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Gute Welt, böse Welt: Monster
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eBook471 Seiten5 Stunden

Gute Welt, böse Welt: Monster

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Über dieses E-Book

Es ist ein sehr unglücklicher Umstand unter dem sich Psychotherapeutin Dr. Rebecca Brandt und Kriminaloberkommissar Leon Zimmermann begegnen.
Nach dem tragischen Verlust ihres Verlobten führt Rebecca ein sehr zurückgezogenes Leben. Sie hofft, dass sie so böse Überraschungen von sich fernhalten kann. Aber selbst in einer Kleinstadt ist das kaum möglich. Manche ihrer Patienten führen alles andere als ein beschauliches, ruhiges Leben. Eines Tages erbt sie völlig unerwartet ein Haus, das ihr Leben verändern wird.
Seit sein Zwillingsbruder vor fünf Jahren spurlos verschwand, ist die Suche nach ihm zu Leons Obsession geworden. Das Finden seines Bruders ist alles was für ihn zählt, deswegen verließ ihn letztendlich auch seine Freundin. Als Leon Rebecca kennenlernt, stellt er sein Singleleben in Frage. Doch zu einem Treffen mit ihr kommt es nicht, denn Rebecca verschwindet plötzlich ebenso spurlos wie einst sein Bruder.
Rebecca findet sich in einer Welt voller Monster wieder und es ist nicht nur ihr Verstand, der in Gefahr ist.
Leon ahnt nicht, dass Rebecca der Schlüssel zu all seinen Fragen ist und wie nahe er einer Welt ist, in der längst von der Erde verschwundene Kreaturen leben.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum20. Feb. 2019
ISBN9783748513667
Gute Welt, böse Welt: Monster

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    Buchvorschau

    Gute Welt, böse Welt - Andie Cloutier

    Gute Welt, Böse Welt

    Prolog

    1.Kapitel

    2.Kapitel

    3.Kapitel

    4.Kapitel

    5.Kapitel

    6.Kapitel

    7.Kapitel

    8.Kapitel

    9.Kapitel

    10.Kapitel

    11.Kapitel

    12.Kapitel

    13.Kapitel

    14.Kapitel

    15.Kapitel

    16.Kapitel

    17.Kapitel

    18.Kapitel

    19.Kapitel

    20.Kapitel

    21.Kapitel

    22.Kapitel

    Epilog

    Nachwort

    Impressum

    Prolog

    Die kleine Marmorstatue stand mit hoch erhobenem Haupt auf einem Sideboard. Das Chiton reichte ihr bis zu den Sandalen, aus denen ihre Miniaturzehen heraus blitzten. In der rechten Hand hielt sie eine Lanze, die Finger ihrer linken Hand schlossen sich fest um ein Schild. Ihren Kopf zierte ein Helm aus dessen Mitte sich eine Sphinx erhob. Stolz überblickte die knapp 30 Zentimeter große Statue den hell erleuchteten Hausflur. Ihre winzigen Augen schienen die Eingangstür geradezu zu fixieren. Die Stille des Flures wurde jäh von schweren Atemzügen unterbrochen. Nur zögernd ließ eine Hand von dem dunklen Holz eines Türrahmens ab. Mit kraftlosem Schritt stolperte ein Mann in den Flur. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, unschlüssig darüber, ob sie bereits schwer genug waren, um der Erdanziehung nachzugeben oder ob sie sich noch etwas weiter sammeln sollten. Panisch schauten die Augen des Mannes zurück. Gehetzt wollten sie wissen, wie dicht der Verfolger ihm auf den Fersen war. Die Glühbirnen der alten Messingwandlampen weckten die goldenen Rocaille-Motive an der cremeweißen Wand förmlich zum Leben. Sie schlängelten sich zu einem bizarren Tanz im Takt seines Herzens. Seine linke Hand fasste sich an den plötzlich schmerzenden Brustkorb. Sein Atem ging schnell und flach. Der Druck auf seiner Brust machte ein tiefes Durchatmen unmöglich. Nach Halt suchend, stützte sich seine rechte Hand auf den rötlich gemaserten Marmor der Anrichte des Sideboards. Erneut sah er hinter sich. Kam es näher? Ja, er konnte es hören. Dieses Geräusch, das in seine Nervenbahnen eindrang, sich durch seinen gesamten Körper bahnte und tief in sein Gehirn fraß. Vereinzelte Tropfen auf seiner Stirn waren zu einem Entschluss gekommen. Losgelöst von der kalten, nassen Haut stürzten sie dem Boden entgegen. Jeder Atemzug intensivierte den Schmerz in seiner Brust. Er konnte das nicht länger ertragen. Die ständige Furcht in ihm und nun diese furchtbaren Schmerzen in seiner Brust. Es war zu viel. Seine Hand glitt von dem glatten, kühlen Marmor und stieß gegen die kleine, stolze Statue. Die Geräusche verstummten endlich. Der Schmerz war nur noch eine kurze Erinnerung, als er zu Boden sank und alles Leben seinem Körper entwich. Die kleine Statue fiel von der Anrichte, vorbei an den Türen des aus Palisander mit Wurzelholzfurnier bestehenden Sideboards, auf den Boden. Die Wucht des Aufpralls ließ das Holz des Parketts zersplittern, als sich der Helm der griechischen Göttin Athene unweit des Mannes in das Parkett bohrte. Ein dunkler Schatten glitt über den leblosen Körper hinweg der Haustür entgegen. Bevor der Schatten die Tür erreichte, verschwand er plötzlich. Eine Staubwolke rieselte zu Boden. Wie von einem unsichtbaren Sauger angezogen, setzten sich die kleinen Körnchen in Bewegung bis sie durch eine offene Tür aus dem Blickfeld der kleinen Statue verschwanden.

    1.Kapitel

    In der dunklen Pfütze auf dem Asphalt spiegelte sich das rhythmische Aufleuchten eines orangefarbenen Warnlichts verschwommen wieder. Die stetig einprasselnden Regentropfen verhinderten ein klares Spiegelbild des Warnlichts der Ampelanlage. Ein alter, brauner Herrenstiefel landete inmitten der Pfütze, verdrängte das Wasser und ließ es zu allen Seiten aufspritzen. Im Schein der im Wind schwankenden Straßenlaterne war zu sehen, wie sich die Hose des Mannes fest an die Beine presste. Große, eisige Tropfen trafen auf einen grauen Parka. Die durchsickernde Nässe verfärbte ihn dunkelgrau, fast schwarz. Mit dem Gesicht tief unter der Kapuze verborgen eilte der Mann an diesem späten, unfreundlichen Herbstabend über eine verlassene Kreuzung. Ihm machten weder der Wind noch der Regen etwas aus. Das waren kleine Nichtigkeiten. Er war auf einer wichtigen Mission, musste einen einsamen Kampf gegen Ungerechtigkeit ausfechten. Der Gedanke daran spornte seinen Zorn an, erhitzte seinen Körper. Warum verdampfte der Regen nicht, sobald er ihn berührte? Das wunderte ihn zwar, hielt ihn jedoch nicht auf. Zielsicher öffnete er die unverschlossene Eingangstür eines mehrstöckigen Gebäudes. Er passierte den Aufzug ohne jegliches Interesse daran und stieß die Tür zum Treppenhaus auf. 

    Hinter einem Fenster, einige Stockwerke oberhalb der ungemütlichen Kreuzung, war es bedeutend freundlicher. Das regelmäßige Ticken der großen Standuhr bildete ein beruhigendes Hintergrundgeräusch in einem ansonsten stillen, fast menschenleeren Empfangsbereich. Gegenüber der Standuhr, die neben den Sesseln des Sitzbereichs thronte, befand sich die Anmeldung. Hinter der aus exquisitem, dunklem Holz bestehenden Theke fuhr eine kurzhaarige, brünette Frau einen Computer herunter. Während das leise Summen erlosch, drückte einer ihrer sorgfältig manikürten Finger eine Taste der Gegensprechanlage. „Rebecca, ich habe deinen Terminplan für morgen aktualisiert. Wenn du mich heute nicht mehr benötigst, mache ich jetzt Feierabend." 

    Eine weibliche Stimme erklang aus dem Lautsprecher der Anlage. „Vielen Dank, Natascha. Wir sehen uns morgen."

    Natascha stand auf und verschwand hinter der, in einem warmen Gelbton gestrichenen Wand, in einem Nebenraum. Ihr Finger lag bereits auf dem Schalter des Kaffeeautomaten. Sie sah auf ihre Armbanduhr und ließ den Automaten an. Aus einem schmalen Schrank einer Nische nahm sie ihren Mantel. Nachdem sie den Sitz ihrer perlweißen Bluse überprüft hatte, zog sie sich ihren Mantel über und holte ihre Handtasche aus dem Schrank.

    Der dicke Teppich verschluckte die Trittgeräusche ihrer Schuhe, als sie nun zur Tür schritt. Erst im Flur machten ihre Schuhe klick, klack, klick, klack, während sie in Richtung Fahrstuhl ging. Sie betätigte den Knopf und wartete auf die Ankunft des Lifts.

    Nach nur wenigen Augenblicken glitt die Tür auf und gab die Sicht auf zwei Männer in blauen Arbeitsanzügen frei. Mitsamt einem Putzwagen und einem Staubsauger verließen die beiden Männer den Aufzug. Ein batteriebetriebenes Radio stand ganz oben auf dem Putzwagen, übertrug live ein Fußballspiel und beendete die Ruhe auf dieser Etage.

    „So früh schon Feierabend, Natascha?" erkundigte sich einer der beiden Männer und lächelte sie schelmisch an.

    Sie erwiderte sein Lächeln. „Ja, Manny. Ausnahmsweise mache ich mal richtig früh Feierabend. Ich habe die Kaffeemaschine für euch angelassen."

    Manny umarmte sie spontan. „Du bist ein Engel. Ich wünsche dir einen wunderbaren Feierabend."

    „Den wünsche ich euch beiden auch." Sie betrat die Kabine, drückte die EG-Taste und schenkte den beiden ein letztes Lächeln, bevor sich die Kabinentür schloss.

    Natascha mochte die beiden. Sie trafen regelmäßig aufeinander, wenn Natascha Feierabend machte und die beiden Männer mit ihrer Arbeit auf dieser Etage begannen. Für Natascha war es mittlerweile ein Ritual den Kaffeevollautomaten anzulassen, damit sich die beiden mit einer Tasse Kaffee stärken konnten.

    Unnachgiebig drängte der Wind die Regentropfen gegen das Fenster. Sie barsten an der Scheibe, rannen in kleinen Sturzbächen hinab in die Tiefe. Schräg rechts hinter dem Fenster saß Dr. Rebecca Brandt an ihrem Schreibtisch und schaltete ihren PC aus. Sie dehnte ihren Hals langsam von einer Seite zur anderen. Ihre verspannten Muskeln sehnten sich nach einer Massage. Doch ein Blick auf ihre Armbanduhr bestätigte ihre Befürchtung: dafür war es heute zu spät. An diesem Abend bekam sie keinen Termin mehr. Ihre Muskeln mussten noch etwas länger mit der Verspannung zurechtkommen. Sie löste ihre zu einem Knoten gebundenen, dunklen Haare, die ihr umgehend bis weit über die Schultern fielen und starrte zu dem Fenster. Hinter ihr lag ein langer Tag. Es war jedes Jahr das Gleiche. Zu dieser Jahreszeit bekam sie regen Zulauf von Patienten mit Winterdepressionen. Was bei einem Herbsttief wie diesem nicht weiter verwunderlich war. Die Aussicht dort hinaus, in den vom Wind getriebenen regelrecht peitschenden Regen zu müssen, war wenig verlockend. Rebecca entglitt ein Seufzen. Etwas lenkte ihre Aufmerksamkeit zur Tür. Ein unerwarteter Gast hatte wortlos ihr Sprechzimmer betreten. Am Saum seines völlig durchnässten, grauen Parkas bildeten sich dicke Tropfen, die schwer zu Boden fielen.

    „Die Sprechzeiten sind heute leider vorbei. Vereinbaren Sie doch bitte morgen früh einen Termin", teilte Rebecca ihrem späten Gast mit.

    „Es ist Ihre Schuld!" fuhr der Mann sie an und zog seine rechte Hand aus der Tasche seines Parkas. Zum Vorschein kam eine Pistole, deren Mündung er jetzt auf Rebecca richtete. Mit der freien Hand schob er sich die Kapuze vom Kopf. Trotz ihres heftig schlagenden Herzens versuchte Rebecca ruhig zu bleiben und sich auf ihn zu konzentrieren. Er war von Leid gezeichnet, stellte sie fest. Die Haut um seine Augen und um seinen Mund hatte tiefe Furchen, wirkte regelrecht grau. Sein ungepflegtes Haar mochte einst dunkel gewesen sein, doch davon zeugten nur noch wenige Strähnen, die an der Masse an Grau herausstachen. Rebecca kannte den Mann nicht. Er war nicht ihr Patient. Ungeachtet der Pistole versuchte sie ganz ruhig sitzen zu bleiben und beobachtete ihn weiter. Es fiel ihr sehr schwer Ruhe zu bewahren. Alles in ihr wollte instinktiv fliehen und sich der Gefahr entziehen. Aber vielleicht schoss er, sobald sie versuchte zu fliehen. Sie hatte keine Wahl und musste ruhig bleiben. Auf keinen Fall durfte sie den Mann provozieren. Das könnte schlimme Folgen für sie haben. Sie durfte auch nicht in Panik geraten. Also blieb sie weiter sitzen und betrachtete den Mann. Er beschaffte sich mit Hilfe einer Waffe eine Dominanz, zu der er sonst wahrscheinlich nicht fähig war. Es wäre unklug, wenn nicht sogar fatal, diese momentane Dominanz zu ignorieren oder in Frage zu stellen. Aber ein zu defensives Verhalten erschien Rebecca auch nicht passend. Mit Geiselnahmen hatte sie keinerlei Erfahrungen.

    „Der Abschaum hat mein kleines Mädchen ermordet und Sie lassen ihn nach nur drei Jahren aus dem Gefängnis raus?" Speichel flog aus seinem Mund während er sprach, die Worte förmlich ausspie.

    Jetzt wusste Rebecca, wen sie vor sich hatte. Es musste Ulrich Pauly sein. Vor drei Jahren war Natalie Pauly, ein vierzehnjähriger Teenager von einem Auto angefahren und tödlich verletzt worden. Der Unfallverursacher hatte damals Fahrerflucht begangen. Es hatte sich herausgestellt, dass er zum Unfallzeitpunkt stark alkoholisiert war und keine Fahrerlaubnis besaß. Die hatte er bereits Monate zuvor wegen Trunkenheit am Steuer bei der Polizei abgeben müssen. Zum damaligen Zeitpunkt handelte es sich um einen unverbesserlichen Trinker und Autofahrer, der eine dreijährige Haftstrafe absitzen musste. In den letzten zwei Jahren hatte Rebecca einige Gespräche mit ihm geführt. Dem Mann setzte der von ihm verursachte Unfall und ganz besonders der Tod des Mädchens sehr zu.

    „Laut unserem Rechtssystem hat der Mann ausreichend für seine Tat gebüßt", versuchte sie Ulrich Pauly die Situation zu erklären. Sie ahnte, wie wenig sie ihn damit überzeugen konnte. Der Mann hatte schließlich seine Tochter verloren.

    Er verzog angewidert sein Gesicht. Die Furchen um seinen Mund vertieften sich zu Schluchten. „Meine kleine Natalie ist tot. Nicht bloß für drei Jahre Sie ist für immer tot. Wie können da drei Jahre Gefängnis gerecht sein?"

    Das konnte Rebecca ihm nicht beantworten. Sie machte die Gesetze nicht. Langsam stand sie auf, schob ihre Schultern zurück und richtete ihre Handflächen nach oben. Mit kleinen Schritten näherte sie sich Pauly. Der Mann war so aufgebracht, so wütend. Aber er war kein Mörder. Das konnte sie erkennen. Seine Hände zitterten, schienen das Gewicht der Pistole kaum halten zu können, obwohl er sie mittlerweile mit beiden Händen hielt. In seinen Augen fand sie keine Mordlust, nur Schmerz und Verzweiflung.

    „Bleiben Sie stehen!" schrie er sie an.

    Rebecca ignorierte den Befehl. Sie musste irgendwie zu ihm durchdringen. Ihn beruhigen und dazu bringen, die Waffe zu senken. Oder besser noch, sie ganz aus den Händen zu legen. „Lassen Sie uns in Ruhe darüber reden, Herr Pauly." Sie war in seiner Reichweite angekommen. Wenn sie ihren Arm etwas mehr streckte, konnte sie die Pistole berühren.

    „In aller Ruhe darüber reden?"

    Tropfen seines Speichels trafen ihr Gesicht. Sie widerstand dem Bedürfnis sich mit der Hand durch das Gesicht zu streichen, um die Tropfen wegzuwischen. Sie sah noch, wie er eine Hand von der Waffe löste und ausholte. Diese plötzliche Bewegung konnte sie nicht einordnen. Erst als sie seine Hand auf ihrer Wange aufschlagen spürte, realisierte sie was geschah. Die Wucht des Schlags war heftig. Rebecca taumelte zurück, stürzte zu Boden. Ein metallischer Geschmack erfüllte ihren Mund.

    Manny packte den Papierkorb und beförderte den Inhalt schwungvoll in einen großen, am Putzwagen befestigten Plastiksack. Frustriert verfolgte er die Berichterstattung des Fußballspiels im Radio. Für seine Lieblingsmannschaft lief es alles andere als gut. Er stellte den Korb wieder auf seinen Platz und warf einen Blick rüber zu seinem Kollegen und Nachbarn Till, der gerade einen Schreibtisch abwischte. Till hatte ihm diesen Job besorgt. Dafür war Manny ihm sehr dankbar, obwohl er den Reinigungsjob nicht wirklich mochte. Genau genommen verabscheute er diese Aufgabe sogar. Es war eine mühsame, anstrengende Arbeit, besonders wenn man vorher bereits neun Stunden lang in einer Fabrik geschuftet hatte. Aber Manny brauchte das Geld. Auch wenn aus dem angeblichen Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde tatsächlich nur vier Euro herauskamen. Der Eigentümer der Reinigungsfirma kannte die Schlupflöcher des Systems zur Genüge, um weiterhin beim Personal sparen zu können. Dennoch blieb Manny nichts anderes übrig, als für den Halsabschneider zu arbeiten. Erika, seine seit nunmehr fünfunddreißig Jahren geliebte Ehefrau, und wer schaffte es heutzutage noch so viele Jahre mit ein und demselben Partner zu verbringen, war krank. Die Zuzahlungen zu ihren Behandlungen und die benötigten Medikamente fraßen gewaltige Löcher in ihr ohnehin kleines Haushaltsbudget. Seit ihr Sohn vor Jahren eine Stelle als Lastwagenfahrer in Kanada angenommen hatte, waren er und Erika alleine. Mittlerweile war ihr einziges Kind verheiratet und sogar selbst Vater von zwei Kindern. Manny und Erika kannten ihre Schwiegertochter und ihre Enkel nur über das Internet. Kleine Kameras übertrugen ihre Gespräche live, so dass sie nicht nur miteinander sprechen, sondern sich auch gleichzeitig sehen konnten. Till hatte ihnen mit diesem technischen Kram geholfen. Er war in solchen Dingen versierter als Manny. Und so war es ihnen wenigstens möglich, ihren Sohn und seine Familie einmal in der Woche auf einem Bildschirm zu sehen. Leider reichte das Geld seit drei Monaten nicht mehr, um die Telefonrechnung zu bezahlen. Den Anbieter interessierte ihre Lebensumstände nicht. Ohne Rechnungsbegleichung kein Service, teilte ihm die Dame, mit der er von Tills Telefon ausgesprochen hatte, mit. Seitdem gingen Manny und Erika jeden Samstagabend hinüber zu Till, um dessen Computer zu benutzen. Manny war Till für viele Dinge dankbar. Er wusste nicht, was er ohne Till machen sollte. Till war ein wahrer Freund und mit Sicherheit der beste Nachbar überhaupt auf diesem Planeten. Dennoch musste endlich das Geld her, um die Telefonrechnung zu bezahlen, denn Erika fielen selbst die wenigen Schritte hinüber ins Nachbarhaus zunehmend schwerer. Manny schob den Putzwagen zurück auf den Gang. Bis zur nächsten Station, der Praxis von Dr. Brandt, waren es nur wenige Meter. Manny freute sich schon auf eine Tasse heißen Kaffee. Natascha, die Sprechstundenhilfe von Dr. Brandt, war ein wahrer Engel. Sie ließ die Kaffeemaschine extra für ihn und Till an.

    „Tor! Tor! Tor!" rief Till hinter ihm enthusiastisch.

    Manny teilte Tills Enthusiasmus nur bedingt. Ihre Mannschaft hatte bisher ein einziges Tor geschossen. Es war bereits die 72. Spielminute und sie brauchten noch sage und schreibe drei weitere Tore, um das Ruder herum zu reißen. Und das nur vorausgesetzt, die gegnerische Mannschaft blieb selbst torlos. Manny drückte die Türklinke zur Praxis herunter und schob den Wagen ein Stück weit hinein. Durch den Empfangsbereich konnte er die weit geöffnete Tür zu Dr. Brandts Sprechzimmer gut sehen. Ebenso den Mann und die Waffe in dessen Hand. In Mannys Ohren klang der Knall ohrenbetäubend. Hoffentlich kommt unser Junge nach Hause und steht Erika bei, dachte Manny noch. Da bohrte sich die Kugel schon in seinen Oberkörper und durchschlug sein Herz. Manny sackte zusammen und fiel Till direkt vor die Füße. Ein einzelner Tropfen Blut verirrte sich auf den Schriftzug an der Praxistür, machte aus dem Punkt hinter dem Doktor einen bizarren Doppelpunkt.

    Der Rückstoß traf Ulrich Pauly völlig unerwartet. Seine Hand schleuderte schwungvoll zurück, wurde von seiner Stirn abrupt abgebremst. Für einen Augenblick sah er Sterne, als das Metall in seiner Hand auf seinen Kopf traf. Schmerz breitete sich in seinem Kopf aus. Er begriff nicht, was soeben geschehen war. Ulrich hatte diesem Monster, das die Seite von Natalies Mörder ergriffen hatte, einen Schlag mit der Hand verpasst. Auch wenn es seiner Erziehung völlig widersprach eine Frau zu schlagen, die Strafe hatte sie sich verdient! Sie war ein Monster und sie hörte nicht auf ihn. Er hatte sie doch davor gewarnt sich ihm zu nähern. Ulrichs Blick klärte sich allmählich. In der nun offenen Praxistür lag ein Mann. Er erinnerte sich an eine Bewegung, die er im Augenwinkel wahrgenommen hatte, als seine Hand das Gesicht des Monsters traf. Wie ferngesteuert hatte sich die Waffe in seine Blickrichtung gedreht. Erschrocken über den plötzlich auftauchenden Mann, war Ulrich zusammengezuckt. Dabei musste sich der Schuss gelöst haben. Ulrich zitterte am ganzen Körper. Das hatte er nicht gewollt. Die Pistole sollte lediglich seiner Forderung nach Gerechtigkeit mehr Ausdruck verleihen. Sie sollte niemanden verletzen! Schließlich war er doch kein Monster! Und dennoch lag dort hinten dieser Mann, auf den er geschossen hatte. Das konnte nicht sein! Ulrich war kein Mörder! Er war nicht wie dieser unbelehrbare, betrunkene Autofahrer, der seinem kleinen Mädchen das Leben genommen hatte. So war er nicht! Die Gestalt seiner Tochter tauchte neben dem am Boden liegenden Mann auf. „Natalie", schluchzte Ulrich, glücklich darüber, seine geliebte Tochter endlich wieder zu sehen. Sie schaute von dem am Boden liegenden Mann zu ihm auf. Mit vorwurfsvoller, geradezu enttäuschter Miene starrte sie Ulrich an.

    Der laute Schuss lichtete endlich den Nebel, der Rebecca seit dem heftigen Schlag umgab. Ihre Sinne kehrten zurück und sie sah zu dem Schützen auf. Offenbar stand Pauly unter Schock. Mit weit aufgerissenen Augen stierte er zu der Eingangstür der Praxis auf der anderen Seite des Vorzimmers. Rebecca nutzte die sich ihr bietende Gelegenheit. Schnell richtete sie sich auf. Etwas zu schnell, aber den Schwindel der sie erfasste, ignorierte sie. Rebecca versuchte die Waffe Paulys Hand zu entreißen. Unter normalen Umständen wäre sie zu solch einer Tat nicht fähig. Derartige Aktionen waren lebensgefährlich. Aber unter normalen Umständen gab es auch keine auf sie gerichteten Waffen. Sie hatte keine andere Wahl. Sie musste etwas unternehmen. Er hatte bereits geschossen. Sie wusste nicht warum. Wie hatte sie ihn bloß derartig falsch einschätzen können? Seine Wut und seine Verzweiflung so unterschätzt? Sie musste die Pistole in ihren Besitz bekommen, bevor er erneut schießen konnte. Erst dann war sie sicher. Auf keinen Fall wollte sie von ihm erschossen werden. Pauly leistete trotz seines Schocks erhebliche Gegenwehr. Er war nicht bereit ihr die Waffe zu überlassen. Sie rangen darum. Der Lauf der Pistole richtete sich zwischen ihren Körpern nach oben. Dann durchdrang erneut ein ohrenbetäubender Knall die Praxisräume. Rebecca wartete auf den einsetzenden Schmerz, der einem Einschlag in ihren Körper unweigerlich folgen musste. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen klappte Pauly direkt vor ihr zusammen, schlug hart mit dem Rücken auf dem Boden auf. Rebeccas Magen rebellierte, als sie das von der Kugel zerfetzte Gesicht Paulys sah. Der dicke, hellgraue Teppich unter ihm sog die rote Flüssigkeit begierig auf.

    2.Kapitel

    Kriminaloberkommissar Leon Zimmermann hielt die halbvolle Kaffeekanne in seiner rechten Hand und goss die schwarze, aromatische Brühe in eine Tasse während sein PC hochfuhr. Mit diesem Ritual begann er jedes Mal seinen Dienst. Den bröckelnden Wandputz oberhalb der Kaffeemaschine beachtete er nicht. Überhaupt hatte er keinen Blick für den traurigen, renovierungsbedürftigen Zustand der Inspektion. Seine Gedanken waren ganz woanders. Er konnte es kaum erwarten, dass sein PC endlich einsatzbereit war. Die Überprüfung gewisser Bankdaten gehörten auch zu seinem täglichen Ritual. In dieser Kleinstadt verlief der Dienst meistens eher ruhig. Was einer der Vorteile gegenüber einer Großstadt war. Zwar war es nie wirklich langweilig, aber die hiesigen Einsätze beschränkten sich auf kleinere Delikte, wenn man mal von der Einbruchserie absah, deren Täter einfach nicht beizukommen war. Leon ging zu seinem Schreibtisch und blickte auf den Monitor. Er stellte seine Tasse auf den Tisch, setzte sich und gab einige Daten ein. Egal wie lange er auch auf die Kontendaten starrte, sie änderten sich nicht. Seit nun mehr fünf Jahren tat sich nichts. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand fünf Jahre lang nicht auf sein Konto zu griff? Selbst wenn es mittlerweile leicht ins Soll abgerutscht war, weil es keinerlei Einzahlungen gegeben hatte. Frustriert schloss er die Seite mit einem heftigen Fingerdruck.

    Was genau erwartest du auf dem Konto zu finden? erklang die Stimme seines Kollegen Dieter Erhardt, dessen Schreibtisch nur wenige Meter von seinem entfernt stand.

    Leon ging nicht auf die Frage ein. Gibt es was Neues von der Krankenkasse?

    Dieter schüttelte seinen Kopf. Nein. Falls sich daran etwas ändern sollte, melden sie es umgehend.

    Leon sah zu Dieter rüber. Dieter war ein Urgestein der Inspektion. Obwohl er seit einer Ewigkeit hier war, hatte er niemals die Ambitionen auf der Karriereleiter empor zu steigen. Er könnte die Inspektion mit Leichtigkeit leiten, aber daran hatte Dieter kein Interesse. Seine Position, sein Job, reichte ihm völlig und der hatte Spuren hinterlassen. Wenige graue Haare zierten seinen Kopf, umgaben die blanke Platte seines Schädels wie einen Ring. Dieter behauptete gerne, dass das am ständigen Raufen der Haare lag. Mit den Jahren hatte er seine durchtrainierte Figur verloren, war deutlich fülliger geworden. Trotz seiner nicht unbedingt optimalen körperlichen Verfassung war er ein hervorragender Polizist und der leitende Ermittler in dem Vermisstenfall, der Leon keine Ruhe ließ.

    Menschen verschwanden zwar täglich, aber sie konnten sich nicht in Luft auflösen. Irgendwo musste Daniel sein. So ungern Leon die Möglichkeit in Betracht zog, er musste es wissen: Gab es in letzter Zeit eine Prüfung bei der Bank? Ist Geld verschwunden?

    Dieter schüttelte den Kopf. Es gab in den letzten zwei Jahren sogar zwei Prüfungen und nein, dein Bruder hat kein Geld von seinem Arbeitgeber abgezweigt. Das Thema hatten wir bereits mehrfach, Leon.

    Leon runzelte die Stirn. Er war in den letzten fünf Jahren nicht krank und er hat kein Geld. Das ergibt keinen Sinn.

    Dieter stand auf, ging zu Leon rüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. Es ergibt Sinn, wenn...

    Er tot wäre, unterbrach Leon ihn. Aber selbst dann muss es doch irgendwo sterbliche Überreste geben. Hast du nicht alles absuchen lassen?

    Bevor Dieter antworten konnte, streckte ihr Chef Müller seinen Kopf in ihr Büro. Es gab eine Schießerei in der Hauptstraße 442. Ein Opfer, der Schütze ist tot. Erhardt, Zimmermann, übernehmen Sie das!

    Tack, tack, tack, machte der Absatz eines schwarzen Damenstiefels, als der in ihm steckende Fuß ungeduldig auf dem Linoleumboden des Fahrstuhls trippelte. Ein manikürter, in auffälligem Rot lackierter Finger drückte die Taste zu der dritten Etage. Die Tür schloss sich begleitet von einem leisen Brummen. Der Fahrgast kramte in einer Handtasche nach einem Lippenstift. Den Spiegel im Inneren des Lifts nutzend, zog sich die Frau ihre Lippen nach. Die Farbe war exakt auf ihre Nägel abgestimmt.

    Julia Sommer legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Schließlich konnte man ja nie wissen, wem man wann und wo begegnete. Selbst um diese Uhrzeit in einem wahrscheinlich fast menschenleeren Haus konnte es durchaus Überraschungen geben. Ihr Fuß begann erneut zu trippeln, begleitet von ihrem knurrenden Magen. Wieso konnte Rebecca nicht ein einziges Mal pünktlich sein? Denn wenn sie es wäre, würden sie bereits ihre Vorspeise bei ihrem Lieblingsitaliener genießen können. Aber nein, Rebecca war natürlich noch in ihrer Praxis und hielt es nicht für nötig, auf Julias Nachrichten zu antworten. Selbstverständlich könnte Julia einfach im Restaurant auf Rebecca warten, aber sie wusste, dass Rebecca ihre Verabredung durchaus schlichtweg vergessen haben konnte und somit gar nicht auftauchen würde. Deswegen entschied sich Julia ihre Freundin höchstpersönlich zum Essen zu geleiten.

    Regentropfen glitzerten wie kleine Edelsteine auf der Oberfläche ihres schwarzen Mantels als sich die Fahrstuhltür öffnete und Julia den Flur betrat. Der unerwartete Anblick ließ sie jäh mitten in der Schrittbewegung innehalten.

    Auf dem Boden vor der Praxis, besser gesagt, unter dem Türrahmen lag ein Mann. Sein Körper wurde von einem zweiten Mann, der neben ihm kauerte, geschüttelt.

    „Manny! Manny!" rief er verzweifelt flehend.

    Julia schüttelte sich kurz. Die Regentropfen flogen von ihrem Mantel. Das war keine Art von Überraschung, die sie erwartet hatte. Energisch ging sie auf die beiden Männer zu. Sie tastete nach dem Puls des am Boden liegenden. „Das Rufen können Sie sich sparen. Er hört Sie nicht mehr. Er ist tot. Rufen Sie lieber die Polizei."

    „Das habe ich", murmelte der Mann.

    Ohne weiter auf den Trauernden einzugehen, richtete Julia sich wieder auf, schritt vorsichtig an dem Toten vorbei in die Praxis. Unter ihrem Fuß erklang ein knackendes Geräusch, als sie doch auf etwas trat. Julia blickte hinunter. Der Absatz ihres rechten Stiefels steckte im Display eines Handys. Sie hob ihren Fuß an, schüttelte das Handy ab, als wäre es ein lästiges Insekt und ging weiter. Julia fand ihre Freundin im Sprechzimmer.

    Rebecca hockte auf dem Boden vor ihrem Schreibtisch. Sie hatte ihre Beine an ihren Körper gezogen, umschloss sie fest mit ihren Armen und starrte ins Leere. Ihre rechte Wange war knallrot.

    Julia warf nur einen kurzen Blick auf dem im Sprechzimmer am Boden liegenden Mann. Nach seinem Puls brauchte sie nicht zu fühlen. Das hatte sich eindeutig erübrigt. Wozu brauchte jemand ohne Gesicht einen Puls? Anstelle eines Gesichts gab es nur zerfetzte Masse zu sehen.

    „Wenn ich irgendetwas im Magen hätte, würde ich jetzt kotzen."

    Leon und Dieter betraten mitsamt einer ganzen Schar von Beamten das mehrstöckige Gebäude in der Hauptstraße 442.

    Du nimmst dir Etage für Etage vor, sagte Dieter zu Leon.

    Leon blickte ihn erstaunt an. Wozu? Der Schütze ist tot.

    Dieter holte tief Luft. Woher wissen wir, dass es ein Einzeltäter ist? Vielleicht gibt es einen Komplizen, der uns irgendwo im Gebäude auflauert.

    Leon schüttelte den Kopf. Das ist doch recht weit hergeholt, findest du nicht? Unsere Informationen besagen etwas völlig anderes.

    Auf wie vielen solcher Einsätze warst du bisher, Leon? Richtig, auf keinem. Also tu was ich dir als Vorgesetzter sage und sichere Etage für Etage. Dieter ließ nur sehr selten den Chef raushängen, doch wenn er es tat, richtete sich Leon danach. Wenn auch überaus unwillig. Er stieß die Tür zum Treppenhaus auf, gefolgt von einigen Kollegen. Der Flur der ersten Etage war ruhig und verlassen. Im zweiten Stock sah es nicht anders aus. Nun näherte er sich dem Tatort. Dementsprechend war es im Flur der dritten Etage alles andere als ruhig. Zwei Streifenpolizisten kümmerten sich um einen Mann mit von Tränen überströmten Gesicht. Die Arbeitskleidung, die der Mann trug, wies ihn als Mitglied einer Putzkolonne aus. Wie der Tote auch, bemerkte Leon, als er an dem Kollegen der Spurensicherung vorbeiging, der die Leiche im Eingangsbereich einer Praxis näher in Augenschein nahm. Ein sonderlicher roter Punkt auf dem Schriftzug der Eingangstür zog Leons Aufmerksamkeit für den Bruchteil einer Sekunde auf sich, bevor er den Anmeldebereich passierte. Er hörte Dieters Stimme und folgte ihr in ein Sprechzimmer.

    Die zahlreich anwesenden Personen ließen den Raum trotz seiner nicht gerade geringen Größe regelrecht klein wirken. Zwei uniformierte Kollegen, Dieter, eine weitere Leiche und zwei Frauen füllten das Zimmer aus. Der Umriss des Toten wurde eingezeichnet, die Leiche fotografiert. Dieter hockte neben einer der beiden Frauen, die zusammengesunken vor einem Schreibtisch auf dem Boden saß. Das musste eine Zeugin sein, vermutete Leon. Die Frau umklammerte ihre Beine fest mit ihren Armen. Ihren Kopf hielt sie gesenkt, wodurch ihr das lange, dunkle Haar wie ein Vorhang vor das Gesicht fiel. Dieters Fragen beantwortete sie sehr leise und geradezu apathisch. Die offensichtlich unter Schock stehende Frau tat Leon leid, selbst wenn es sich bei ihr um Dr. Rebecca Brandt persönlich handeln sollte. Den Namen hatte Leon an der Tür gelesen und er hatte keine guten Erfahrungen mit Psychotherapeuten gesammelt. Seine letzte Begegnung mit einem Exemplar der Sorte hatte ihm unerwünschten Urlaub und eine Therapie zur Aggressionsbewältigung eingebracht. Wie genau der sogenannte Doktor zu der Zeit zu der Erkenntnis gelangte, blieb ihm ein Rätsel. Der Therapeut hatte das Gespräch auf Daniel gelenkt und dabei war Leon ein klein wenig aufbrausend geworden. Aber wer ließ sich schon gerne sagen, dass man seinen vermissten Bruder loslassen musste? Er jedenfalls nicht und genau das hatte er dem Therapeuten nicht gerade höflich mitgeteilt. Seitdem stand Leon mit den Psychofritzen auf Kriegsfuß. Dennoch konnte er in diesem Moment nicht anders, als für das am Boden sitzende Häufchen Elend Sympathie zu empfinden.

    Die zweite anwesende Frau unterbrach ein nerviges Trippeln mit dem Fuß und schob sich direkt in Leons Blickfeld. Hi, hauchte sie mitsamt einem verführerischen Augenaufschlag. Julia Sommer. Sie streckte ihm ihre perfekt manikürte Hand entgegen.

    Leon betrachtete die Hand kurz, ergriff sie aber nicht. Sind Sie eine Zeugin?

    Nein. Glücklicherweise war schon alles vorbei, als ich dazu kam. Dennoch, falls ich Ihnen helfen kann, ganz gleich wobei..., sie hatte ihre Hand zwischenzeitlich zurückgezogen und hielt ihm jetzt eine Visitenkarte hin. ...rufen Sie mich an. Ich stehe Ihnen voll und ganz zur Verfügung. Tag und Nacht. Perplex nahm Leon die Karte entgegen. Sie befanden sich an einem Tatort mit zwei Leichen und diese Rothaarige hatte nichts Besseres zu tun, als ihn anzubaggern? Ernsthaft?

    Dieter richtete sich auf, kam zu Leon herüber und zog ihn etwas von der aufdringlichen Julia Sommer weg. Bei dem Toten hier handelt es sich um Ulrich Pauly. Seine Tochter Natalie wurde vor drei Jahren von einem Betrunkenen ohne Führerschein überfahren. Das war eine schlimme Geschichte damals, erinnerst du dich? Anfang dieser Woche wurde der Unfallfahrer aus der Haft entlassen. Dr. Brandt ist die Therapeutin des Fahrers. Pauly tauchte hier bewaffnet auf und bedrohte Dr. Brandt mit der Pistole. Als die Männer von der Putzkolonne die Praxis betreten wollten, hat Pauly geschossen. Er hat den armen Kerl direkt ins Herz getroffen. Dr. Brandt versuchte Pauly die Waffe zu entreißen, wodurch sich ein weiterer Schuss löste. Der dann so endete. Dieter wies auf den toten Pauly. Leon konnte sich kaum vorstellen, wie die zierlich wirkende Frau mit Pauly um die Pistole gerungen hatte. Pauly war ein großer Mann. Leon tippte auf 1,90 Meter. Er ging vor ihr in die Hocke, ähnlich wie Dieter es kurz zuvor noch getan hatte. Erst jetzt konnte er durch den Vorhang der Haare ihr Gesicht sehen. Sie war verletzt. Ihre Wange schimmerte leuchtend rot. Ein Hämatom begann sich zu bilden. Irritiert spürte er das Bedürfnis sie in seine Arme zu nehmen, um sie zu trösten. Sie müssen ins Krankenhaus, sagte er stattdessen und klang dabei vielleicht etwas ruppig.

    Mir geht es gut. Sie starrte an ihm vorbei, schien ihn nicht wirklich zu registrieren.

    Sie haben da einen bösen Schlag abbekommen und Sie stehen unter Schock. Ich rate Ihnen dringend dazu, sich ärztlich untersuchen zu lassen,

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