienen die Zimmer, die ich betrat, mit seltsamen Gipsfiguren ausgestattet zu sein, meist auf einem Bein stehend, mit erhobenen Armen und weit aufgerissenem Mund. Beim Betreten des ersten Raumes wähnte ich mich zunächst in einer Kunstausstellung, aber auf meine Frage nach dem Künstler, der dies geschaffen hätte, klärte mich die Nonne über meinen Irrtum auf und fügte gleichmütig hinzu, dass die Kinder in ihren Gipskokons mehrere Stunden auszuharren hätten. Ich begann die Nonne hierauf scharf zu kritisieren und schlug dabei einen fast schreienden Ton an. Die ganz in Schwarz gekleidete Dame, solche Kritik offenbar nicht gewohnt und erstmals mit einem Mann konfrontiert, der ihre Erziehungsmethoden in Zweifel zog, hob ihre dicke Bibel und fing bitterlich zu klagen an. »Zwanzig Jahre arbeite ich jetzt schon hier! Zwanzig Jahre, und noch nie hat einer das zu mir gesagt!«
Sie geriet so recht in Rage, brüllte lauthals heraus und wiederholte immer wieder: »Zwanzig Jahre!« Dann aber lief sie, ihre Bibel schwenkend, heulend aus dem Zimmer. Ich blickte ihr ungläubig nach. Bei einem gotischen Fenster machte sie Halt, schmetterte in äußerster Erregung ihre Bibel durch die Glasscheibe – und stürzte sich selbst hinterher. Die Nonne konnte nur noch tot geborgen werden.
Natürlich wurde der Fall sofort publik, und ich machte als Nonnenmörder Schlagzeilen. »Ungläubiger Arzt treibt Nonne in den Tod«, hieß es bei Bild. Da ich namentlich erwähnt wurde, war meine Entlassung vorprogrammiert. Natürlich wurden die Missstände in diesem Heim von mir aufgedeckt, natürlich wurden die Kinder aus ihrem Gips befreit, aber danach fragte keiner. Undank ist der Welt Lohn. Freilich hatte meine Entlassung noch einen anderen Grund, von dem ich in Bälde erfuhr.
Eine geheime Regierungsabteilung suchte nach Spitzenagenten für besondere Aufträge, ebenso gelehrt wie arbeitslos, und mit mir glaubten sie einen besonderen Fang gemacht zu haben. Ärzte waren für den Job begehrt, besonders aber Psychiater. Ich musste einwilligen, denn man stellte mich vor die Wahl: Entweder noch mehr Schlagzeilen und am Ende ein ruinierter Ruf, was gleichbedeutend wäre mit der lebenslänglichen Verurteilung zu einem Dasein als deutsche Sozialleiche – oder doppeltes Gehalt wie an der Klinik.
Mein erster Auftrag war eine mysteriöse Teufelssekte. Ein Kollege führte mich dort ein. Wir hatten gefälschte Papiere und gaben uns als Mitglieder aus. Der Kollege machte mich auf die oberste Direktive aufmerksam, nach der wir nicht auffallen durften und jegliche Einmischung in die Angelegenheiten und Rituale der Sekte verboten war. Der Hauptsitz der Sekte war ein imposanter Palast im Zentrum der Stadt. Dort fand an diesem Abend eine Generalversammlung der Sektenmitglieder statt, die als Faschingsball getarnt war. Auch mein Kollege und ich hatten uns – sehr diskret – verkleidet. Es standen überall gedeckte Tische mit Tellern und Tassen, in denen sich Messer und Gabeln befanden. Der große Vorplatz des Gebäudes wimmelte von Menschen. Wie ich erfuhr, sollte heute Abend zu Ehren des obersten Teufels ein Kind geopfert werden. Die Sektenführerin Zagreba, eine schlanke, schwarzhaarige Teufelshexe, hatte das Opfer bestimmt: einen blonden sechsjährigen Jungen. Flüsternd machte ich meinen Kollegen darauf aufmerksam, dass man so etwas doch nicht zulassen könne, aber dieser verwies mich auf die oberste Direktive.
»Wir dürfen uns nicht einmischen«, flüsterte er zurück. »Mensch, begreifen Sie doch endlich, das ist kein harmloser Job wie Ihre Ambulanztätigkeit. Der Job ist in höchstem Grade lebensgefährlich! Was glauben Sie denn, was passiert, wenn diese Leute herausfinden, wer wir sind? Wenn wir tot sind, nützt das außerdem keinem. Dann werden wir die Sekte nicht auffliegen lassen können!«
»Aber wir müssen doch etwas dagegen unternehmen…«
»Mensch, schweigen Sie und passen Sie sich an. Nur kein Aufsehen erregen. Folgen Sie meinem Beispiel.«
Der Junge, der geopfert werden sollte, stand mitten unter der Menschenmenge auf dem großen, freien Platz vor dem Palast. Draußen war es schon dunkel. Seine Mutter führte ihn herein. Ein Bediensteter in weißem Hemd und rotem Anzug, wie ein Kellner gekleidet, nahm ihn in Empfang. Der Junge leistete keinen Widerstand, geduldig wie ein Lamm ließ er sich zur Schlachtbank führen. Der Kellner geleitete ihn auf die Terrasse hinaus. Wir folgten ihm unauffällig. Mein Kollege wäre ihm aus freien Stücken nicht gefolgt, aber da ich voranschlich, ging er mir hinterher, um zu sehen, was ich treibe. Die Terrasse grenzte an einen See. Dort sollte die Opferung vorgenommen werden. Der Kellner nahm vom Tisch ein großes Schlachtermesser. In diesem Moment hatte ich ein echtes Déjà-vu-Erlebnis. Ich sah die ganze Szene vor meinem geistigen Auge, als wäre sie schon einmal geschehen. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte. Schnell nahm ich ein langes Messer aus einer der Tassen, die auf dem Tisch standen, trat seitlich auf den Kellner zu und stieß es ihm tief unter den rechten Rippenbogen, genau in den Leberlappen. »Mein Gott!«, stieß der Mann hervor, und das wunderte mich. Waren doch diese Satanisten gar nicht gottgläubig. »Mein Teufel« wäre hier wohl passender gewesen. Aber ich ließ es auf sich beruhen, fasste den zusammensinkenden Mann am Arm und warf ihn in den See. Ich hatte kein schlechtes Gewissen dabei. Im Gegenteil: Wenn ein Teufelsknecht in seiner Todessekunde als letzte Worte: »Mein Gott!« ausstößt, dann hatte ich ihn also bekehrt!
Der Kollege hatte sprachlos zugesehen, aber er konnte nichts machen. Schreien wäre sein eigenes Todesurteil gewesen. Ich hörte ihn nur »Verdammte Scheiße, wenn das mal gut geht« murmeln. Der Kellner schwamm jetzt im See. Vielleicht würde er später entdeckt. Aber heute Abend bei der Dunkelheit war das unwahrscheinlich.
Dann kümmerte ich mich um das völlig verängstigte Kind. Ich sagte ihm, es solle sich unauffällig davonstehlen und draußen an einem sicheren Ort auf mich warten. Ich würde ihm dann helfen zu entkommen.
Mit einem Gefühl der tiefen Befriedigung marschierte ich durch die Menschenmenge. Auf den an den Wänden aufgehängten Videoschirmen war die Sektenführerin Zagreba zu bestaunen. Die schlanke, dunkelhaarige Frau hielt eine Rede, die in alle Säle des Palastes übertragen wurde. »Schwestern und Brüder«, rief sie mit kehliger Stimme, »die Zeit ist gekommen, da wir Rache nehmen werden an den Propheten des Christus, Rache an Jesus Christus. Die heidnischen Götter sind wieder im Kommen, und sie werden Rache nehmen an allen, die sich zu Jesus Christus bekennen, und werden die Welt verwandeln. Die Welt wird geschwängert werden mit neuen Opfern. Schwester und Brüder, erkennt eure große Berufung, Vorreiter der Rache zu sein. Ich selbst werde den alten Göttern zu ihrem Recht verhelfen.«
Wie ich sah, stand die Teufelshexe vor einem gotisch geformten Fenster, das sich in einem der oberen Stockwerke befinden musste.
Auf meinem Streifzug entdeckte ich sie endlich. Sie saß inzwischen meditierend auf der Fensterbank des gotischen Fensters und hatte mir den Rücken zugekehrt. Ich hatte nicht übel Lust, die Gelegenheit beim Schopf zu fassen und dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Ich machte mich also an sie heran, tat so, als ginge ich zufällig an ihr vorbei, und in einem unbeobachteten Augenblick versetzte ich ihr einen gezielten Stoß zwischen die Rippen. Der Hieb hatte gesessen. Die Teufelshexe taumelte und glitt mit einem erstickten Schrei über das Geländer des offenen Fensters. Doch sie war noch nicht bereit zum Sterben. Krampfhaft keilte sie sich mit den nackten Füßen am Geländer fest. Zum Schreien war sie zu stolz, das hätte ihren Ruf ruiniert. Sie stöhnte nur leise. Ich sah, dass ich nachhelfen musste. Mit beiden Händen hob ich ihre Füße ein wenig an, befreite sie vom Geländer – und ließ sie fallen. Kopfüber stürzte die Zauberin etwa sechs Meter tief auf betonierten Boden. Sie war noch nicht völlig tot. Noch einmal hob sie ihren Kopf, der nicht einmal eine Platzwunde aufwies, und versuchte stöhnend aufzustehen. Dies gelang ihr aber nicht mehr. Sie verfiel in konvulsive Zuckungen. Und dies war dann das Ende.
Zufrieden mit meinem Werk wandte ich mich endlich ab. Aber da begann sich der Saal, in dem ich mich befand, schon mit maskierten Sektenmitgliedern zu füllen. Meine Tat konnte nicht unentdeckt bleiben, und – kein Zweifel – es musste offenbar werden, dass ich der Täter war. Mit verzweifelter Miene wandte ich mich an zwei Maskierte, die mich fragend anblickten: »Ein schreckliches Unglück… ich kam gerade zufällig vorbei… unsere Führerin…« Auf den Lippen der beiden Herren malte sich ein Lächeln, als sie hinaus auf den beleuchteten Vorplatz blickten.
»Mein Herr, Sie sind ein Glückspilz«, sagte der eine von ihnen.
»Wie… wie soll ich das verstehen?«, stammelte ich.
»Sie haben den ersten Preis gewonnen – fünfhunderttausend Euro!«
»Bitte?«
»Wissen Sie nicht? Auf den Tod Zagrebas ist ein Preis gesetzt. Sie selbst hat ihn bestimmt. Wer die Führerin sterben sieht oder ihren Tod verursacht, kriegt fünfhunderttausend Euro. Das hat sie nämlich gewettet – weil sie sich selber für unsterblich hielt.«
»Aber ist das nicht trotzdem schrecklich?«, fragte ich unsicher.
»I wo, der Teufel hat sie geholt. Das ist das größte Glück für einen Satanisten.«
Von allen Umstehenden wurde ich beklatscht. Die Nachricht von meinem Glück verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und durch die Säle rauschten Wogen von Beifallsrufen. Manche wollten von mir wissen, ob ich Zagreba selber getötet hätte, was ich beharrlich verneinte, sie aber glaubten mir nicht und bewunderten meinen Todesmut. Sie hätten vor den Zauberkräften ihrer Führerin zu großen Respekt gehabt. Ob ich denn die Position der Führerin Zagreba übernehmen und sie zum Heil der alten Götter führen wolle, die Rache an Jesus Christus vollendend?
Ich lehnte dankend ab.
Dann führte man mich in die Verwaltungsabteilung, und mir wurde ein Scheck von fünfhunderttausend Euro ausgehändigt. Man sagte mir auch, ich könne mich ruhig noch einmal in allen Räumen umsehen und mitnehmen, was mir gefalle. Das sei in der Belohnung inbegriffen. Bald würde die große Zauberin wieder auferstehen, alle ihre Feinde vernichten und die Herrschaft über die Welt übernehmen. Sie dankten mir dafür, dass ich das Werk vollendet hätte, das zur Auferstehung und Weltherrschaft der großen Zauberin führen solle. Erneut trug man mir an, ob ich denn nicht bis dahin die Führerschaft und Organisation der Sekte übernehmen wolle. Neue Menschenopfer müssten bestimmt werden, und das könne nur eine starke Persönlichkeit wie ich. Wieder lehnte ich dankend ab.
Bevor ich ging, inspizierte ich noch einmal sämtliche Räume des Gebäudes, die noch unbesucht waren. Hier fand ich verschiedene Menschenschädel. Einige stammten von Vormenschen. Den meisten hatte man durch eine Säure den Kalk entzogen und sie ganz weich gemacht, sodass ich sie leicht zusammenfalten und in eine Plastiktüte stecken konnte. Als Mediziner freut man sich natürlich über Totenschädel, ich hatte eine rege Vorliebe dafür, und so sammelte ich, was ich kriegen konnte.
Froh, mit dem Leben davongekommen zu sein, holte ich den Jungen ab und nahm ein Taxi. Den Jungen lieferte ich am nächsten Polizeirevier ab, wobei ich mich als Geheimagent 667 auswies und der Polizei den Auftrag erteilte, ihn in Sicherheit zu bringen, bis die Sekte aufgelöst und ihre Mitglieder in Gewahrsam genommen seien. Auch gab ich sämtliche Informationen zur Sekte, die die Polizei benötigte. »Ich bitte um Vorsicht«, fügte ich hinzu, »diese Leute sind komplett verrückt und völlig unberechenbar.«
Meine Schädelsammlung behielt