Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz & Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht
Von Jean Paul
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Über dieses E-Book
Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz: eine Satire von Jean Paul, die im Februar 1808 bei Cotta in Stuttgart erschien.
Jean Paul (1763 - 1825; eigentlich Johann Paul Friedrich Richter) war ein deutscher Schriftsteller. Er steht literarisch gesehen zwischen Klassik und Romantik. Die Namensänderung geht auf Jean Pauls große Bewunderung für Jean-Jacques Rousseau zurück.
"Er war ein Träumer und Phantast, ein eigenwilliger Humorist und ein Idylliker, er war ein Schriftsteller, der die Kategorien der Literaturgeschichte sprengt. So sind denn auch die Helden seiner Romane und Erzählungen: Individuen, die es schwer haben, ihren Platz im Leben zu finden, und deren Seelenleben von der verblüffenden Menschenkenntnis des Autors zeugt." Marcel Reich-Ranicki
Jean Paul
Jean Paul kommt 1764 in Wunsiedel im Fichtelgebirge als Sohn eines protestantischen Landpfarrers zur Welt. Materielle Not und väterliche Strenge bestimmen sein Leben und auch zunächst seinen Ausbildungsweg: das Studium der Theologie und Philosophie kann Johann Paul Friedrich Richter, der sich später Jean Paul nennt, nur auf Grund eines Armenzeugnisses 1791 in Leipzig beginnen. Frühe schriftstellerische Versuche zeigen ihm jedoch seine eigentliche Profession auf, der er nachgeht und 1783 mit den Grönländischen Prozessen sein erstes satirisches Werk vorlegt. Der materielle Erfolg bleibt jedoch aus, so daß Jean Paul ein Jahr später völlig verarmt sein Studium aufgeben muß. Hofmeister- und Hauslehrerstellen bringen ihm ein kärgliches Einkommen. Der Durchbruch gelingt erst mit dem Roman Die unsichtbare Loge von 1792. Mit dem Hesperus, der 1795 erscheint, erobert er sich das große Publikum. Als er ein Jahr später Weimar besucht, gehört er nicht nur zu den anerkannten Autoren der deutschen Nationalliteratur, sondern zu den beliebtesten Autoren der Zeit überhaupt.Eine philosophisch reflektierte Theorie der modernen Dichtung entwickelt Jean Paul 1804 in der Vorschule der Ästhetik. Historisch gehört dieser Text zur Frühromantik, in die von Herder und Jacobi mitgeprägte Strömung eines spirituellen Realismus. Im gleichen Jahr siedelt er mit Frau und zwei Kindern nach Bayreuth um. Nach schwerer Krankheit und fast erblindet verstirbt Jean Paul dort 1825.
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Buchvorschau
Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz & Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht - Jean Paul
Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht
Inhaltsverzeichnis
Wir haben alle schon verdrüßliche Geschichten gelesen, die uns mit der lieblichsten Irrhöhle voll Verwicklungen bezauberten und ängstigten und uns unruhig nach einem hellen Ausgang bogenlang herumgreifen ließen, bis endlich die unerwartete Zeile »als ich erwachte« uns die ganze Höhle unter den Füßen wegzog. Bei dem zweiten Lesen fanden wir dann alles durchsichtig und hell und waren nicht mehr zu peinigen. Eine solche trockne Historie ist gottlob meine von der wunderbaren Nacht-Gesellschaft nicht; ich war leider bei der Erscheinung derselben so wach als jetzt und saß am Fenster.
Vorher muß sich der Leser einige Personalien von mir gefallen lassen, damit mein erbärmliches Benehmen gegen die Nacht-Sozietät, das meinen Mut mehr verbirgt als zeigt, zu erklären ist. – Nachmittags am Valettage des ein Jahr lang sterbenden Säkulums ging ich von 3 bis 8 Uhr nachdenkend in meinem Schreibzimmer auf und ab, weil ich vor Migräne nichts schreiben konnte; und hatte besonders über den unabsehlich-langen, um die Erde kriechenden Strom der künftigen Zeit meine schwermütigen Gedanken, wovon ich am Neujahrstage die besten ausklauben und niederschreiben wollte für dieses Werkchen. In die hinter fünf, sechs Jahrtausenden liegende Vergangenheit zurückzuschauen, gibt uns mutige Jugend-Gefühle; sie kommt uns als unsere antizipierte Kindheit vor; hingegen vorauszublicken weit über unsern letzten Tag hinweg und unzählige Jahrtausende herziehen zu sehen, die unsern bemooseten Spiel-und Begräbnisplatz immer höher überschneien und auf uns neue Städte und Gärten und auf diese wieder neuere und so ungemessen fort aufschlichten, dieses ewige, immer tiefere Eingraben und Überbauen verfinstert und belastet uns das freie Herz. Dadurch verdorret uns die Gegenwart zur Vergangenheit, und sie wird von totem Schimmel traurig überzogen. Der Geist des Menschen hasset nach seiner Natur die Veränderung, erstlich weil er sie außer sich nur bei großen Schritten und nie in ihrem ewigen Schleichen wahrnimmt, und zweitens weil er sie in sich weniger merkt, wo er der unveränderliche Schöpfer seiner eignen ist; dem Regenbogen und Lauffeuer in und außer sich sieht er nicht an, daß immer nur neue Tropfen und neue Funken sie bilden.
Und gerade am Nachmittage, wo ich mein Inneres mit Trauertuch ausschlug und den Flor anlegte für das einschlummernde Jahrhundert, war ich ganz allein in meinem Schlößlein zu Mittelspitz – Hermine war in der Stadt bei einer kranken Freundin und wollte erst nachts heimkommen, »obwohl noch in diesem Jahrhundert«, nach dem gewöhnlichen säkularischen Scherz, den der Mensch nicht lassen kann – ich saß oben einsam in meinem Museum, unsere Magd war unten im Bedientenzimmer – wegen der grimmigen Kälte lagen alle Lehnsmänner meiner mittelspitzischen Krone in ihre Schneckenhäuschen eingespündet, und das dunkle Dörfchen war still. –
Mir war nicht wohl, sondern etwa so in meiner Haut, als hätte sie mir Nero harzig anpichen und annähen lassen, um mich in seinem Garten zu lanternisieren. Ein ätzenderes Sublimat für flüssige Gelehrten-Nerven konnte wohl schwerlich erdacht werden, als rechte Dezemberkälte ist; jeder Schnee ist ein Märzschnee, der sie abfrisset, der Frost ist ein Baumheber für unsere Wurzeln, kurz, wenn Todes-und Fieberkälte ein Autodafé ist, so ist Winterkälte ein Autillodafé. Leben kann man ohnehin nicht, nur leiden. So schwächten nun Frost und Migräne gemeinschaftlich alle Entschlossenheit in mir, die ohnehin zur Winterszeit in keinem Wesen zunimmt, das nicht gerade ein Wolf ist.
Beklommenheit umspannte mein Herz, ich sah den Menschen trotzig mit dem Schwerte in der Hand unter einem über dem Haupte fechten und sah das Haar nicht einmal, das es trug. Noch engbrüstiger setzte ich mich nach dem einsiedlerischen Essen in die Fenster-Ecke, bedeckte die Augen mit der Hand und ließ alles vor mir vorüberziehen, weswegen der Mensch das Leben eitel und nichtig nennt – schnell eilten die künftigen Jahrhunderte, wie Fixsterne vor dem Sternrohr, vorbei, endlich kamen lange Jahrtausende und trieben ein Volk nach dem andern aus den Städten in die Gräber; die Generationen verfolgten einander wie fliegende Strichregen und schossen in die Grüfte herunter und rissen den Himmel auf, worin der Todesengel sein Schwert durch die Welten hob und keine Sterbenden, sondern bloß das Sterben sah. –
Während dieser Phantasien war mir einige Male gewesen, als hört’ ich leise Worte; endlich vernahm ich nahe an mir diese: »Die drei Propheten der Zeit«; ich tat die Hand vom Auge – – die wunderbare Nacht-Gesellschaft war im Zimmer. Ein langer, totenblasser, in einen schwarzen Mantel gewickelter Jüngling mit einem kleinen Bart (wie der an Christusköpfen), über dessen Schwarz die Röte des lebendigen Mundes höher glühte, stand vor mir, mit einem Arme leicht auf einen Stuhl gelehnt, worauf ein erhaben-schöner, etwa zweijähriger Knabe saß und mich sehr ernst und klug anblickte. Neben dem Stuhle kniete eine weißverschleierte, mit zwei Lorbeerkränzen geschmückte Jungfrau, von mir weggekehrt gegen den hereinstrahlenden Mond, eine halb rot, halb weiße Lankaster-Rose in der Hand, eine goldne Kette um den Arm – die Lage vor dem Knaben schien ihr vom schwesterlichen Zurechtrücken seines Anzugs geblieben zu sein. Sie glich mit der niedergebognen Lilie ihrer Gestalt ganz Lianen, wie ich mir sie denke, nur war sie länger. Auf dem Kanapee saß eine rotgeschminkte Maske mit einer seitwärts gezognen Nase und mit einer Schlafmütze; neben ihr ein unangenehmes mageres Wesen mit einem Schwedenkopf und feuerroten Kollet, höhnisch anblinzelnd, das nackte Gebiß entblößend, weil die Lippen zu kurz waren zur Decke, und ein Sprachrohr in der Hand.
Himmel! wer sind sie, wie kamen sie, was wollen sie? – An Räuber dacht’ ich nicht im geringsten – so nahe auch der Gedanke lag, es könnten ja während unsers Dialogs Helfershelfer mich ausstehlen, mir die Juwelen einpacken und das Federvieh aus den Ställen treiben –; die edle feierliche Gestalt des bleichen Jünglings vertrat mir sogleich diesen kleinlichen Argwohn. Ob es nicht Wesen entweder der zweiten Welt oder meines Gehirnglobus sind? Wahrlich diese Frage hatt’ ich später zu tun. Sonderbar wars, daß sie mir alle ganz bekannt vorkamen, sogar die Stimme der Maske, indes ich mich doch keines Namens entsann.
Aus einem gelinden Nervenschlag – nicht aus elender Mutlosigkeit muß es abgeleitet werden, daß ich unvermögend war, mich zu regen, geschweige zu erheben, als der hohe Jüngling winkte und langsam sagte: »Tritt in das Reich der Unbekannten und frage nicht, wir verschwinden mit dem Jahrhundert – das eine Jahrhundert erntet der Mensch, das nächste erntet ihn – der Engel der Zeit¹ fliegt mit sechs Flügeln, zwei decken ihren Ursprung, zwei decken ihren Ausgang, und auf zweien rauscht sie dahin – Heute heben wir die Flügel auf, die auf ihrem Antlitz liegen!« – »Schaudert nicht, mein Herr,« (sagte die Maske und ihrzete mich, wie Leute tun, die lange in Frankreich und Italien gewesen) – »wenn alles Erscheinung hienieden ist, so ist der Schauder darüber auch eine und nicht sehr erheblich – der Ernst ist ein wahrer Spaßvogel und der Spaß ein Sauertopf, ich stehe mit beiden auf freundschaftlichem Fuß – Bossu versichert, in die Nacht sei keine Tragödie zu verlegen; das wollen wir heute sehen, wenn der Polterabend des Jahrhunderts verstummt in einer Minute um 12 Uhr, nämlich in der sechzigsten.« –
»Mein Name ist Pfeifenberger« (redete der widrige Schwedenkopf mich durch das angesetzte Sprachrohr, aber leise, an) – »Wir sind die drei Propheten der Zeit und weissagen Ihm, mein Freund, so lange, bis das Jahrhundert dezembrisiert ist. Ich spreche zuerst.« –
Die Jungfrau schwieg, der Knabe sah unwillig gegen den Schwedenkopf, der schöne Jüngling hatte die Hand der Jungfrau genommen und beschauete auf dem Ringe ein herrliches großes Auge, dem gleich, unter welchem sonst die Maler den Allsehenden vorstellten.
Pfeifenberger fing an: »In der künftigen Zeit wird freie Reflexion und spielende Phantasie regieren, keine kindischen Gefühle; man wird keinen Namens-und Geburts-und Neujahrstag mehr feiern und kein Ende des Jahrhunderts, weil man nicht weiß, wenn es schließet, ob bei dem ersten Viertel-oder letzten Glockenschlage, oder ob bei dem Ausgehen oder bei dem Anlangen des Schalles; und weil in jeder Minute 100 Jahre zu Ende sind. Auch wird die Erde, eh sie verwittert, noch oft von anno 1 an datieren, wie die Franzosen – Die Juden und Priester werden aufhören, und die Völker, die Weiber, die Neger und die Liebe frei werden – Sprachgelehrte werden in alten Bibliotheken nach einer Edda und nach einer Bibel forschen, und ein künftiger Schiller wird das Neue Testament lesen, um sich in die Charaktere eines Christen und Theisten täuschend zu setzen und dann beide aufs Theater – Griechenland wird wie Pompeji den Schutt der Zeit abwerfen, und von keiner Lava übergossen, werden seine Städte in der Sonne glänzen – Große Geschichtsforscher werden, um