Der verlorene Zwilling: Mami 1951 – Familienroman
Von Lisa Simon
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Über dieses E-Book
Der Abend war nicht ganz so verlaufen, wie Liane Schreiber es sich vorgestellt hatte. Während sie einen romantischen Kinofilm sehen wollte, hatte Rainer, ihr Freund, darauf bestanden, in einer rauchigen Kneipe mit Dutzenden anderer Männer vor dem Fernseher ein Fußballspiel zu verfolgen. »Ich mache mir nun mal nichts aus schnulzigen Liebesfilmen«, murrte er, als er Liane zu später Stunde nach Hause brachte. »Du hättest ja nicht mitzukommen brauchen, wenn dir Fußball keinen Spaß macht.« Liane schnaubte verächtlich. »Ich habe mich die ganze Woche über auf den Samstagabend mit dir gefreut, und dann mutest du mir so etwas zu.« Daß ihr der Zigarettenrauch und die schlechte Luft in jenem Lokal Übelkeit verursacht hatten, erwähnte sie nicht. Vor der alten Jugendstilvilla, in der Liane mit ihren Eltern lebte, hielt Rainer seinen Wagen an und sagte: »Nächstes Wochenende können wir ja machen, was du willst… obwohl, da gibt es ein spannendes Länderspiel…« Sie hatte genug. Bevor sie die Beifahrertür öffnete, sagte sie kühl: »Vielleicht ist es besser, du rufst mich an, wenn es ausnahmsweise Wichtigeres als Fußball gibt!« Noch bevor Rainer antworten konnte, war sie ausgestiegen und eilte die Stufen zum Haus empor. Ihre Eltern hatten recht – Rainer paßte nicht zu ihr. Walter Schreiber war Bürgermeister des Kleinstädtchens Hofbergen und auf den guten Umgang seiner Tochter bedacht. Liane studierte Sozialpädagogik in der nahen Großstadt und kam nur an den Wochenenden nach Hause, während Rainer sein Geld als Kfz-Mechaniker in einer örtlichen Autowerkstatt verdiente. Zu Lianes Mißmut waren Walter und Liesbeth Schreiber noch nicht zu Bett gegangen, als sie den Flur betrat. »Liane?« rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. »Komm doch bitte noch auf einen Sprung zu mir, ja?« Sie setzte eine betont fröhliche Miene auf und begrüßte Liesbeth, die mit einer Stickerei in ihrem Lieblingssessel saß.
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Buchvorschau
Der verlorene Zwilling - Lisa Simon
Mami
– 1951–
Der verlorene Zwilling
Lianes schwerer Schicksalsweg
Lisa Simon
Der Abend war nicht ganz so verlaufen, wie Liane Schreiber es sich vorgestellt hatte. Während sie einen romantischen Kinofilm sehen wollte, hatte Rainer, ihr Freund, darauf bestanden, in einer rauchigen Kneipe mit Dutzenden anderer Männer vor dem Fernseher ein Fußballspiel zu verfolgen.
»Ich mache mir nun mal nichts aus schnulzigen Liebesfilmen«, murrte er, als er Liane zu später Stunde nach Hause brachte. »Du hättest ja nicht mitzukommen brauchen, wenn dir Fußball keinen Spaß macht.«
Liane schnaubte verächtlich. »Ich habe mich die ganze Woche über auf den Samstagabend mit dir gefreut, und dann mutest du mir so etwas zu.« Daß ihr der Zigarettenrauch und die schlechte Luft in jenem Lokal Übelkeit verursacht hatten, erwähnte sie nicht.
Vor der alten Jugendstilvilla, in der Liane mit ihren Eltern lebte, hielt Rainer seinen Wagen an und sagte: »Nächstes Wochenende können wir ja machen, was du willst… obwohl, da gibt es ein spannendes Länderspiel…«
Sie hatte genug. Bevor sie die Beifahrertür öffnete, sagte sie kühl: »Vielleicht ist es besser, du rufst mich an, wenn es ausnahmsweise Wichtigeres als Fußball gibt!«
Noch bevor Rainer antworten konnte, war sie ausgestiegen und eilte die Stufen zum Haus empor. Ihre Eltern hatten recht – Rainer paßte nicht zu ihr. Walter Schreiber war Bürgermeister des Kleinstädtchens Hofbergen und auf den guten Umgang seiner Tochter bedacht.
Liane studierte Sozialpädagogik in der nahen Großstadt und kam nur an den Wochenenden nach Hause, während Rainer sein Geld als Kfz-Mechaniker in einer örtlichen Autowerkstatt verdiente.
Zu Lianes Mißmut waren Walter und Liesbeth Schreiber noch nicht zu Bett gegangen, als sie den Flur betrat.
»Liane?« rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. »Komm doch bitte noch auf einen Sprung zu mir, ja?«
Sie setzte eine betont fröhliche Miene auf und begrüßte Liesbeth, die mit einer Stickerei in ihrem Lieblingssessel saß. Walter Schreiber saß tief über seine Sammlermünzen gebeugt am Eßtisch und nickte seiner Tochter zu.
»Hattest du einen schönen Abend?« fragte Liesbeth. »Du siehst müde aus und sehr blaß. Findest du nicht auch, Walter?«
»Es war sehr schön, wir haben uns einen Film im Kino angesehen«, log Liane und strich sich instinktiv über die fahle Wange. »Aber nach der anstrengenden Woche bin ich in der Tat etwas müde und würde gern gleich ins Bett gehen.«
»Natürlich, schlaf dich mal richtig aus, Kind.« Liesbeth nickte verständnisvoll. »Willst du dich denn morgen auch wieder mit diesem Rainer treffen?«
Liane dachte an den Streit kurz zuvor im Auto und hob vage die Schultern. »Er hat versprochen, einem Freund bei der Wagenreparatur zu helfen. Keine Ahnung, wann er damit fertig ist.«
»Meiner Meinung nach solltest du dich überhaupt nicht mehr mit ihm treffen«, warf Walter Schreiber ein. »Du hast etwas Besseres verdient.«
Mit einem unterdrücktem Seufzer erhob sich Liane. Diese Art von Diskussionen kannte sie mittlerweile zur Genüge, und nach dem mißlungenen Abend mit Rainer war ihr nicht mehr danach, ihn vor ihren Eltern zu verteidigen.
Sie wünschte schnell eine gute Nacht und war froh, die Tür hinter sich bereits geschlossen zu haben, als ihr unvermittelt schwindelig wurde.
Ängstlich klammerte sie sich an den Türrahmen, und dann überkam sie leichte Panik. Was war nur mit ihr los? Schon seit mehreren Tagen wurde ihr von einer Sekunde zur anderen übel oder schwindelig.
Erschöpft ließ sie sich in ihrem Zimmer aufs Bett fallen und schloß die Augen. Den Gedanken an eine Schwangerschaft versuchte sie zu verdrängen, doch es gelang ihr nicht ganz.
Sie wollte noch kein Kind haben – und schon gar nicht von Rainer! Zwar hatte sie bei ihrem Kennenlernen vor zehn Monaten geglaubt, unsterblich in ihn verliebt zu sein, doch inzwischen mußte sie insgeheim ihren Eltern recht geben: Rainer und sie paßten wirklich nicht zusammen!
Ihre Interessen gingen einfach zu weit auseinander, dabei störte es Liane überhaupt nicht, daß Rainer nur ein ganz einfacher Arbeiter war, wie es bei ihren Eltern der Fall war.
Aufstöhnend erhob sich Liane wieder und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Nein, ihr bedeutete Rainer nichts mehr – beim nächsten Treffen würde sie ihm klarmachen, daß es aus zwischen ihnen war.
*
Es war bereits später Vormittag, als Liane die Augen aufschlug. Trotzdem fühlte sie sich nicht ausgeruht und schaffte es gerade noch zum Badezimmer, bevor sie sich übergab.
Ein Blick in den Spiegel sagte Liane, daß sie leichenblaß war. Nach dem Duschen schminkte sie sich daher etwas stärker als sonst, damit ihren Eltern nichts auffiel.
Liesbeth Schreiber war mit dem Zubereiten des sonntäglichen Mittagessens beschäftigt, als Liane wenig später die altmodisch eingerichtete Küche betrat.
»Dort in der Thermoskanne ist noch Kaffee vom Frühstück«, sagte Liesbeth und wies mit dem Kinn zu einer der Anrichten. »Ich hoffe, du hast großen Hunger, in einer halben Stunde ist das Essen fertig. Es gibt Hirschgulasch mit Semmelknödeln.«
Obwohl sich Liane bereits bei dem Gedanken an Essen der Magen umdrehte, lächelte sie tapfer und erwiderte: »Hm, ich habe einen riesigen Hunger. Wo ist denn Papa?«
»Noch beim Frühschoppen, er muß aber jeden Moment zu Hause sein.« Liesbeth wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und fügte seufzend hinzu: »Mir gefällt es gar nicht, daß dein Vater jeden Sonntagmorgen zu diesem Stammtisch geht – aber du weißt ja, daß seine Anwesenheit dort als Bürgermeister ausdrücklich erwünscht wird. Schließlich will er ja die nächste Wahl wieder gewinnen, nicht wahr?«
Liane nickte. Ihr Vater war mit Leib und Seele Bürgermeister von Hofbergen und konnte mit Stolz auf eine langjährige Tätigkeit in diesem Amt zurückblicken.
»Ach, da fällt mir ein, daß ich heute morgen, als ich die Sonntagszeitung aus dem Briefkasten holte, diesen Brief entdeckt habe. Er ist an dich adressiert, doch es steht kein Absender darauf.« Liesbeth reichte ihrer Tochter das schmale, längliche Kuvert mit unverhohlener Neugier. »Hast du eine Ahnung, von wem er sein könnte?«
Liane warf einen flüchtigen Blick darauf und erkannte sofort Rainers Schrift. Sie zuckte jedoch mit den Achseln und sagte: »Es wird sich wohl um eine Einladung einer früheren Schulfreundin handeln. Ich werde mir später den Brief ansehen.«
Achtlos steckte Liane das Kuvert in die hintere Tasche ihrer Jeans. Nein, sie hatte wirklich keine Lust, Rainers fadenscheinige Entschuldigung zu lesen.
»Professor Sporer hat schon wieder um einen Zuschuß für den neuen Krankenhaus-Anbau gebeten«, erzählte Lianes Vater später beim Mittagessen. »Ich kann ja verstehen, daß der Neubau einen Haufen Geld verschlingt, aber die Stadt hat erst letztes Jahr eine größere Summe für medizinische Gerätschaften bewilligt.«
»Du solltest aber nicht vergessen, daß ein modern ausgestattetes Krankenhaus uns allen zugute kommt«, bemerkte Liesbeth und schob ihrem Mann die Schüssel mit den Klößen zu. »Nicht auszudenken, wenn jemand sein Leben verliert, weil nicht die erforderlichen Geräte da sind.«
Liane lauschte nur mit halbem Ohr dem Gespräch der Eltern, sie beschäftigten ganz andere Dinge. Nur mit großer Mühe leerte sie ihren Teller und entschuldigte sich noch vor dem Dessert.
»Ich fühle mich nicht ganz wohl, vermutlich habe ich mir eine Grippe eingefangen.«
»Armes Ding«, erwiderte ihre Mutter mitfühlend. »Vielleicht solltest du dich wieder hinlegen und ausruhen.«
»Und wenn es dir morgen nicht bessergeht, bleibst du zu Hause und läßt dich von deiner Mutter verwöhnen«, fügte Walter hinzu. »Mit einer Grippe gehst du mir nicht zur Uni.«
Liane dankte ihrem Vater mit einem sanften Lächeln. Wenn er nur