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Ouvertüre um Mitternacht
Ouvertüre um Mitternacht
Ouvertüre um Mitternacht
eBook316 Seiten3 Stunden

Ouvertüre um Mitternacht

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Über dieses E-Book

Die Stimmung in der Londoner Bohème-Bar "Bacchus" ist getrübt. Nicht nur weil Hitler ganz Europa in einen Krieg stürzen will. Viel schwerer wiegt die grausame Ermordung eines zehnjährigen jüdischen Mädchens aus der Nachbarschaft und der Verdacht, dass der Mörder höchstwahrscheinlich einer der Stammgäste ist. Die Polizei tappt im Dunkeln. Detective Inspector Dick Turpin spult sein Routineprogramm herunter, doch das ist der exzentrischen Powerfrau und eigensinnigen Sozialreformerin Asta Thundersley nicht genug. Sie ermittelt auf eigene Faust und beschließt, dem Täter eine Falle zu stellen...

Gerald Kershs grandiose Mixtur aus Polizeiroman, Psychothriller und nihilistischem Noir zählt zu den Klassikern des Genres. Er erzählt von gescheiterten Existenzen und den Tücken des Lebens und veranschaulicht, wie viele Verlierer für einen Gewinner auf der Strecke bleiben.
SpracheDeutsch
HerausgeberPulp Master
Erscheinungsdatum18. März 2016
ISBN9783927734890
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    Buchvorschau

    Ouvertüre um Mitternacht - Gerald Kersh

    Mitternacht

    1. Kapitel

    Kaum jemand von der alten Truppe geht noch in die Bacchus Bar, wenngleich sie fünfundzwanzig Jahre lang einer der drei beliebtesten Treffpunkte Londons war. Plötzlich wollte niemand mehr dorthin. Die alten Gäste entwickelten eine Abneigung gegen die Bar, in der sie sich über so viele Jahre an einer Mischung aus Alkohol und vertraulichen Gesprächen berauscht, wo sie Schecks eingelöst, sich Geld gepumpt, den Ehemännern und Frauen anderer schöne Augen gemacht, mit starken Worten Dinge von Bedeutung kommentiert hatten.

    Die Leute meinten, die »Atmosphäre« in der Bacchus Bar habe sich verändert. Aber sie konnten dir nie sagen, wie sie sich verändert oder was sie verändert hatte. Es ist schwierig — ich glaube sogar, es ist unmöglich —, die Veränderung einer Atmosphäre zu beschreiben. Die Atmosphäre eines Ladens ist zugleich seine Seele und wenn die sich davonmacht, stirbt der Laden. Man könnte Gleichungen aufstellen: Ein neuer Geschäftsführer plus Freunde des neuen Geschäftsführers minus gewisse altvertraute Gesichter plus ein neuer Barkeeper plus Gespanntheit, die mit fremden Stimmen einhergeht minus Intimität gleich Veränderung der Atmosphäre. Doch das trifft es nur ungenau. Genauso gut könnte man bedrückende Stille in Dezibel angeben oder Kummer in Kubikzentimetern salziger Tränen. Ebenso gut könnte man von einem Ozeanographen erwarten, die Einsamkeit und Finsternis des Mindanao-Grabens mit einem einfachen Lot darzustellen.

    Die Bacchus Bar schied dahin. Sie verlor an Stärke. Ihre Seele stahl sich fort, sodass sie jetzt, obwohl keine sichtbare Veränderung stattgefunden hat, nichts weiter ist als eine leere Hülle, die einst eine Persönlichkeit und einen einzigartigen Herzschlag umgab.

    Von den alten Stammkunden kommt nur noch Amy Dory regelmäßig vorbei, für gewöhnlich am Abend. Besser bekannt ist sie unter ihrem Spitznamen Catchy. Vor mehr Jahren, als ihr lieb ist, sich zu erinnern, als sie gerade mal achtundzwanzig und noch schön war, saß zehn Minuten nach Öffnung der Bar ein bestimmter Romancier an der Theke, der nie dazu kam, seinen Roman zu schreiben, und an dessen Erscheinung sich niemand erinnert. Sein Name ist Ember und er gehört zu den wenigen Männern, die in unerwiderter Leidenschaft zu Amy Dory entbrannten. Ganz nach Art dieser Männer musste er darüber sprechen. Da in den nächsten fünf Minuten keiner seiner Freunde auftauchen würde, sprach er mit Gonger, dem Barkeeper.

    Er sagte: »Sie hat einem beim Wickel, diese Frau. Verstehst du, was ich sagen will? Sie packt einem beim Wickel. Ich meine, sie geht mit jedem. Sieh den Tatsachen ins Auge, sie ist durch und durch gewöhnlich, Gonger. Aber ich meine gewöhnlich im Sinne von profan, wie einzelne Zeilen gewisser Ohrwürmer, die so catchy sind, dass sie jeden fesseln. Jeder trällert sie. Man ertappt sich dabei, wie man ›Amy Dory, Amy Dory, Amy Dory‹ singt, bis sie einem sogar Schlafstörungen beschert. Ich meine, man kriegt sie nicht mehr aus dem Kopf. Ein Ohrwurm. Das läuft einfach ab. Gegen sie ist kein Kraut gewachsen, verstehst du, was ich sagen will? Sie ist catchy.«

    Gonger, der Barkeeper, warf ihm einen warnenden Blick zu, als die Tür aufging und Amy Dory hereinkam. Ember drehte sich um, seine Gesichtsfarbe veränderte sich, aber er sagte herzlich: »Hallo, Catchy!«

    Einer seiner Freunde, der hinter ihr hereinspazierte, fragte: »Wieso Catchy?«

    »Weil sie catchy ist!«

    Von diesem Tage an war ihr Name Catchy. Und selbst nach all den Jahren klebt er immer noch an ihr. In der Tat, seinerzeit war sie äußerst attraktiv, obgleich eher von durchschnittlicher Schönheit. Sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge, eine famose Figur — sie nannte das einen guten Body — und wunderbares Haar von bemerkenswerter Fülle und Tönung. Es schimmerte rotbraun. Ihre Augen hatten die gleiche Farbe, sie waren groß und klar, blickten offen und doch unterwürfig — mütterlich, hündisch sogar, wenn sie Männer ansahen. Catchys Gesicht hatte etwas von der Form, der warmen Farbe und der Beschaffenheit einer Aprikose. Sie war immer sehr beliebt. Zweifellos besaß sie ein großes, empfindsames Herz — sie konnte es nicht ertragen, jemanden leiden zu sehen. Man fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft: Sie vermittelte einem das Gefühl von Stärke. »Ganz wie du meinst«, lautete ihre Devise. Je schwächer man war, desto unterwürfiger wurde sie. Je törichter und unentschlossener man war, desto mehr schaute sie zu einem auf.

    Sie war von Natur aus sauber, ordentlich und kleidete sich geschmackvoll. Und sollte man kraft der Tugend seiner Hilflosigkeit ihr Herz erobert haben, ließ sie einen nie spüren, dass ungeputzte Zähne, dreckige Socken, schmutzige Bettwäsche oder fleckige Betten eine Zumutung für sie seien. Wie sie selbst sagte, wolle sie einfach nur gut für einen sein.

    Es gibt nicht den geringsten Zweifel, dass Catchy gutherzig war, von angenehmsten Naturell. Sie hatte (wie ihr jemand seinerzeit sagte) etwas von einer Heiligen; sie gab alles, nahm nichts und verzieh denen, die sie schlecht behandelten — beziehungsweise überzeugte die, die sie schlecht behandelt hatten und um Verzeihung baten, dass es nichts zu verzeihen gäbe. So machte Catchy viele Männer glücklich; im Allgemeinen neurotische, unverstandene Männer, die sie am meisten brauchten. Die Mehrzahl ihrer Freunde waren Schriftsteller und Schauspieler — Künstler der einen oder anderen Art, die ihr liebend gern alles über sich erzählten und die eigenen Unzulänglichkeiten preisgaben. Sie lernte eine Menge über Menschen und wurde zu jedermanns Beichtmutter.

    Doch sie erteilte nicht nur die Absolution, sie fand auch Entschuldigungen. Und auf die Entschuldigung folgte die Rechtfertigung. Sie wusste, wie man Menschen glücklich macht, als sie schön und die Bacchus Bar ein Ort mit Atmosphäre war.

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    2. Kapitel

    Aber der Bacchus Bar kam die Seele abhanden und Catchy die Attraktivität. Hätten Sie sie damals gekannt und könnten sie heute sehen, wüssten Sie, was ich meine, wenn ich sage, dass sie sich im Laufe der Jahre zu einer Frau entwickelt hat, die aussieht, als hätte man sie rückwärts durch eine dichte Hecke gezerrt. Die Zeit hat sie als ein Häufchen Elend zurückgelassen — die Zeit und die Sorgen. Sie hat Sorgen gehabt, das wird sie Ihnen fünf Minuten nach dem Kennenlernen erzählen. Diese blanken braunen Augen, die sich immer so aufrichtig und ruhig vom babyblauen Weiß abhoben, könnte man nun mit einem Paar Kakerlaken vergleichen, die verzweifelt auf zwei Untertassen mit gekochtem Rhabarber umherschwimmen. Ihr einst prachtvolles Haar gefällt sich in einem Zustand rustikalen Derangements. Es gebärdet sich irgendwie unkonventionell, will sich nicht fügen, sträubt sich gegen den Kamm: Es ist Haar in der Revolte. Sie ist jetzt einfach zu müde, um dagegen anzukämpfen.

    Vor ein paar Monaten unternahm sie einen allerletzten Versuch und färbte es blond. Nur verschlimmerte das die Sache. Die Mischung aus Wasserstoffperoxyd und Ammoniak, mit der sie es bleichte, machte das Haar noch widerspenstiger als zu dem Zeitpunkt, als sie die Chemikalien mit wilder Entschlossenheit und unter Zuhilfenahme einer Zahnbürste vermischte. Nachdem die Mixtur trocken war, wusch sie ihr Haar im Handwaschbecken, betrachtete sich in dem schmierigen, fleckigen Spiegel und weinte. Am selben Abend unternahm sie einen Selbstmordversuch.

    Sie verbarg ihr Haar unter einer Art Turban, ging in die Bacchus Bar und erzählte einer Freundin, die sie zufällig traf, dass sie vorhabe, endgültig mit allem Schluss zu machen. Nachdem sie ihr ganzes Geld ausgegeben hatte, ging sie nach Hause und schluckte zwanzig Aspirin. Nichts geschah. Catchy ist noch immer am Leben. Jeder weiß, dass Catchy das Thema Selbstmord ein halbes dutzendmal durchgespielt hat. Mit einem stumpfen Rasiermesser hat sie an den Sehnen ihrer Handgelenke herumgekratzt, sie hat Haarwasser getrunken, ein Fläschchen Jod zu sechs Pennys geschluckt, Aspirin genommen und den Gasofen aufgedreht, ohne ihn anzuzünden. Doch zufällig war immer jemand in ihrer Nähe, um sie zu retten, wenn sie der Rettung bedurfte.

    Catchy — und ich wiederhole mich — ist die Letzte der alten Garde aus der Bacchus Bar, und sie ist Lichtjahre davon entfernt, die zu sein, die sie einst war. Ihre Wangen sind aufgedunsen und runzlig zugleich, und ihr Teint erinnert in Farbe und Struktur an trockenen Weißkäse. Noch immer legt sie Wert auf ihr Äußeres: Die Fingernägel sind penibel dunkelrot lackiert, nur denkt sie selten daran, sich die Hände zu waschen. Dass sie es nicht über sich bringt, die Reste des Puders, der Creme und des Rouges vom Tage zuvor zu entfernen, spielt keine Rolle — gnadenlos macht sie sich jeden Morgen aufs Neue zurecht, trägt eine frische Schicht Schminke auf die rissig gewordenen alten Schichten. Catchys Zähne sind ebenfalls in einem problematischen Zustand. Nach der Geburt ihres Kindes — sie war einmal verheiratet — fielen zwei oder drei ihrer Backenzähne aus und wurden durch eine Brücke ersetzt. Jahre später löste sich die Brücke. Aber da hatte Catchy bereits jeglichen Willen verloren, etwas dagegen zu unternehmen, und so legte sie die Brücke in eine leere Coldcream-Dose. Während der letzten fünf Jahre hat sie hin und wieder mit dem Gedanken gespielt, einen Zahnarzt aufzusuchen, nur fehlt ihr immer die Zeit. Mittlerweile hat sie noch mehr ihrer eigenen Zähne verloren, andere sind locker geworden, sodass sie sich auf ein Lächeln verlegt hat, schmallippig-rätselhaft wie einst das der Kaiserin Josephine.

    Was Catchys wohlproportionierte Gestalt anbelangt — die ist Vergangenheit. Ihr Oberkörper wirkt aufgebläht, rund und prall. Arme und Beine sind noch immer ansehnlich und ihre Hände wären schön, fände sie nur Gelegenheit, sie zu waschen. Ihrem Kleidungsstil ist sie treu geblieben. Sie war immer eine gut gekleidete Frau mit Sinn für Stil und Farbe. Nun, da sie die Zeichen der Zeit ignoriert, kleidet sie sich in kurze Röcke mit niedriger Taille, als wären die Jahre nicht vorbeigezogen.

    Ihr Charakter jedenfalls hat sich im Großen und Ganzen nicht verändert. Sie ist auch weiterhin freundlich, mitfühlend, darauf bedacht, sich deine Probleme anzuhören und darüber zu reden, beseelt davon, dir etwas zu vergeben, bestrebt, dir Gutes zu tun, bereit, Geliebte und Mutter in einem zu sein. Aber das ist undenkbar. Die Leute wollen auf der Straße nicht mit ihr gesehen werden. Es geht nicht darum, dass sie hässlicher, älter oder wilder aussieht als andere Frauen der leichtlebigen Boheme, doch sie umgibt eine unbeschreibliche Aura der Vernachlässigung und des Verfalls, die Passanten veranlasst, sich umzudrehen und ihr hinterherzusehen. Catchy rennt an einem vorbei wie eine Wahnsinnige, die nach etwas äußerst Wichtigem sucht und sich nicht mehr erinnern kann, was es ist. Nicht zu übersehen ist eine überspannte Tragik, die sie zum Ausdruck bringt, vornehmlich dann, wenn sie gerade geweint hat. Dann schwillt ihr Gesicht an, bis es einem bemalten Luftballon ähnelt, dessen Farben im Regen verlaufen sind. Mindestens einmal am Tag weint sie.

    Sie trinkt so viel, wie irgend geht, denn es gibt etwas, was sie vergessen will. Die ersten Drinks muntern Catchy tatsächlich auf und dann kann sie eine lebhafte Gesellschafterin sein, der zuzuhören sich lohnt; mit einem humorigen Erzählstil, lebendig wiedergegebenen Anekdoten und Geschehnissen rund um Menschen, die sie gekannt hat. Denn sie verfügt über einen scharfen Blick, ein gutes Ohr und ein exzellentes Gedächtnis — alles im Grunde zu gut. In dem Moment jedoch, wenn sie am fröhlichsten und am ausgelassensten ist, bleibt ihr plötzlich ein vertrockneter Krümel dessen, was sie so hartnäckig zu vergessen sucht, im Halse stecken und bringt die Erinnerung zurück. Es schnürt ihr die Kehle zu. Sie verfällt in Schweigen, schluckt, hustet, schluchzt und weint schließlich mit rauer, lauter, heulender Stimme. Ab diesem Augenblick wird aus der angenehmen Gesellschafterin eine höchst unangenehme.

    Catchy streckt ihre Hände aus wie Enterhaken, packt dich und versucht, dir etwas zu erzählen, was keinen Sinn ergibt, irgendetwas hoffnungslos Unzusammenhängendes. Es ist erschütternd, ihr unkontrolliertes Schluchzen und Wimmern zu hören. Da lastet etwas auf dem unglücklichen Herzen dieser Frau, von dem niemand eine Vorstellung hat, was es sein könnte. Wenn sie plötzlich aufhört zu reden und in ihrer Kehle ein Geräusch zu hören ist, als würden die Haken eines eng geschnürten Korsetts aufspringen, zieht man sich zurück, wenn man klug ist — man zieht den Kopf ein wie seinerzeit, wenn eine V1-Rakete über einen hinwegzischte. Man weiß, was droht, und hofft, es möge einen verschonen.

    Sie haben alle ihre Sorgen, ihre nicht mitteilbaren Sorgen, diese gebrochenen Menschen, die den wilden Zwanzigern entstammen, sich hauptsächlich vom Schnaps anderer zu ernähren scheinen und nur in den eigenen rührseligen Tränen baden — diesen Pumpstationen an den Küsten eines toten Meeres. Am besten hört man ihnen gar nicht zu, sonst ist es am Ende an einem selbst, sie in einem Taxi nach Hause zu begleiten. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sie umfallen und sich die Köpfe aufschlagen oder einem auf die Schuhe kotzen. Man ist gut beraten, sich nicht auf den beispiellosen Kummer von Mercedes einzulassen, die einst einen Mann liebte, der ihre Liebe nicht erwiderte. Es ist das Klügste, sich außerhalb der Reichweite des Flammenwerfers von Fifis Zorn aufzuhalten, die von ihrem geliebten Gatten geschieden wurde, weil dieser nicht progressiv genug war, um mit ihrer Leidenschaft für eine Buchkritikerin klarzukommen. Catchys Stimme, wenn Catchy mit der Geschichte ihres großen Kummers anfängt, gleicht der Stimme einer Katze in der Nacht — dieses Aufschreien, das einen vom Übergang zum Schlaf zurückholt, weil das umwölkte Bewusstsein einem sagt, dass da ein Mensch sein Herz ausschüttet, ein Herz, angefüllt mit so viel Kummer, dass, obwohl Worte nicht ausreichen, er einem dennoch etwas sagen will. Man setzt sich auf und da ist nur das Heulen eines Tieres in der Nacht. Also fällt man wieder in den Schlaf zurück.

    Wenn Catchy also zu weinen beginnt, befindet man sich für einen Moment in einem Zustand ängstlicher Wachsamkeit, falls man sie nicht kennt. Aber man kennt sie. Und so wird nichts, was sie sagt, von Bedeutung für einen sein:

    »Oh, warum, warum, warum? Sag’s mir, Schatz — Schatz, mein Schatz, um Gottes willen, lass mich nicht im Stich, sondern sag mir, warum! Du verstehst, du verstehst doch wirklich — nicht wahr? Ja, das tust du! Dann sag mir, um Himmels willen, sag mir, was hab ich denn getan? Ach, lieber Gott, wenn du wüsstest — wenn du nur wüsstest, wie unglücklich ich bin, wie elend! Hilf mir! Ich hab nicht den Mut dazu. Töte mich! Tu mir den Gefallen, töte mich, töte mich und ich werde nicht schreien. Schatz, ich bin tapfer, so viel tapferer, als du denkst! Töte mich! Welches Recht habe ich noch zu leben? Tu mir etwas an! Tu mir etwas Schreckliches an! Verbrenn mich mit einem heißen Bügeleisen ... Du glaubst, ich habe Angst, ha ha ha! Ich und Angst!?«

    An diesem Punkt drückt sie eine glühende Zigarette in der Hand aus, beugt sich vor und sieht einen mit einem flackernden Blick aus ihren wilden braunen Augen an.

    »Ich hab keine Angst. Sieh her, siehst du das? Und das? Angst, von wegen! Du hast Angst, nicht ich! Du bist ein Feigling, ein dreckiger, schäbiger Feigling! Ich hab keine Angst. Also wovor solltest du Angst haben? Ich bin nur eine Frau. Also gut, bring mich um! Bring mich einfach um. Schatz! Leg deine Hände um meinen Hals und erwürg mich. Oder erwürg mich mit einem Strumpf. Ja? Machst du das — «

    Sie zieht einen ihrer Strümpfe aus. Und man sagt: »Nein, nein!«

    Mit einem Ausdruck irgendwo zwischen Lächeln und Weinen sagt sie: »Ach, ich verstehe, du hast Angst. Du bist ein Feigling. Du bist ein dreckiger, schäbiger, gemeiner, verkommener, lausiger, stinkender, verdammter Feigling — genau das bist du. Oh, Schatz, Schatz, Schatz, ich würde dich so bewundern, so anbeten, wenn du kein Feigling wärst. Ich würde alles für dich tun. Ich würde mich hinlegen, damit du auf mir herumtrampeln kannst. Ich wäre deine Sklavin. Ich würde aufblicken zu dir wie zu einem König auf seinem Thron. Ich würde deine Füße waschen und dann das Wasser trinken. Verstehst du nicht, ich will dich anbeten! Du bist so stark, so rücksichtslos, so kraftvoll! Du bist so echt, so hart ... aber nein, ich hab mich geirrt. Ihr seid alle gleich — Lügner, Feiglinge! Und was habe ich zu dir aufgesehen! Ich dachte, du wärst Gott, der allmächtige Gott. Ich habe dich angebetet. Ich wollte, dass du mich erschlägst. Aber jetzt glaube ich nicht mehr an dich ... Oh bitte, bitte, mein Gott, mein wunderbarer Gott, nimm mir nicht meinen Glauben! Erschlag mich! Tot zu deinen Füßen, deinen schönen, schönen Füßen! Du musst es tun! Ich will dir gestehen, gestehen, gestehen und gestehen und gestehen — dir gestehen, mein König, mein Gott!«

    Ist man dreißig Sekunden später noch da, hört man sie sagen: »Ich wollte es nicht tun, ich wollte nichts tun! Aber bestrafe mich, töte mich — schlag mich tot. Schlag mich tot! Schlag mich ... «

    Ist man hingegen vernünftig, ist man längst seiner Wege gegangen. Christopher, der Türsteher der Bacchus Bar, wird sie hinaus auf die Straße begleiten. Dann wird Catchy sich wieder erholen. Sie wird sich zusammenreißen, mit festem Griff ihre Handtasche packen — ihre armselige, alte, speckige Handtasche aus Alligatorleder, die aussieht, als wären fünfzehn Pfund Walnüsse darin, und in die niemand je wagte, einen Blick zu werfen — und nach Hause torkeln.

    3. Kapitel

    Sie kann sich immer darauf verlassen, dass ihre Füße sie nach Hause tragen. Seit vielen Jahren wohnt sie in demselben Gebäude, in einer kleinen Wohnung über einem Secondhandladen. Auf dem Ladenschild steht zu lesen:

    S. SABBATANI

    Oberbekleidung aus 2. Hand

    Der Laden macht einen verwahrlosten Eindruck. Wenn man daran vorbeigeht, fragt man sich, wie zum Teufel jemand seinen Lebensunterhalt damit bestreiten könne. Vor zehn Jahren bekam er seinen letzten Anstrich und das auch nur mit einer billigen rotbraunen Farbe. Die Schaufensterscheibe besteht aus einer Art Glas, die heutzutage nicht mehr hergestellt wird. Leicht geriffelt und mit eingeschlossenen Blasen, steckt sie in einem merkwürdigen Rahmen aus vier Holzteilen, die wie griechische Säulen anmuten.

    In der Auslage entdeckt man diverse Kleidungsstücke wie Etonjacken aus derber weißer Baumwolle, einen grün-blau gestreiften Anzug des Fabrikates »Savile Row«, mehrere Packen Handschuhe, versehen mit dem Hinweis »Verschiedene Größen. Im West End gefertigt«, einige Paar Schuhe aus zweiter oder dritter Hand, die, sorgfältig poliert, auf Ständern präsentiert werden, und eine Auswahl verstaubter Frackhemden.

    Es gibt auch eine Sammlung von Spazierstöcken aus Bambus, Rattan und Rotang, wie man sie um 1903 benutzte, und ein oder zwei Mäntel mit dem Verweis: »Im Westend gefertigt. Aus dem Besitz eines Lords«. Dieses Sortiment wird ergänzt durch andere Artikel: Schuhcreme, Kragen, Sattelseife und ein oder zwei alte, klobige, abgestoßene Reisenecessaires, die, bestückt mit seltsamen Flaschen und 7-Tage-Rasiermessersets, übersät sind mit angelaufenen goldenen Initialen unbekannter Bankrotteure.

    Catchy wohnt im oberen Stockwerk. Sie geht durch die alte, schäbige Seitentür, deren Farbe Blasen wirft, steigt energisch die Stufen hinauf und hält sich dabei am Treppengeländer fest, das im gleichen Farbton gestrichen ist wie die Außenfront des Ladens. Sie ist bemüht, leise aufzutreten, denn sie scheut die Begegnung mit ihrer Wirtin, Mrs. Sabbatani. Auf dem obersten Treppenabsatz, neben dem kleinen Gasofen, macht sie Halt, um Luft zu holen, kramt nach dem Schlüssel — sie heult immer noch ein wenig — und findet ihn. Wie ein Soldat, der eine Stopfnadel einfädelt, manövriert sie ihn ins Schlüsselloch, tritt ein, knipst das Licht an, lässt sich in den glänzenden, grauschwarzen, alten, wackligen Polstersessel neben dem Gasofen fallen und sieht sich im Zimmer um, als erwarte sie, auf jemanden zu stoßen, der sie begrüßt.

    Sie hat nahezu alles im Blick, womit sie das Zimmer vor einem Dutzend Jahren möblierte und ein Dutzend Jahre des Verschleißes, der Vernachlässigung und des Verfalls dazu. Das Mobiliar ist ihr Eigentum. Seinerzeit kostete es einiges; doch selbst bei den aktuellen Preisen müsste sie heute noch jemanden bezahlen, damit er es abholt. Von ihrer Position aus sieht sie die Sprungfedern aus der Unterseite des Diwans hängen wie Eingeweide aus einem aufgeschlitzten Pferd. Das Bettzeug befindet sich überall und nirgends; man könnte meinen, die Steppdecke sei verrückt geworden und habe ein bunt kariertes Reiseplaid und eine schmuddelige Witney-Wolldecke in einen tödlichen Kampf verwickelt, vor dem die Laken in blankem Entsetzen ans Bettende zurückgewichen sind, wo sie nun versuchen, sich einzugraben. Das Kissen ist grau von Wimperntusche, Tränen und Schmutz. Die Lampe hat einen Schirm mit Perlenkante, sodass der obere Teil der Wände in einem streifigen Halbschatten liegt. Wenn Catchy ihre Augen anstrengt, kann sie das Rechteck aus rosafarbener Tapete in

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