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Talmi
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eBook373 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

Aus dem Leben eines charmanten Taugenichts in der Zwischenkriegszeit, erzählt von einer Frau, die ihn längst durchschaut hat und ihn dennoch liebt. Der Chauffeur Ernst Ronasek will hoch hinaus und erschwindelt sich in den rasanten 1920ern als "Freiherr von Ronay" Herz und Geld so mancher reichen Dame. Sehr zum Verdruss der Künstlerin Susanne Sedlak, die neben den Sorgen über den aufkommenden Nationalsozialismus auch um das Seelenheil ihrer heimlichen Liebe bangt. Als die Nazis die Macht ergreifen und ihre Künstlerkollegin Aglaia deportiert wird, muss Susanne feststellen, dass Ernst die Seiten gewechselt hat ...
"Talmi" ist ein tiefgründiger und dennoch gewitzter Roman über Täuschung und Opportunismus, über Kunst und Widerstand – und über aufopferungsvolle Liebe.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Atelier
Erscheinungsdatum16. Sept. 2019
ISBN9783990650226
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    Buchvorschau

    Talmi - Oskar Jan Tauschinski

    Epochenrand

    EINLEITENDE INDISKRETIONEN

    Gleich eingangs sei gesagt:

    Die hier veröffentlichten Aufzeichnungen stammen nicht von mir, sondern von einer Dame, die unter keinen Umständen genannt werden will. Das wird jeder verstehen, der sich der Mühe unterzieht, das Folgende zu lesen. Nicht, daß die Dame Grund hätte, sich ihres Handelns zu schämen. Im Gegenteil! Sie schneidet recht gut bei ihren Bekenntnissen ab. Es liegt vielmehr an dem erzählten Stoff selbst, an dessen heiklem Charakter und an dem traurigen, nie so ganz aufgeklärten Ende des Helden.

    Ich glaube, Frau Susanne befürchtet noch nachträglich, ins Gerede der Leute zu kommen und mit den in die Handlung verwobenen Personen – die sie nicht immer geschont hat – in Konflikt zu geraten. Der zweite, weit wichtigere Grund, der Frau Susanne veranlaßt, inkognito zu bleiben, ist die Tatsache, daß sie in verhältnismäßig späten Jahren ein neues Leben begonnen hat, gleichsam in einer neuen Welt wiedergeboren wurde und daher unbeschwert von jeder Erinnerung an ein früheres Erdendasein wie ein Kind ihr Glück genießen möchte. Ihr »voriges Leben«, wenn man sich dieser etwas metaphysischen Wendung bedienen darf, war schwer und traurig genug. Sie hat sich darin bewährt, hat den Mut nie sinken lassen, ist unverbittert und – trotz ihres verkrümmten Rückgrates – ziemlich aufrecht ihren Weg gegangen, und so muß man ihr das Glück gönnen, dessen sie in ihrer neuen Inkarnation teilhaftig geworden ist.

    In Frau Susannens Fall lernt man wirklich an das Walten einer höheren Gerechtigkeit glauben, denn mit irdischen Dingen geht es nicht zu, wenn eine alleinstehende, verwachsene Frau nahe an Fünfzig, die obendrein kein Vermögen besitzt und von ihrer Hände Arbeit lebt, – heiratet. Nein, nicht einen verwitweten Pensionisten, auch keinen staubgrauen Buchhalter, der für drei unmündige Kinder sorgen muß und nun nach einer Verzweifelten sucht, die nichts mehr zu verlieren hat. – Susannens Mann, Mister Reginald C. Hopkins, war, als er um sie anhielt, ein recht hübscher, etwas blaß und kränklich aussehender Mensch Mitte der Dreißig. Er ist Botaniker, Leiter eines wissenschaftlichen Instituts in Montreal. Seine Schriften sollen in Fachkreisen bekannt und geschätzt sein. Ja, es ist möglich, daß der eine oder andere Leser seine Arbeiten kennt, ohne zu wissen, daß es die seinen sind, denn Mister Hopkins heißt natürlich in Wirklichkeit nicht Hopkins, sondern hat einen anderen englisch klingenden Namen, und sein Laboratorium ist auch nicht in Montreal, sondern in der Hauptstadt eines anderen Staates innerhalb des Commonwealth. Was aber stimmt, ist das Motiv seiner Heirat: Liebe. Ich kann seine Empfindung nicht teilen, aber ich kann sie doch gut verstehen. Susanne ist liebenswert, obgleich nicht immer liebenswürdig, und wenn man über die äußeren Mängel ihrer Erscheinung hinwegsehen lernt, so hat man wahrlich Chancen, sehr glücklich mit ihr zu werden. Jawohl! Die Chancen des Glücks sind durch diese Wahl für Mister Hopkins weit größer, als wenn er sich eine junge Person mit geradem Rücken ausgesucht hätte, deren Wesen noch nicht durch das Läuterungsverfahren des Lebens gegangen ist.

    Ich habe Frau Susannens Manuskript für dieses Buch verwendet, indem ich die wirklichen Namen durch andere ersetzte, indem ich Begleitumstände, Ortschaften, Straßenbezeichnungen veränderte, indem ich ausließ, was mir allzu persönlich und intim erschien, und einflickte, was ich für wichtig und des Sagens wert erachtete.

    Susanne Sedlak und Ernst Ronasek hießen in Wirklichkeit anders, wohnten in anderen Stadtvierteln und gingen anderen Beschäftigungen nach. Susanne ist nicht Keramikerin, wie ich es hier gleich behaupten werde, sondern in einer anderen Disziplin des Kunsthandwerks – als Meisterin ihres Faches! – tätig. Ja, sie ist nicht einmal bucklig, sondern hat ein anderes Körpergebrechen. Mehr sage ich nicht. Die platte Realität interessiert uns nicht weiter. Wir wollen ja eine literarische Gestaltung der Wirklichkeit, eine Deutung des alltäglichen Lebens in gekürzter, verdichteter und bewußt ins rechte Licht gerückter Form – wir wollen statt der Wahrheit die Wahrhaftigkeit, also einen Roman.

    VON TÜREN UND KRIPPEN

    Ich habe Susanne Sedlak im Jahre 1946 kennengelernt, im Herbst.

    Wie alljährlich im November war ich auf der Suche nach passenden Weihnachtsgeschenken für meine Freunde. An Büchern und praktischen Dingen des täglichen Gebrauchs war noch nicht viel zu bekommen, so mußte man sich wohl oder übel zur Anschaffung von Sachen bequemen, die jeder mit den begeisterten Worten: »Wie hübsch! Ganz reizend! Nein, bezaubernd!« betrachtet, ohne daß in ihm auch nur der leiseste Wunsch keimt, sie zu besitzen. Ich meine die Erzeugnisse des Kunstgewerbes, das nach jedem Krieg eine kurze intensive Blüte erlebt und dann, ganz plötzlich wieder an den äußersten Rand der Produktion gedrängt, ein kümmerliches Eigenbrötlerdasein fristet.

    Das Los der Kunstgewerbler ist nicht zu beneiden; da haben es die Wurst- und Textilfabrikanten doch erheblich besser. Wenn die Selchwaren und die Wollstoffe wieder in den Auslagen erscheinen, dann beginnen die kunstvoll glasierten Tongefäße, die geschnitzten Holzkassetten, die raffiniert gemusterten Strohmatten und edel geformten Lampenschirme langsam, aber unaufhaltsam auf ihren Regalen zu verstauben – bis zu dem Zeitpunkt, da alle wieder Fett ansetzen und die Kleiderkästen ihren Inhalt kaum noch bergen können.

    Susannens Kunst allerdings war krisenfest. Ihr Name hatte sich durchgesetzt. Nicht nur in Fachkreisen wußte man von ihr und ihrer Arbeit; auch das Käuferpublikum kannte sie. Eine Sedlak-Keramik zu besitzen oder zu schenken, gehörte schon vor dem Krieg zum guten Ton, und man hatte nicht nur in den Schaufenstern der besseren Kunsthandlungen und in der geschmackvollen Auslagenvitrine, die ihr ein großes Porzellangeschäft am Graben zur Verfügung stellte, ihre originellen Fabeltiere und Figuren gesehen, sondern auch in Privathäusern.

    Nun war ich darauf aus, eine Weihnachtsgabe für eine zartbesaitete und gefühlvolle Dame zu ergattern, welche sich diese unmodernen Eigenschaften bis in unsere Tage herübergerettet hatte. Vielleicht, so dachte ich, könnte man sie mit einer Krippe erfreuen.

    Ich fand Susanne Sedlaks Adresse im Telephonbuch und begab mich in die Siebensterngasse. Das Haus hatte starke Bombenschäden davongetragen, war aber noch bewohnbar. Die Tür im zweiten Stock, an der ein getriebenes Messingschild mit der Inschrift »Atelier Sedlak« befestigt war, mußte der Luftdruck aus den Angeln gerissen haben. Sie war wohl wieder eingehängt worden, und ihre Wunden schienen mit Hilfe frischer Holzteile notdürftig ausgeheilt, aber noch hatte sich kein Lack über das Alte und das Neue vertuschend und ausgleichend gebreitet. Anstatt ihrer unpersönlichen Pflicht des schweigsamen Abschließens nachzukommen, sprach diese Tür in beredten Worten von ihren Erfahrungen. Davon, wie sie ursprünglich als Hüterin des intimen Friedens getischlert worden sei und wie sie im Lauf des letztvergangenen Jahrzehnts nur noch dem Schein nach das Privatleben der Bewohner vor der Außenwelt geschützt habe, denn in Wahrheit sei ein privates Dasein ja schon als solches staatsfeindlich und unstatthaft gewesen. Privatleben im Krieg – das wäre ja zum Lachen! Aber die Bewohnerin der Räumlichkeiten dahinter hatte sich lange in der Illusion gewiegt, die Tür sei imstande, sie vor zudringlichen Augen und Ohren zu bewahren, und war fern davon gewesen zu lachen, als sie anläßlich eines Gestapoverhörs erkennen mußte, auf einer offenen Schaubühne gelebt zu haben. Denn das Tosische Schloß der Eingangstür vermochte ja nur gegen bescheidene Diebe und Einbrecher Schutz zu gewähren, die Koryphäen des Verbrechens aber nicht im mindesten zu behindern.

    Diesem jammervollen Scheindasein der Tür hatte ein Treffer, der ins Hinterhaus einschlug, ein Ende bereitet. Sie war trotz des Tosischen Schlosses mit Krachen an die Wand geflogen und mag diesen Schicksalsschlag vielleicht sogar als Erleichterung empfunden haben: als Befreiung von einer unwürdigen, verlogenen Rolle.

    Und nun war man bemüht, sie wieder in ihre alten Rechte und Pflichten einzusetzen. Man hatte sie geleimt und genagelt und man verschloß sie. Würde sie wohl ihre ehemalige vornehm distanzierende Bedeutung wiedererlangen? Wer konnte das damals wissen! Im allgemeinen kommt ja Vergangenes nicht zurück, und wenn es kommt, so scheint es uns seltsam leblos, unzeitgemäß, oft sogar peinlich fremd, weil wir selbst uns verändert haben.

    Dies alles sagte mir die Tür in dem kurzen Augenblick, ehe mir aufgetan wurde. Eine kleine Person von unbestimmbarem Alter, graublond, mit großer Nase und hoher, gebuckelter Stirn, stand vor mir. Ich nannte meinen Namen und mein Anliegen. Sie bat mich einzutreten. Es war die Künstlerin selbst. – Sie wandte sich, um mir den Weg ins Zimmer zu weisen, und nun, da ich sie von hinten sah, bemerkte ich die Ungleichheit ihrer Schulterblätter, von denen das linke deutlich hervortrat und so der ganzen gedrungenen Gestalt eine Krümmung nach rechts diktierte, während der Kopf auf dem zu kurzen Hals – als wolle er das verlorengegangene Gleichmaß wiederherstellen – nach links geneigt war.

    Das Zimmer, das wir betraten, war recht groß, warm geheizt und sehr gemütlich. Eigentlich befand sich nichts darin, was besonders schön, kostbar oder originell gewesen wäre. Niedrige, bequeme Sitzgelegenheiten um einen ebenfalls niederen runden Tisch bildeten mit einer Stehlampe eine Ecke. Die den Fenstern gegenüberliegende Wand nahm ein einfaches schwarzes Bücherregal ein, das bis zur Decke hinauf vollgestopft war. Ein breiter Schlafdiwan und ein kleiner Schreibtisch bildeten den Rest der Einrichtung. In der Mitte des Raumes lag ein alter, etwas schadhafter Perserteppich.

    »So. Also jetzt im November kommen Sie und wollen natürlich noch vor Weihnachten bedient sein«, sagte Frau Sedlak mit gespielter Entrüstung, aber ich fühlte, daß sie wirklich ein wenig ärgerlich über die Zumutung war.

    Demütig gab ich zu, mein Ansinnen sei gewissermaßen eine Unbescheidenheit, wenn sie nun aber doch Gnade vor Recht ergehen lassen wolle … Und ich dachte im stillen: Die tut ja so, als ob sie Geschenke austeilen müßte!

    »Nun, und wie stellen Sie sich Ihre Krippe vor? Haben Sie da konkrete Wünsche?« Sie bot mir einen der bequemen Kanadier an und nahm selber Platz.

    »Nein«, sagte ich, »eigentlich nicht. Ich habe nur so vage an eine Gruppe von Hirten und Königen um das Jesuskind gedacht, ganz bescheidene, innige Gestalten …« Ich ließ den Satz unbeendet, denn ich wußte eigentlich nicht, was ich weiter sagen sollte. Auch schien mir, als habe sich um Frau Sedlaks Mund ein leiser Zug von Mißbilligung gezeigt. Eigentümlich ausdrucksreich war dieser Mund. Groß und schmallippig lag er als gerader Strich unter der langen Nase. Nur die äußersten Mundwinkel waren ein wenig aufwärts gezogen und verliehen zusammen mit der weichen Linie der Wangenpartien dem Gesicht etwas tröstlich Hoffnungsvolles und Tapferes, während die Augen unter der hohen Stirn eher resigniert dreinschauten.

    »Innig?« sagte sie nach einer kurzen Pause. »Nun ja, das läßt sich hören. Eine gewisse Verinnerlichung müssen Krippenfiguren gewiß haben. Aber warum denn um Himmels willen bescheiden? Sind wir in unserem Alltag nicht ärmlich genug geworden? Sollen wir denn auch unsere Feste in Bescheidenheit feiern? Das liegt unserem Wesen doch gar nicht. Wir sind für die Sonnenseite des Lebens geboren hierzulande. In der Not versagen wir kläglich, das dürften Sie wohl auch in den letzten Jahren gemerkt haben. – Aber lassen Sie mich nur machen! Die Krippe können Sie am zwanzigsten Dezember abholen; und wenn sie Ihnen nicht gefällt, dann gnade Ihnen Gott!« Sie drohte mir energisch mit erhobenem Finger. Aber gleich danach schien sie sich eines Besseren besonnen zu haben und fuhr milder fort: »Übrigens können Sie schon früher anrufen; ich werde mich recht beeilen, denn – falls die Krippe Ihnen nicht zusagt, brauchen Sie sie auch nicht zu kaufen, dann müssen Sie aber noch etwas Zeit haben, um ein anderes Geschenk für die Dame zu besorgen.«

    Ich verabschiedete mich mit gemischten und widerstrebenden Empfindungen, die zu analysieren ich jedoch vergaß. Wo käme man hin, wollte man jede flüchtige Bekanntschaft unter die Lupe nehmen?

    Als ich das Haus verließ, hielt gerade ein Jeep am Rande des Gehsteigs. Ein schlanker, noch junger Mensch in Zivilkleidern, mit schmalen Schultern und einem liebenswürdigen Studierkopf sprang heraus, warf dem uniformierten Fahrer ein paar Worte in unverständlichem Englisch zu und verschwand fast laufend im Haustor.

    Als ich mich etwa sechs Wochen später abermals zu Frau Sedlak begab, um die Krippe abzuholen, stand wieder der Jeep vor dem Haus, und auf der schlecht beleuchteten Stiege begegnete ich demselben Mann, der diesmal ebenso eilig seinem Auto zuzustreben schien.

    Frau Sedlak war guter Dinge. Sie scherzte, als sie mich hereinführte, nannte mich einen gestrengen Auftraggeber und drückte übertriebene Befürchtungen aus, ob es ihr wohl gelungen sein mochte, sich ihrer Aufgabe zur Zufriedenheit des Brotherrn entledigt zu haben.

    Über den runden Tisch im Wohnzimmer war eine grüne Samtdecke gebreitet, und darauf hatte die Keramikerin die Krippe gestellt. – Nur mit Mühe vermochte ich meine Überraschung zu meistern, die aus einfachem Erstaunen und sofortiger Bezauberung zusammengesetzt war.

    Da standen die Figurinen. – Nein, sie standen gar nicht. Es war ein Kommen und Gehen, ein Niederknien und Herzudrängen, ein »Schaut her!« und »So kommt doch schneller!«, ein »Ach!« und »Oh!« und »Halleluja!« vor einer Gartenlaube mit breiter Steinterrasse, auf der die Heilige Familie ihren Sitz hatte. Das war beileibe kein Bethlehem im herkömmlichen Sinn, eher ein Volksfest, eine barocke Weihnachtspantomime im lampionerhellten Belvederegarten. Maria war ein süßes Mädel vom Grund, und der Josef mit dem Umhängebart konnte im Zivilberuf Fiaker sein. Das Morgenland der Heiligen Drei Könige mochte Währing oder Döbling heißen, und die Hirten und Bauernfrauen waren in Favoriten daheim und sprachen zu Hause böhmisch. Aber nun hatten sich alle mit großen Pelerinen und Umhängen drapiert, hatten seidene Schlafröcke angezogen und Papierkronen aufgesetzt und trugen ihre Gewandung mit einem selbstverständlichen, großsprecherischen Pomp, als seien sie es gar nicht anders gewöhnt. Freude und Ausgelassenheit herrschten in der bewegten Gruppe, die trotzdem etwas von wirklicher Frömmigkeit an sich hatte. Alle liebevollen Blicke und innigen Gebärden galten dem Jesuskind, das in der Mitte in einem Korb lag. – Nein, nicht dem Jesuskind, dem »Christkindl«! Es war denkbar, daß man nach der gebührenden Anbetung, nach den Weihnachtsliedern und Chorälen, den Weg zu lustigeren Noten ungeniert finden werde. »Mei Muatterl war a Weanerin« lag ja schon in der Luft und hätte zu Maria, die man daheim gewiß Mizzi nannte, ausgezeichnet gepaßt.

    Mein Entzücken war so groß, daß es nicht einmal bei der Nennung des sehr hohen Preises nachließ. Ich zahlte. Wir packten die Figurinen vorsichtig in Seidenpapier und Holzwolle und betteten sie in den Koffer, den ich eigens dazu mitgebracht hatte.

    Ja – nun hätte ich eigentlich gehen sollen. Aber wir waren unversehens ins Gespräch gekommen, und Frau Sedlak wurde mir mit jedem Satz sympathischer und vertrauter. Wahrscheinlich hatte ich erst auf dem Umweg über ihre Arbeit den Weg zur Künstlerin selbst gefunden.

    Als ich aufbrach, war es elf Uhr abends.

    In der Folgezeit habe ich unzählige gemütliche Stunden in Frau Sedlaks Wohnzimmer verbracht. Meist mit ihr und Mister Hopkins zu dritt. Aber dann wurde der junge Gelehrte aus dem Heeresdienst entlassen, der ihm ohnedies nur lästig war, und übernahm wieder die Leitung des biologischen Laboratoriums in Montreal.

    An einem heißen Sommertag des Jahres 1949 habe ich die beiden zur Westbahn begleitet. Mister Hopkins’ Augen lachten und sein schmales Gesicht war gerötet, als er seiner körperbehinderten Frau beim Einsteigen behilflich war.

    Der Zug setzte sich in Bewegung. Ich winkte noch eine Weile mit der Hand und dann, als die Entfernung größer wurde, mit der Aktentasche, die mir plötzlich sehr schwer schien. – Ach richtig: Frau Susanne hatte mir im letzten Augenblick, ehe wir die leergeräumte Wohnung verließen, ein großes, flaches Paket übergeben.

    »Das habe ich einmal geschrieben«, hatte sie gesagt und war mir dabei etwas verlegen erschienen. »Aber nun hat es keinen Wert mehr für mich. Es stammt aus einem anderen Leben, das abgelaufen ist. Ich wollte es schon verbrennen, aber dann sind Sie mir eingefallen. Für einen Literaten ist so etwas vielleicht interessant. Versprechen Sie mir nur, das Manuskript zu vernichten, sobald Sie es gelesen haben. Ich verlasse mich diesbezüglich auf Sie! – Und noch eines: Bitte, lesen Sie es nicht gleich, gönnen Sie sich – und mir – ein wenig Zeit.«

    TRAVIATA SINGT FÜR SPORTLICHE JUGEND

    (Susannens Aufzeichnungen vom 12. März 1945)

    Wie glücklich bin ich über die Petroleumlampe, die mir Margot verschafft hat!

    So weit haben wir es im Zeitalter der Technik gebracht, daß man sich heute in einer Zweimillionenstadt nur helfen kann, wenn man im Hof einen Brunnen und daheim einen altmodischen Kohlenherd besitzt. Wer überdies noch genügend Petroleum zum Leuchten hat, muß mit dem Neid der Nachbarn rechnen. Die elektrischen Lüster, die Gas- und Badeöfen, die Wasserleitungshähne und Radioapparate sind verkümmerte Organe im Wohnungskörper geworden – müßige Zeugen der Vergangenheit, Staubfänger, ebenso nutzlos wie die Makartbuketts und Streusanddosen unserer Großmütter.

    Zwar stinkt meine Lampe höllisch und blakt wie ein Fabrikschlot, aber sie leuchtet doch auch, und ich kann im verdunkelten Zimmer vor meinem Schreibblock sitzen und an dich denken, Ernstl, anstatt mich im Finstern schlaflos auf dem Diwan herumzuwälzen und nur Gedanken über ein ungewisses Morgen und ein unwahrscheinliches Demnächst wiederzukäuen.

    Was nützt es, daß der Krieg zu Ende geht? Wird man denn seine letzten Phasen überstehen? In längstens vier Wochen beginnt bei uns das, was Warschau und Budapest schon hinter sich haben. Warum sollte für Wien eine Ausnahme gemacht werden? Aber, mein Gott, vier Wochen! Vielleicht sorge ich mich da um eine Zukunft, die ich gar nicht mehr erleben werde.

    Nur die Vergangenheit ist fester Boden, auf dem der Fuß nicht strauchelt, und darüber hat die Erinnerung einen soliden Laufteppich gelegt, breit oder schmal, bunt durchwirkt oder grau, aber wohlbekannt und vertraut, denn wir haben ihn ja aus eigenen Erlebnissen geknüpft.

    Der meine ist weder farbenfroh noch breit, obwohl ich mein Leben lang bemüht war, ihn möglichst »kunstgewerblich« zu gestalten. Einem einsamen Krüppel stehen nicht viele bunte Fäden zur Verfügung. Alles, was rot und leuchtend daran ist, stammt von dir, Ernstl! Vielerlei Farben hast du für meinen Teppich geliefert, wohltuende und grelle, aber zum Schluß hast du das Muster heillos verwirrt.

    Drei Jahre liegt dein Tod nun zurück, und ich grüble seither ununterbrochen darüber nach, ob es so hat kommen müssen. Vergeblich mühe ich mich, Logik in dieser wüsten Ungereimtheit zu finden, die du dein Leben nanntest, und denke oft, daß ich dich wohl nicht gut genug gekannt habe. Aber wer hat sich so viel mit dir beschäftigt wie ich? Wer hat jedes deiner Worte auf die Waagschale gelegt, jede deiner Taten und Untaten so genau registriert und kommentiert? Beinahe hätte ich jetzt geschrieben: Wer hat dich so geliebt? Aber das wäre falsch und unwahr. Nein, nein, geliebt habe ich dich nie! So viel Selbstachtung und Vernunft habe ich doch immer aufgebracht. – Da zeigt es sich schon, wie vorsichtig man beim Schreiben sein muß. Das Papier verleitet zur Übertreibung. Und dabei setze ich mich doch gerade darum zum Schreibtisch, um schwarz auf weiß die objektive Wahrheit niederzulegen. Das hier sollen nicht meine Memoiren werden, sondern nur Tagebuchblätter, die dich und dein vertanes Leben betreffen. Wenn erst dein Dasein in Worte und Schriftzüge gebannt vor mir liegt, werde ich vielleicht erkennen, warum es so mit dir gekommen ist, warum alle Gunst des Schicksals und alle Gaben der Natur an dir verschwendet waren. Vielleicht aber – und dies ist der Hauptzweck meiner Arbeit – gelingt es mir, nachzuweisen, daß du ganz bestimmt unschuldig warst an Schwester Josefas folgenschwerem Unfall und daß dein eigener Tod eine Verkettung tragischer Zufälle und nicht die Verzweiflungstat eines Verantwortungslosen gewesen ist.

    Heute ist mir dieser Gedanke gekommen, als ich am Abend vor der brennenden Oper stand. Und während ich nun hier sitze, verglosen vielleicht die Sessel, auf denen wir damals saßen – damals, vor zwanzig Jahren, als wir einander kennenlernten. Wahrscheinlich gibt es bald überhaupt keine stummen Zeugen unseres Lebens mehr. Dies Zimmer hier, in dem du so oft saßest, ist vielleicht morgen von einer Bombe zerschlagen. Schon jetzt scheint es mir fremd und kahl, weil Margot die Vorhänge, die wir zusammen ausgewählt haben, die Bilder, die du so liebtest, die Bücher, deren Menge dich so beeindruckte, in den Keller geräumt hat.

    Der Mantel, in dem ich fröstelnd sitze, ist voll Ruß und riecht nach Rauch. Kein Wunder. Es schneite ja dicke, glühende Flocken wie bei einem feurigen Schneegestöber. Ich stand in der verlängerten Kärntnerstraße, dicht hinter einer Kette von Polizisten; neben mir wortlose Menschen mit rot überflackerten Gesichtern und Pupillen, in deren Dunkel sich die lodernde Feuersäule des Heinrichshofes beweglich spiegelte. Woran mochten sie alle denken, meine lieben Kompatrioten, die damals so begeistert »Heil!« gerufen hatten, als diese Krankheit begann, deren letzten Phasen sie nun beiwohnen? – Ach, Ernstl, auch du hast »Heil!« gerufen, du Narr!

    Vom Karlsplatz her wehte uns eisiger Nebelwind in den Rücken, aber die Gesichter glühten von der Brandhitze. Es war wie ein gigantisches Kaminfeuer in einem kalten, finsteren Saal.

    Alles erinnert an dich, Ernst!! Unsere Oper brennt; wo die Tische deines »Café Heinrichshof« standen, fallen jetzt glühende Balken auf das Pflaster. Überall bist du, und dabei bist du längst nirgendmehr – drei Jahre nach deinem tödlichen Unfall.

    Oder irre ich? War es doch kein Unfall?

    Ich weiß es nicht; aber vielleicht werde ich es wissen, wenn alles genau aufgeschrieben vor mir stehen wird. Wie war das doch damals, bei jener Traviata-Aufführung im März 1925? – Ach, wie kalt es ist! Ich muß mir die Füße in eine Decke wickeln …

    Wieder einmal stand ich im Stehparterre ziemlich weit vorne, aber doch leider nicht an der Brüstung, und wartete auf den Beginn der Vorstellung. Wie freute ich mich auf die Ouvertüre, die gleich ertönen sollte, mit ihrem tränenfeuchten Geigengesang, der später von einer festlich getragenen Tanzweise abgelöst wird und der, vor dem vierten Akt nochmals angestimmt, in das hoffnungslose Schluchzen einer Todgezeichneten ausklingt. Damals liebte ich dies Werk um seiner selbst willen. Heute kann ich es nicht hören, ohne daß sehr persönliche, mein eigenes Leben und Erleben betreffende Erinnerungen in mir wach werden.

    Neben mir stand eine schöne blonde Person von ebenmäßigem Wuchs und selbstgefällig törichtem Gesicht, das trotz der frühen Jahreszeit tief gebräunt war. Allem Anschein nach kam sie gerade von einem Skiurlaub im Gebirge. Sie schien mit ihrem Äußeren durchaus zufrieden. Das neue geblumte Kleid und die Frisur taten ihre Schuldigkeit. Auch hätte sie keinen günstigeren Standort für ihre Schönheit wählen können als neben mir, obwohl sie sicherlich nur von dem Wunsch, gut zu sehen und zu hören, beseelt, so rasch nach vorne geeilt war. Auf mich wurde sie ohne Zweifel erst aufmerksam, nachdem sie die noch fast leeren Logenreihen und das Parkett einer genauen Musterung unterzogen hatte.

    Der Lokalaugenschein war zu ihrer vollsten Zufriedenheit ausgefallen. In einer der Parterrelogen, der zweiten oder dritten von uns aus, hatte ein junger Mann Platz genommen, der seinerseits das Opernglas über die Köpfe der dicht gedrängten Stehplätzler streifen ließ, wobei er sichtlich beim Anblick meiner hübschen Nachbarin verweilte. Er mußte noch sehr jung sein, vielleicht ein Student im ersten oder zweiten Hochschuljahr. Die Art, wie er sein Glas handhabte, wie er den Kopf langsam hin und her wandte, während die Linke lässig über den Logenrand hing, hatte etwas vollendet Graziöses – fast zu Graziöses für einen jungen Burschen, der noch dazu recht breitschultrig und muskulös aussah und einen kurzen, sehnigen Hals hatte. Besonders im Profil kam die Kräftigkeit dieses Halses zur Geltung, der vom Kleinhirn abwärts in gerader, harter Linie in den Kragen hinablief. – Dies wird einmal ein Stiernacken werden, mußte ich unwillkürlich denken. Vorläufig war es noch ein entzückender Stierkalbnacken.

    Nun hob der junge Logeninsasse in scheinbarer Kurzsichtigkeit das Programm nahe vors Gesicht. Er hielt das Heft in den großen, sehr weißen und langfingrigen Händen mit einer Behutsamkeit, die eines kostbaren Pergamentes wohl würdig gewesen wäre, und tat, als sei er in die Lektüre vertieft. Aber seine Augen glitten immer wieder zerstreut vom Papier fort und zu uns herüber; und dies war verständlich.

    Meine Nachbarin war zusehends schlanker und größer geworden. In ihre sonnengebräunten Wangen stieg bezaubernde Röte und ließ mich an eine reife, sommerwarme Marille denken. Auch sie schien ihr Textbuch auswendig lernen zu wollen; dazwischen fand sie Zeit, hie und da ihre Locken ordnend aus der Stirn zu streifen oder an ihrem Kleid herumzunesteln. Nur ganz selten und mit völlig beherrschter Teilnahmslosigkeit sah sie sich im Zuschauerraum um, und wenn ihr Blick dann gelegentlich die dritte Loge links streifte, so verweilte er dort kaum einen Augenaufschlag länger als bei den übrigen.

    Es mußte knapp vor Beginn der Vorstellung sein. Der Saal, der lange leer geblieben war, hatte sich plötzlich sehr rasch gefüllt. Immer mehr Abendkleider und Smokings wurden in den vorderen Sitzreihen sichtbar, immer mehr Boutons, Broschen und Brillantanhänger leuchteten aus dem Dunkelrot der Logen. Das Stimmengewirr der präludierenden Instrumente war jetzt von dem der schwatzenden Zuschauer fast ganz überdeckt. Im Stehparterre stand man Kopf an Kopf. Da hörte ich plötzlich unweit hinter mir eine sehr höfliche, gleichsam höfisch gezierte Baritonstimme vielerlei Entschuldigungsfloskeln fast pausenlos hintereinander hersagen. Das unwillige Murmeln der Stehenden, die beiseite traten, wirkte nur wie eine Geräuschkulisse, von der sich die klar skandierten Silben des »Verzeihen Sie bitte«, »Nur einen Augenblick …«, »Entschuldigen Sie«, »Ich nehme Ihnen Ihren Platz durchaus nicht weg«, »Ich möchte nur …«, »O pardon …« deutlich abzeichneten.

    Als wir uns umdrehten – die »Marille« und ich –, stand der Besitzer des höfischen Baritons schon vor uns. Er machte eine vollendete Verneigung – ganz so, wie man sie den jungen Leuten damals in der Tanzstunde beibrachte –, indem er zuerst nur den sehr hellen Kopf im Stierkalbnakken, dann aber ganz leicht auch die Schultern beugte, und sagte mit der gezierten Anmut eines schüchternen Liebhabers auf dem Theater:

    »Wollen Sie mich, bitte, nicht für zudringlich halten, aber ich habe zwei Logensitze … Der Platz neben mir bleibt leer. Ich sehe Sie hier im Gedränge stehen … Darf ich Ihnen die zweite Karte geben?«

    Zu wem sprach er? – Doch wohl zu der sonnengoldenen Sportlerin. Aber er sah mich dabei an, streckte die große Hand aus und reichte die Eintrittskarte – wem reichte er sie? – mir.

    Ich war bis zu diesem Augenblick ausschließlich Zuschauerin bei dem uneingestandenen Flirt gewesen, und nun fand ich gar keine Zeit, um selbst in die Rolle zu schlüpfen, die ich der Marille zugeschrieben hatte. Ich nahm also die Einladung mit der gleichen Selbstverständlichkeit an, mit der ich mir in der Straßenbahn Platz machen ließ. Zu sitzen, wenn andere standen, war das Recht der Körperbehinderten – eines der wenigen Rechte, gemessen an den vielen Pflichten, die mir mein krummer Rücken auferlegte. Unbefangen machte ich von diesem Recht Gebrauch. Ehe ich Zeit fand nachzudenken, ob ich das Richtige tat, hatte ich schon mechanisch »Oh, besten Dank, sehr liebenswürdig!« gesagt und schickte mich an, ihm zu folgen. Da fing ich noch einen eigenartigen, etwas verlegenen und doch auch wieder triumphierenden Blick auf, den der muskulöse Jüngling mit den Allüren eines altmodischen Schwerenöters zu meiner schönen Nachbarin gleiten ließ. Was dieser Blick bedeuten sollte, konnte ich in der Eile nicht bestimmen. Es fiel mir nur auf, daß bei der raschen

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