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Orpheus Stufen - Kriminalroman
Orpheus Stufen - Kriminalroman
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eBook328 Seiten4 Stunden

Orpheus Stufen - Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Ein packender Krimi, der einen zum Weiterlesen antreibt!Wilhelm Ringelnatz geht zuerst von reiner Routine aus, als er den Diebstahl einer jahrhundertealten Schrift aufklären soll, doch ganz im Gegenteil. Bald findet er heraus, dass jeder, der das verschwundene Werk gelesen hatte, kurz darauf verstorben ist. Ob die Tode mit dem Buch zusammen hängen? Die Spuren führen ihn zu Salomon Mergentheimer, ein jüdischer Bibliothekar, welcher vor dem Zweiten Weltkrieg in Wolfenbüttel gearbeitet hatte. In einem Wettrennen mit der Zeit versucht Ringelnatz die Puzzleteile zusammen zu setzen.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum22. Juli 2019
ISBN9788726086775
Orpheus Stufen - Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Orpheus Stufen - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz

    Diskussionsbereitschaft.

    Teil I:

    Lose Enden

    oder

    Die Quellen

    Das erste ist das Gefühl völliger Ruhe und ein sanftes Dahingleiten, in milder, angenehmer Luft. Dann öffnet sich das Bild, wie eine Bühne, vor der ein Vorhang weggezogen wird.

    Der Zug fährt lautlos durch eine Landschaft von sattem, dunklem Grün. Er bewegt sich vorwärts in völligem Einklang mit seiner Umgebung, nichts stört die Harmonie des Bildes. Seine Form, seine Farbe, seine Geschwindigkeit – alles wurde für diesen einen Moment gemacht, für diese eine Fanrt; ist sic zu Ende, wird auch er nicht mehr existieren. Keine Kraft kann die eiserne Maschine aufhalten, und ihr Ziel liegt hinter dem Horizont, dort, wo eine dünne Linie hellgrauer Berge die Grenze des Gesichtsfeldes markiert.

    Er blickt von oben darauf herab. Die Lokomotive und die Wagen sind klein wie Spielzeug. Er fragt sich: Wie komme ich hier herauf? Fliege ich? Fliege ich selbst, aus eigenem Antrieb? Er weiß es nicht. Auch seine Identität bleibt ihm verschlossen, ebenso wie die Beschaffenheit seiner unmittelbaren Umgebung. Nur eines weiß er genau:

    Er ist hier, um dem Zug zuzusehen, der sich tief unter ihm unbeirrbar in das Grün der Landschaft frißt.

    Je länger er hinabschaut, um so klarer wird ihm, daß der Zug für ihn eine Bedeutung hat, mehr ist als bloßes Objekt der Beobachtung. Eine lange verschüttete Erinnerung brodelt, wird heiß und schlägt Blasen. Vergebens versucht sie aufzusteigen. Sie hat noch zu wenig Kraft.

    Aber eine vage Ahnung ist da, eine Ahnung von etwas, das vor langer Zeit geschehen ist und zu dem er den Schlüssel hat.

    Und diese Ahnung ist unangenehm.

    1.

    Ein enger Ring aus Stahl, schrecklich eng, der sich wie ein Alp um die Brust zieht und einem die Luft abdrückt.

    Er kennt das Gefühl schon von anderen Situationen. Er hat es manchmal gehabt, wenn er etwas gegenüberstand, das großes Leid erzeugte, ohne eine Spur von Sinn erkennen zu lassen. Zum Beispiel damals, als sein Kumpel Max mit seinem Motorrad von einem betrunkenen Autofahrer an eine Hauswand gedrückt wurde. Und dann die andere Sache. Die, um deretwillen er heute beinahe zu spät zur Beerdigung seines Großvaters gekommen wäre.

    Felix, den blonden Scheitel wie immer ein wenig zerrauft, schaut sich um. Die Gesichter der etwa dreißig schwarz gekleideten Personen sind dem Pfarrer zugewandt. Die meisten der Blicke machen an der hochaufgerichteten Gestalt nicht halt, sondern setzen sich fort in die Unendlichkeit, und Felix könnte schwören, daß die Gedanken ihrer Besitzer sich momentan nicht mit dem Andenken des Dahingeschiedenen beschäftigen.

    Der Pfarrer hat sich redlich und mühsam wie ein gutes Schiff bei schwerer See durch die Ansprache gekämpft und kommt langsam zum Ende; eine letzte Salve von Allgemeinplätzen noch, dann ist das rettende Ufer erreicht. Was soll der Mann auch sagen? Er kannte den Verstorbenen nicht. Heinrich Ringel hat Zeit seines Lebens wenig zu tun gehabt mit der Kirche und ihren Angestellten.

    Der Geistliche gibt den Trägern ein Zeichen, die leicht gelangweilt im Hintergrund warten, die steifen Hüte regelmäßig in den Händen drehend. Taue straffen sich, Bretter werden unter dem Sarg weggezogen, und dann verschwindet er, Heinrich Ringel, wie er vor fast achtzig Jahren gekommen ist: Zentimeter um Zentimeter, Lichtjahr um Lichtjahr. Bis zu diesem Augenblick war er für Felix körperlich noch irgendwie präsent, aber jetzt entfernt er sich endgültig, vollständig und für immer.

    Felix schluckt. Ihm ist zum Heulen zumute, aber als er es versucht, verspürt er nur einen schmerzhaften, trockenen Krampf in der Halsgegend und er weiß, daß er es nicht mehr kann; das Weinen ist eine der Fähigkeiten, die er eingetauscht hat gegen ein paar andere, nützlichere. Dafür zieht sich der Ring um seine Brust weiter zusammen, er kann kaum noch atmen.

    Schnelle Ablenkung muß her.

    Er wendet Blick und Gedanken wieder beobachtend der Trauergemeinde zu.

    Sein Stiefvater. Er kannte den Dahingeschiedenen kaum, hat nur selten Zeit und Gelegenheit für ein Gespräch mit ihm gesucht. Sie hatten nichts gemeinsam, weder Gegenwart noch Vergangenheit, und Zukunft schon gar nicht. Entsprechend niedrig darf bei ihm wohl der Grad von Bestürzung und Trauer eingeschätzt werden, den Pfarrer Kielmann in der Trauerrede soeben in natürlichem Zusammenhang mit den nächsten Verwandten und Freunden erwähnt hat.

    Seine Mutter, an ihr hängt sein Blick länger. Die schöne, zerbrechliche Barbara Luckmann, geborene Ringel. Ihr blasses Gesicht ist noch blasser geworden in der letzten Zeit, der Kontrast zu den dunklen Haaren noch stärker. Trauert sie? Sie hatte kein besonders gutes Verhältnis zu ihrem Vater, hat ihm seine Vergangenheit angelastet und manchmal auch offen zum Vorwurf gemacht. Und trotzdem weiß Felix, daß sie ihn vermissen wird. Sie weint nicht, aber das hat sie nie getan, nicht einmal damals, als sie ihren ersten Mann, seinen Vater, verlor.

    Der Rest der ihm bekannten Anwesenden kommt als Trauerkandidaten nicht in Frage. Sein Cousin Tobias spielt mit den Bügeln seiner teuren Sonnenbrille herum, in Gedanken wahrscheinlich beim Geschlechtsverkehr mit einer seiner zahlreichen Eroberungen. Tante Monika, Schwester seiner Mutter und fast genauso schön, fixiert den obersten Knopf am Hemdkragen des Priesters, die Haare sorgfältig frisiert und den Mund mit den vollen roten Lippen leicht geöffnet, was sie ausgesprochen sexy aussehen läßt. Felix könnte wetten, daß auch ihre Gedanken sich nicht um Tod und Vergänglichkeit drehen.

    Der Sarg ist verschwunden, verschlungen von der Erde. Die ersten Trauergäste treten vor, bilden eine Schlange, um ihm mit einer Handvoll Erde die letzte Ehre zu erweisen. Felix kennt viele der Leute nicht und kann mit ihren Gesten der Anteilnahme nichts anfangen. Sie treten auf ihn und seine Eltern zu, um ihnen mit vielsagend verschleierter Miene die Hände zu schütteln; nicht zu fest, das könnte pietätlos wirken. Ein sanfter Händedruck dem Stiefvater, ein mitfühlender Blick in die Augen der Mutter, dann ein aufmunternder Klaps auf seine, Felix’, Schulter. Und ein leises, aber dennoch deutlich hörbares »Na? Wohl froh, wieder draußen zu sein?« von Onkel Walter, der sich schon immer durch seine Taktlosigkeit ausgezeichnet hat. Aber Felix hat kein Problem damit. Er kennt seine Familie und hat Zeit genug gehabt, sich an derlei Peinlichkeiten zu gewöhnen.

    Ein alter Mann am Ende der Schlange fällt ihm auf, dem toten Großvater in Aussehen und Haltung sehr ähnlich. Er nähert sich schnell und je näher er kommt, um so größer scheint die Ähnlichkeit zu werden. Mit kurzen, straffen Schritten tritt er hochaufgerichtet an das Loch, das wie eine offene Wunde im torfigen Boden des Friedhofs klafft. Kurz und straff ist die Bewegung, mit der er seine Portion Erde hinunter in die Grube schleudert – eher eine Geste der Abwehr als des Abschiedes –, und kurz und straff senkt er den Kopf in einer Art ruckartigen, grüßenden Nickens; dann tritt er zurück, kurz und straff. Er ist groß und hager, wie es der Alte war, mit weißen, zurückgekämmten Haaren und einer gewaltigen Hakennase, die ihm das Aussehen eines traurigen Papageien gibt. Aber er wirkt alles andere als komisch, und seine Haltung flößt Felix unwillkürlich Respekt ein. Wahrscheinlich ein alter Kamerad, aus Tagen, an die sich sein Großvater ebenso gern wie heimlich erinnert hat und über die er niemals sprach.

    Die ältliche dicke Frau, die als nächste kommt, kennt er auch nicht. Sie trägt ihren wogenden Busen wie ein schweres Bündel vor sich her, die knollige Nase tief in ein Papiertaschentuch von zweifelhafter Färbung gedrückt. Vielleicht die Putzfrau. Nein – hat nicht der Alte so etwas wie eine Haushälterin gehabt, die letzten zwei Jahre? Das hat er ihm mal geschrieben. Sein »Faktotum«, hat er sie in dem Brief genannt. Haushälterin, das könnte passen, Physiognomie und Haltung entsprechen Felix’ Vorstellung.

    Keine Zeit mehr für müßige, passive Betrachtung. Seine Tante kommt, und er muß nun seine Aufmerksamkeit zwischen der Dicken und ihr teilen. Sie umarmt ihn und gibt ihm einen Kuß auf die Wange; ihre Lippen sind kühl.

    »Tut mir leid für dich. Du mochtest ihn, nicht wahr?«

    »Ja, Tante Monika.«

    Ihre Augenbrauen wandern leicht nach oben. Ihr Ton ist ernst, kritisch, fast vorwurfsvoll.

    »Trotz seiner Vergangenheit.«

    »Ja, Tante Monika.«

    Er weiß, was sie denkt: Gleich und gleich gesellt sich; aber sagen tut sie es nicht. Gleichzeitig ist er nicht sicher, wie fest ihre moralische Standfestigkeit wirklich ist und ob sie sich auf alle Bereiche ihres Lebens erstreckt. Er hat früher ein paar Geschichten über sie gehört, die nicht dazu passen.

    Jedenfalls wird ihre Stimme nun ein paar Grad rauchiger.

    »Du bist ein richtiger Mann geworden.«

    »Ja.«

    Diesmal verschluckt er das »Tante Monika« und findet, daß er schon wieder ganz gut zurechtkommt in der freien Welt.

    Ein letzter Händedruck, dann ist sie fort, wie ein schwül warmer Gegenwind, der plötzlich ausbleibt, wenn man in die Abdeckung eines Gebäudes gerät. Er sieht ihr nach, wie sie an Onkel Walters Arm mit schwingenden Hüften das Feld verläßt. Immer noch gute Beine und ein guter Hintern.

    Er hat den Alten wirklich gern gehabt, und was früher War, war ihm egal. Er war ein Kind, was interessierte ihn die Vergangenheit seines Opas, oder gar die einer ganzen Nation? Aber er merkte schon damals: Irgend etwas ist da, das der alte Mann mit sich herumträgt wie einen unsichtbaren Kropf. Die Blicke der Leute, leise, halb ausgesprochene Sätze, vielsagende Gesten mit den Händen – und nie wurde ausgesprochen, was man meinte, und nie wurde ganz klar, worin der Makel bestand.

    Aber Felix war ein Kind, und er liebte seinen Großvater. Der war groß und stark und wußte immer, was zu tun war, wenn der kleine Junge mit seinen kleinen Nöten und Ängsten zu ihm kam. Er wußte es oft besser als dessen Eltern.

    Der Alte hat ihm gegenüber nie von der dunklen Zeit gesprochen, obwohl sie das vertrauteste Verhältnis hatten, das man sich nur vorstellen kann. Und Felix hat nie gefragt, nicht einmal, als er schon älter und neugierig war. Er ahnte irgendwann, worum es ging, aber es blieb dennoch der weiße Fleck auf der Karte ihrer Partnerschaft, den keiner betrat und nie betreten würde, um den anderen nicht in Verlegenheit zu bringen.

    Er wußte jedoch, was dem Mann die Erinnerungen bedeuteten. Mehr als einmal hat er ihn bei der Lektüre stockfleckiger Bücher oder bei der Durchsicht von altem, braunem Fotomaterial ertappt; alles verschwand blitzschnell in einer Schublade, wenn er merkte, daß er ihm zusah, und ein Scherz lenkte ab und verwischte die Gedankenspuren.

    Und jetzt? Will er es überhaupt noch wissen? Nichts, was der Mann, der jetzt anderthalb Meter unter ihm liegt, je getan hat, kann wirklich nur schlecht gewesen sei, davon ist er überzeugt. Einen Augenblick bereut er schon, daß er sich nicht alles von ihm selbst hat erzählen lassen, als dies noch möglich war.

    Die Zeremonie ist zu Ende, die Anwesenden wenden sich dem Ausgang des Friedhofs zu, teils mit gebührender Langsamkeit, teils in einer Eile, die fast an Flucht erinnert. Felix’ Vater reicht dem Pfarrer die Hand, dankt für die zu Herzen gehenden Worte. Dieser nimmt das Lob routiniert entgegen, in Gedanken schon weit weg bei der Hochzeitsfeier am Nachmittag und der abendlichen Sitzung des Pfarrgemeinderates.

    Ein letzter Blick Felix’, der als einziger noch an seinem Platz steht, auf die Grube. Ein Arbeiter in grünem Overall – sagt man noch Totengräber? – beginnt, sie zuzuschaufeln. Braune Lawinen rollen hinab, kleine Erdklumpen überholen große, große Erdklumpen überholen kleine, und alle sammeln sich am tiefsten Punkt des Loches, um mit dumpfem Klopfen auf den Holzdeckel zu prallen. In den ruhigen, gemessenen Bewegungen des Mannes liegt etwas Feierliches, das seiner Tätigkeit eine neue, höhere Bedeutung gibt. Fast scheint sie die logische Fortsetzung der Trauerfeier zu sein, und einen Moment bedauert es Felix, daß nur er allein noch beobachtet, was hier geschieht, und nur er Zeuge wird eines weiteren Rituals. Dann aber bemerkt er die Einzelheiten, die Zigarette im Mundwinkel des Mannes, die schlampige Rasur und die angeschmutzten Hosenbeine, und er entscheidet, daß hier doch nichts anderes stattfindet als das Schließen eines Grabes.

    Ein paar Minuten später sitzen sie im neuen lackglänzenden Auto seines Adoptivvaters. Felix auf dem Beifahrersitz, seine Mutter hinten; eine unwillkürliche Sitzordnung, ohne Überlegung oder Absprache so wie früher eingenommen, trotz der langen Zeit, die er fort war. Es ist sehr still im Wagen. Er lehnt sich in den bequemen Ledersitz.

    Irgendwo muß man anfangen.

    »Schöner Wagen. Hast du ihn schon lange?«

    Erich Luckmann widmet seine Aufmerksamkeit dem stark fließenden Straßenverkehr an der Einmündung der Straße.

    »Ein paar Monate. Ein neues Modell mit mehr Leistung bei niedrigerem Verbrauch. Gab es den schon, als du ...?«

    »Ich glaube nicht. Ich hätte es gewußt.«

    Felix’ Grinsen kommt nicht ganz ungezwungen.

    Seine Mutter legt ihm von hinten die Hand auf die Schulter, leicht wie ein Schmetterling.

    »Wir sind froh, daß du wieder bei uns bist.«

    Sie will noch mehr sagen, aber wie immer in Augenblicken emotionaler Bewegung fehlen ihr die Worte; ein Mangel, der ihn seine ganze Kindheit hindurch begleitet hat. Er drückt sanft ihre Hand, und sie zieht sie zufrieden wieder zurück.

    »Ich freue mich auch. Schade ist nur . . .«

    »Was?«

    »Schade ist, daß ich zu spät gekommen bin. Ich hätte den Alten gern noch mal gesehen. Lebend, meine ich.«

    »Die Kommission hat sich sehr spät entschieden. Später, als es eigentlich geplant war. Dein Großvater hat genauso gespannt darauf gewartet wie du.«

    Felix blickt gedankenverloren auf die Straße vor der langen Motorhaube, die Unterlippe etwas vorgeschoben. Er hätte ihn wirklich gern noch einmal gesehen, und noch lieber wäre er bei ihm gewesen, als es passierte. Der Alte hatte sich in den letzten Jahren auf ihn verlassen, in vielen Dingen. Eines Tages hatte er ihn beiseite genommen und gesagt: »Wenn es mal soweit ist, will ich, daß du bei mir bist. Ich will nicht allein sein, wenn ich gehe.« Felix, auf der Schwelle zwischen Kind und Erwachsenem, hatte die Bedeutung des Augenblickes nur unscharf erfaßt, aber es hatte gereicht, um einen dicken Kloß in seiner Kehle entstehen zu lassen. Der ganze Sinn dieses Wunsches war ihm erst viel später aufgegangen. Es war nicht die Angst vor dem Sterben – die hatte der Alte nie gehabt –, es war einfach der größte Beweis von Vertrauen und Zuneigung gewesen.

    Und jetzt hat er das Gefühl, ein Versprechen nicht gehalten zu haben.

    »Wie ist er gestorben? Er war doch niemals krank.«

    Ein kurzer Seitenblick seines Vaters.

    »Gehirnschlag. Es ist wohl ganz plötzlich passiert, kurz nach dem Abendessen.«

    Gehirnschlag? Was ist das?

    »War jemand bei ihm?«

    »Nein. Die Haushälterin war schon fort; sie wohnt in der Nachbarschaft und kam nur zur Arbeit ins Haus. Am Morgen hat sie ihn dann gefunden. Ganz friedlich lag er auf dem Sofa, so als wäre er eingeschlafen.«

    Die Stimme seiner Mutter klingt dünn und ohne Überzeugungskraft vom Rücksitz.

    »Ein schöner Tod. Schnell und ohne Leiden, von einem Moment auf den anderen.«

    Sie fahren schweigend das letzte Stück.

    Nach einer halben Stunde biegen sie auf das Grundstück ein; die Auffahrt ist mit dickem, weißem Kies bestreut. Es hat sich einiges geändert, schon auf den ersten Blick. Früher gab es hier nur zwei Spuren aus Zementsteinen, mit spärlichem Gras dazwischen und links und rechts daneben. Zwischen den alten Apfelbäumen kommt das Haus in Sicht, und auch hier gibt es Neuerungen: Die Fassade ist renoviert, hellgelb gestrichen, mit Weiß an den Ecken und um die Fenster, und das Dach ist neu.

    »Ihr habt mir gar nicht erzählt, was ihr alles gemacht habt.«

    Der Wagen hält, Kies knirscht unter den Reifen. Auch die Stimme seines Vater ist verändert. Felix meint, sie wäre tiefer als früher, Ausdruck einer Selbstsicherheit, die er vor ein paar Jahren in diesem Ausmaß noch nicht besessen hatte.

    »Das war überfällig, du weißt ja, wie es vorher aussah. Und als wir angefangen haben, da wollten wir es dann gleich gründlich machen. Du solltest mal den Garten sehen. Der Pool ist auch wieder in Ordnung.« Felix’ Augen werden immer größer. Das Anwesen, ein Haus aus den dreißiger Jahren, war früher ein Ärgernis für die noble Nachbarschaft, unordentlich, baufällig, eine Art ständiges Provisorium, das regelmäßig durch neue Provisorien ergänzt und teilweise ersetzt wurde. Nun macht es den Eindruck dauerhafter Stabilität.

    »Das muß doch reichlich gekostet haben. Gehen die Geschäfte so gut?«

    Er sieht seine Mutter an, bemerkt ein leichtes Flattern der Augenlider. Sein Vater antwortet breit lächelnd.

    »Ich kann nicht klagen. Einige dicke Dinger im Osten – Thüringen und Brandenburg –, und hier tut sich auch langsam wieder was. Alles in allem ist die Entwicklung zufriedenstellend, und wir können zuversichtlich in die Zukunft blicken.«

    Das klingt nun wie aus dem Rechenschaftsbericht des Vorstandes bei der Aktionärsversammlung. Felix erinnert sich, wie schlecht der Laden früher lief, immer am unteren Limit, die Nase gerade so über dem Wasser und in ständiger Gefahr unterzugehen. Architekten gibt es viele, und nur wenige können so gut von dem leben, was sie gelernt haben, wie es Erich Luckmann offenbar kann.

    Wieder betrachtet er das Gesicht seiner Mutter und zum ersten Mal erkennt er die harten Linien, die sich um den Mund gebildet haben, die Ringe unter den Augen, sorgfältig mit den Mitteln der Kosmetik abgemildert, und die tiefen Furchen auf der Stirn. Sie ist älter geworden in der Zeit seiner Abwesenheit, viel älter, als es hätte sein dürfen. Bei ihren Besuchen ist ihm das nie aufgefallen; aber da hat die Freude immer alles andere ausgelöscht, und wirkliche Ruhe hatte man auch nicht miteinander.

    Er umfaßt ihre Schultern.

    »Du siehst müde aus, Mutti. Laß uns reingehen.«

    Die Tür öffnet sich, und seltsam erleichtert bemerkt er, daß im Inneren alles unverändert geblieben ist. Die Möbel stehen noch so, wie er sie in Erinnerung hat, die Lage der Teppiche hat sich nicht verändert, und sogar die Tapete ist noch dieselbe.

    Und plötzlich, von einem Moment auf den anderen, ist er wieder frei; alte, rostige Ketten fallen klirrend von ihm ab, und er spürt die eiserne Klammer von vorhin auf dem Friedhof nicht mehr. Ihm ist, als wären die letzten zwei Jahre ausgelöscht und er stünde wieder an dem Punkt, an dem er damals aufgehört hat, wirklich zu leben.

    2.

    Die Höhe der Regale flößt Respekt ein; und die unüberschaubare Menge an Gedankengut, die auf ihnen lagert, ebenfalls. Achthunderttausend Bände, und dreitausend Handschriften in den Tresoren.

    Wilhelm Ringelnatz hat keine tiefere Beziehung zu Büchern. In den sechzig Jahren seines Lebens hat er nur eine Handvoll gelesen, meist Kriminalromane, und die nicht aus Interesse, sondern eigentlich nur, um sich über die darin beschriebenen Ermittlungsmethoden und das aufregende Leben der Detektive zu amüsieren. Aber was ihm hier entgegenschaut, ist beinahe das gesamte Wissenspektrum der Menschheit des Mittelalters, gesammelt über Jahrhunderte, konzentriert auf einem Fleck und konserviert für die Zukunft. Dieses Bewußtsein nötigt ihm Respekt ab.

    Die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel ist bekannt in der bibliophilen Welt. Die in ihr lagernden Schätze der frühen Buchdruckerkunst und die Sammlung von Werken, die noch früher entstanden sind, faszinieren die Wissenschaft seit vielen Jahren.

    Er war schon einmal hier, in einem anderen Fall, hatte das alte Gebäude aber nicht so prunkvoll in Erinnerung. Die hohe Halle in ihrer barocken Pracht, die sich wie ein zweiter Himmel über ihm wölbt, ist ein würdiger Rahmen für die Zeugnisse der Vergangenheit, und man kann hier nicht anders, als leise und andächtig zu sein.

    Doktor Ernest Bilfinger, der Leiter der Bibliothek, strahlt bei allem, was er sagt und tut, eine bestimmte Art von Zufriedenheit und Stolz aus. Die kleinen, wässrigblauen Augen blitzen aus dem feist-rosigen Gesicht, so als wollte er sagen: »Hier sind wir, ein wertvoller Baustein im Weltwissen, anerkannt in allen Kulturen.« Auch jetzt blitzen sie, obwohl er in die Niederungen krimineller Verirrungen hinabsteigen muß.

    »Wir sind natürlich froh, daß es keines unserer wirklich wichtigen Stücke betrifft. Stellen Sie sich vor, der ›Kopernikus‹, oder gar das ›Evangeliar‹ . . .«

    Er schlägt in aufkommender Panik die Hand vor den Mund, so als müßte er sich am Schreien hindern. Ringelnatz lockert die Krawatte; er steht dem anderen in Leibesfülle in nichts nach, und ihm ist im Moment nicht ganz wohl. Das »Evangeliar«, so wertvoll es auch ist, ist ihm egal, denn es ist nicht bei der Insura, seinem Arbeitgeber, versichert. Wilhelm Ringelnatz ist das, was der Volksmund einen Versicherungdetektiv nennt.

    Er zückt einen kleinen, weißen Block, auf dem gut sichtbar das Logo seiner Gesellschaft prangt: Hermes, Gott der Kaufleute und konsequenterweise auch der Diebe, stilisiert über dem Firmennamen schwebend.

    »Das freut uns auch. Um welchen Band handelt es sich noch mal genau?«

    Bilfinger senkt die Stimme noch weiter, so als könnte eine erhöhte Lautstärke die Aufmerksamkeit weiterer krimineller Elemente erregen.

    »Das Buch heißt ›Traktätlein von dem Kometen, der im November Anno 1638 gesehen worden ist‹.«

    Fragend blickt ihn der andere an.

    »Was ist der Inhalt des Buches?«

    »Wie Sie sich denken können, schildert es das Auftauchen eines Kometen im Jahre 1638. Der Autor hat versucht, sich wissenschaftlich mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen, was in den damaligen Zeiten des Aberglaubens an sich schon ein erstaunlicher Ansatz war.«

    »Ist das Buch wertvoll?«

    Bilfinger verdreht pikiert die Augen. Er ist mittelgroß und sehr dick. Die Reste dessen, was einmal ein mittelblonder Haarschopf war, liegt, sorgfältig nach vorn gebürstet und mit Frisiercreme an die Haut geklebt, quer über der Schädeldecke.

    »Naja, irgendwie schon. Bei einer Versteigerung würde es ein paar tausend Mark bringen, aber ich glaube nicht an Gewinnsucht als Motiv.«

    »Warum nicht? Meist ist Gewinnsucht das Motiv von Diebstählen.«

    Der Direktor blickt jetzt mit verschwörerischem Ausdruck um sich. Der Detektiv zollt der Wandlungsfähigkeit im Mienenspiel des Mannes eine gewisse Bewunderung. Keine Sekunde scheint zu vergehen, ohne daß sich dessen Gesichtsausdruck ändert.

    »Jemand, der ein Buch entwendet, muß sich mit antiquarischem Material auskennen. Er muß wissen, was er wo verkaufen kann. Richtig?«

    Ringelnatz zuckt die Schultern.

    »Wahrscheinlich.«

    »Ganz bestimmt.«

    Überschlaue Typen hat Ringelnatz noch nie ausstehen können. Aber vielleicht ist die aufkommende Aversion auch auf seinen momentan angegriffenen Gesundheitszustand zurückzuführen. Schön beim Aufstehen am Morgen war ihm übel, und er fühlte sich müde und schwach wie schon die ganzen letzten Wochen.

    Die Untersuchung vor ein paar Tagen geht ihm durch den Sinn. Er ist nicht

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