Am Abend zuvor: Dr. Daniel 114 – Arztroman
Von Marie Francoise
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Über dieses E-Book
Als Lisa-Marie Kornacher an diesem Abend zu ihrem Verlobten Frank Peltzer kam, spürte sie sofort, daß irgend etwas Bedeutsames passiert war. Es lag so eine gewisse Spannung in der Luft, vielleicht war es auch Hektik. Nun ja, letzteres wäre nicht weiter verwunderlich. Immerhin steckten Lisa-Marie und Frank mitten in den Hochzeitsvorbereitungen.
»Lisa!« Mit leuchtenden Augen und einem strahlenden Lächeln kam Frank ihr entgegen und schloß sie zärtlich in die Arme. »Stell dir vor, mein Bruder kommt! Er kommt tatsächlich zu unserer Hochzeit!«
»Das ist schön«, freute sich Lisa-Marie. »Dann lerne ich meinen zukünftigen Schwager doch noch kennen.«
Frank seufzte. »Ich verstehe sowieso nicht, wie Gerd das aushält. Seit zehn Jahren war er nicht mehr hier.« Er senkte den Kopf und gestand leise: »Ich vermisse ihn manchmal ganz schrecklich.«
Lisa-Marie nickte verständnisvoll. Sie hatte selbst einen älteren Bruder, an dem sie sehr hing. Allein die Vorstellung, er würde für Jahre auf Nimmerwiedersehen verschwinden, wäre für sie ganz fürchterlich.
Zudem war Frank erst zwölf Jahre alt gewesen, als sein Bruder – gerade volljährig geworden – Steinhausen verlassen hatte und nach Kanada gegangen war. Ein einziges Mal hatten sich die Brüder danach noch gesehen, nämlich, als Frank mit seinen Eltern einen Urlaub in Kanada verbracht hatte. Die leise Hoffnung der Peltzers, Gerd würde nach diesen drei Wochen mit ihnen ins heimatliche Steinhausen zurückkehren, hatte sich allerdings nicht erfüllt. Er schrieb zwar einigermaßen regelmäßig, aber gekommen war er nicht mehr… nicht einmal zu einem Besuch.
»Ich bin ja schon sehr gespannt darauf, ihn kennenzulernen«, meinte Lisa-Marie nachdenklich.
Das Lächeln kehrte auf
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Buchvorschau
Am Abend zuvor - Marie Francoise
Dr. Daniel
– 114 –
Am Abend zuvor
Marie Francoise
Als Lisa-Marie Kornacher an diesem Abend zu ihrem Verlobten Frank Peltzer kam, spürte sie sofort, daß irgend etwas Bedeutsames passiert war. Es lag so eine gewisse Spannung in der Luft, vielleicht war es auch Hektik. Nun ja, letzteres wäre nicht weiter verwunderlich. Immerhin steckten Lisa-Marie und Frank mitten in den Hochzeitsvorbereitungen.
»Lisa!« Mit leuchtenden Augen und einem strahlenden Lächeln kam Frank ihr entgegen und schloß sie zärtlich in die Arme. »Stell dir vor, mein Bruder kommt! Er kommt tatsächlich zu unserer Hochzeit!«
»Das ist schön«, freute sich Lisa-Marie. »Dann lerne ich meinen zukünftigen Schwager doch noch kennen.«
Frank seufzte. »Ich verstehe sowieso nicht, wie Gerd das aushält. Seit zehn Jahren war er nicht mehr hier.« Er senkte den Kopf und gestand leise: »Ich vermisse ihn manchmal ganz schrecklich.«
Lisa-Marie nickte verständnisvoll. Sie hatte selbst einen älteren Bruder, an dem sie sehr hing. Allein die Vorstellung, er würde für Jahre auf Nimmerwiedersehen verschwinden, wäre für sie ganz fürchterlich.
Zudem war Frank erst zwölf Jahre alt gewesen, als sein Bruder – gerade volljährig geworden – Steinhausen verlassen hatte und nach Kanada gegangen war. Ein einziges Mal hatten sich die Brüder danach noch gesehen, nämlich, als Frank mit seinen Eltern einen Urlaub in Kanada verbracht hatte. Die leise Hoffnung der Peltzers, Gerd würde nach diesen drei Wochen mit ihnen ins heimatliche Steinhausen zurückkehren, hatte sich allerdings nicht erfüllt. Er schrieb zwar einigermaßen regelmäßig, aber gekommen war er nicht mehr… nicht einmal zu einem Besuch.
»Ich bin ja schon sehr gespannt darauf, ihn kennenzulernen«, meinte Lisa-Marie nachdenklich.
Das Lächeln kehrte auf Franks Gesicht zurück. »Du wirst ihn mögen.«
Aufmerksam blickte Lisa-Marie ihn an. »Bist du da sicher? Ich meine… ihr habt euch jahrelang nicht mehr gesehen. Er könnte sich verändert haben.«
Frank schüttelte den Kopf. »Gerd nicht.« Er lehnte sich gegen die Wand und schwelgte wieder in Erinnerungen. »Weißt du, er ist nicht wie ich. Ich habe immer die Geborgenheit in der Familie gesucht, Gerd dagegen war von Anfang an ein Einzelgänger. Er hatte klare Vorstellungen vom Leben, die sich leider nicht mit dem decken, was Papa mit ihm vorgehabt hätte.« Er schmunzelte ein wenig. »Papa und Gerd – das war ohnehin eine ziemlich explosive Mischung. Die beiden konnten keine zehn Minuten im gleichen Raum sein, ohne zu streiten.«
»Reizende Aussichten für unsere Hochzeit«, meinte Lisa-Marie, aber Frank schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, Gerd weiß genau, wie er sich zu benehmen hat. Er wird sein Temperament zügeln, da bin ich sicher. Im übrigen haben ihnen beiden die Jahre der Trennung vielleicht gut getan. Papa freut sich jedenfalls, seinen Ältesten wiederzusehen.« Erneut wurde Frank nachdenklich. »Damals, als ich mit meinen Eltern in Kanada war… dieses Land… es war faszinierend und furchteinflößend zugleich.« Er seufzte leise. »Ich wäre wohl daran zerbrochen, aber Gerd – er paßt dorthin. Er ist so rauh wie das Land selbst.«
»Jetzt machst du mich aber wirklich neugierig«, meinte Lisa-Marie. Sicher, Frank hatte oft von seinem Bruder erzählt, aber nicht auf diese Art und Weise. Nun ja, Lisa-Marie hatte sich bisher auch reichlich wenig für diesen ihr unbekannten Gerd interessiert. Ihre Liebe zu Frank war tausendmal wichtiger gewesen. Jetzt allerdings hatten die Worte ihres Verlobten etwas in ihr angerührt. Ja, sie war sehr gespannt auf diesen Mann, der in Kürze ihr Schwager werden würde.
*
Gerd Peltzer blickte aus dem Fenster des dahinrasenden Zuges und versuchte, die Anspannung in sich abzubauen, was ihm kaum gelang. Tief in sich spürte er eine Aggressivität, die er normalerweise nicht an sich kannte. Er war immer ruhig und ausgeglichen gewesen, aber seit er die niederschmetternde Diagnose kannte, war sein ganzes Leben in Unordnung geraten. Vielleicht war er auch nur deshalb nach Deutschland zurückgekehrt. Gerd war sich über seine Beweggründe selbst nicht ganz im klaren. Er wußte nur eines mit absoluter Sicherheit: Er wollte seine Eltern und seinen kleinen Bruder noch einmal sehen, bevor es ihm nicht mehr möglich sein würde.
Seinen kleinen Bruder. Gerds Gesichtszüge entspannten sich, als er an Frank dachte. Klein war er ganz sicher nicht mehr. Er war jetzt zweiundzwanzig… ein Mann. Gerd lehnte sich zurück und schloß die Augen. Noch immer sah er das tränenüberströmte Gesicht seines damals zwölfjährigen Bruders vor sich… hörte seine flehenden Worte: ›Bitte, Gerd, laß mich nicht allein‹. Im Grunde war Frank nicht allein gewesen. Er hatte seine Eltern gehabt, trotzdem wußte Gerd, wie weh er seinem Bruder einst getan hatte. Das war der zweite Grund für seine Rückkehr. Eine befristete Rückkehr. Nach der Hochzeit würde Gerd wieder nach Kanada fliegen. Dort war seine Heimat… besser gesagt, er hatte sich dieses wilde, rauhe Land zur Heimat gemacht.
Das plötzliche, krampfartige Zittern seiner rechten Hand holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Wie lange würde er in Kanada noch leben können? Allein. Auf sich gestellt. Seine Blockhütte war die einzige im Umkreis von hundert Kilometern. Dazwischen gab es nur Wald, Berge und Bären. Für einen Mann, der schon bald auf die ständige Hilfe anderer Menschen angewiesen sein würde,
sicher nicht der richtige Aufenthaltsort.
Gerd spannte die Kiefernmuskeln an. Er wollte das Zittern seiner Hand durch reine Willenskraft unterdrücken, aber es ging nicht. Sein Körper begann, sich selbständig zu machen. Als das krampfartige Beben endlich wieder aufhörte, fühlte sich Gerd erschöpft und ausgelaugt.
Der Zug fuhr in den Münchner Hauptbahnhof ein. Gerd stand auf, drückte die rechte Hand wie im Schmerz gegen seine Brust und ergriff mit der linken den kleinen Koffer, den er bei sich hatte. Er hatte absichtlich den Flug von Kanada nach Frankfurt genommen und dann den ICE nach München. Es war auch kein Zufall, daß er einen Tag früher hier war, als er seiner Familie angekündigt hatte. Gerd hielt nichts von Begrüßungen auf dem Flughafen oder im Bahnhof. Er wollte in aller Stille nach Steinhausen zurückkehren – so still, wie er einst gegangen war.
Es kostete Gerd einige Mühe sich im Hauptbahnhof zurechtzufinden. Zehn Jahre waren eine lange Zeit und er war an solche Menschenmengen nicht mehr gewöhnt. In Kanada lebte er allein, sah oft wochen-, ja monatelang keine Menschenseele. Daher machte ihn die hektische Geschäftigkeit hier zunehmend nervös, und er war froh, als er endlich im Zug nach Steinhausen saß. Seufzend lehnte sich Gerd zurück und blickte aus dem Fenster, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Zehn Jahre. Was mochte sich während dieser Zeit in Steinhausen alles verändert haben?
Aber als er eine gute halbe Stunde später an seinem Geburtsort ausstieg, stellte er erstaunt aber auch erleichtert fest, daß in dem kleinen, beschaulichen Vorgebirgsort die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Sicher, es gab etliche neue Häuser, aber seinen ursprünglichen Charakter hatte sich