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Lotusschwur & Fuchsmagie
Lotusschwur & Fuchsmagie
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eBook394 Seiten5 Stunden

Lotusschwur & Fuchsmagie

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Über dieses E-Book

Als May merkwürdige Fähigkeiten an sich entdeckt, wird sie in eine versteckte Realität voller Legenden, dämonischen Feinden und magischen Verstrickungen gezogen. An ihrer Seite ist der junge Krieger Damien, der sie nicht nur beschützen, sondern auch unterrichten soll. Dabei kribbelt es zwischen den beiden mehr, als es sollte, doch May weiß nicht, ob sie ihm wirklich vertrauen kann. Ablenkungen kann sie nicht gebrauchen, denn May muss eine uralte Kreatur aufhalten, die ihr nach dem Leben trachtet.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum27. Apr. 2023
ISBN9783959918237
Lotusschwur & Fuchsmagie
Autor

Janina Schneider-Tidigk

Janina Schneider-Tidigk wurde im Jahr 2000 in der kleinen Stadt Nienburg an der Weser geboren. Sie lebt mit ihren Hunden und Hunderten Büchern in der Nähe von München. Seit frühster Kindheit verzaubert von Geschichten jeglicher Art, bereist sie nun ihre eigenen fantastische Welten mit mutigen Charakteren in magischen Geschichten samt einer Prise Romantik. Das Einzige, was die Autorin vom Schreiben abhalten kann, ist eine leere Kaffeetasse.

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    Buchvorschau

    Lotusschwur & Fuchsmagie - Janina Schneider-Tidigk

    Kapitel 1

    Ich übergab mich mit einem lauten Würgen in die Mülltonne hinter dem Diner. Meine Finger bebten unkontrolliert am dreckigen Plastik der Tonne. Zum Glück hatte ich mir vorhin die Haare zusammengebunden, sonst hätten sie mit hoher Wahrscheinlichkeit im Müll gehangen. Oder in der Kotze.

    Der Gestank nach Erbrochenem ließ mich erschaudern. Als ich mir sicher war, dass nichts mehr hinauswollte, stemmte ich mich mit steifen Fingern hoch. Die frische Luft, die um meine Nase strich, war wunderbar. Mit geschlossenen Augen atmete ich ein paarmal tief durch. Dabei verdrängte ich den Geschmack, der sich in meinem Mund breitgemacht hatte. Hinter mir wurde die Tür des Diners geöffnet. Sie quietschte protestierend in ihren Angeln, und jemand machte zwei schwere Schritte in den Hinterhof.

    »Verdammt, May, wo bleibst du denn? Wir haben einen Berg an Bestellungen, die warten.« Jonas, der Koch des Diners, klang genervt. Ich konnte das verstehen, da ich meine Kollegen im Stich ließ. Trotzdem wollte ich nicht unbedingt mitten in den Diner kotzen. Meine Nerven lagen blank. Vor allem, wenn ich an die letzten vierundzwanzig Stunden dachte. Nachdem ich gestern kaum Essen bei mir behalten konnte und keinen Schlaf fand, war mir seitdem mehr schlecht als recht. Krank zu sein war ätzend. Doch ich brauchte das Geld. Wir brauchten das Geld.

    »Ja, ich bin sofort da«, sagte ich.

    »Jetzt wäre mir lieber«, blaffte Jonas und ging wieder hinein. Er hatte recht. Heute war – im wahrsten Sinne des Wortes – die Hölle los. Das war gut für den Diner, aber für mich in der jetzigen Verfassung eher weniger. Ich wollte nur nach Hause. Aber selbst wenn sich der Diner plötzlich auf magische Weise leeren würde und ich früher gehen könnte, wartete heute Abend eine Schicht im Club auf mich. Diesen Monat war das Geld einfach so verdammt knapp. Ich schleppte mich wieder hinein, machte davor einen kurzen Halt in dem Toilettenraum, um mir den Mund am Waschbecken auszuspülen und die Hände zu waschen. Mit einem unguten Gefühl im Bauch trat ich wieder hinter die Theke. Ich sah meine Freundin, Rose, von einem Tisch zum anderen hechten. Sofort meldete sich mein schlechtes Gewissen. Ich mochte es nicht, Menschen im Stich zu lassen, die mir wichtig waren. Kaum war ich mal fünf Minuten weg, platzte der Laden aus allen Nähten.

    »Sag mal, hörst du mir zu?«, fragte mich Rose besorgt. Mein Blick schärfte sich, bis ich die Brünette vor mir erkennen konnte. Sie stand vor dem Tresen und musterte mich aufmerksam. Rose hatte ihre geschwungenen Augenbrauen hochgezogen. Entschuldigend lächelte ich sie an.

    »Sorry, was hast du noch mal gesagt?«

    Rose streckte mir einen Zettel hin. Darauf stand eine lange Bestellung, die von dem Tisch am Eingang kam. Sofort drehte ich mich zum Fenster um, durch das ich in die Küche sehen konnte, und rief die Bestellung durch: »Drei Cheeseburger mit Pommes, einmal Salat und Chili Cheese Nuggets.«

    Steve hinter dem Fenster streckte seinen wulstigen Daumen nach oben. Ich drehte mich wieder zur Theke um, nur um festzustellen, dass ich acht weitere Zettel vor mir liegen hatte. Auch diese Bestellungen reichte ich weiter und machte mich anschließend daran, die Getränke schnellstmöglich zuzubereiten. Rose wartete hibbelig neben dem Tablett, auf dem schon einige Gläser standen.

    »Sag mal, May …«

    »Ich hab’s gleich.«

    »Nein, das meinte ich nicht, sondern …«

    »Einen Moment, ich beeile mich ja.« Während ich mit geübten Handgriffen die Gläser befüllte, sah ich immer wieder zu meiner Freundin, die mich kritisch musterte.

    »Was ist?«, fragte ich sie.

    Sie schloss, verzog und öffnete ihren Mund.

    »Kann es sein, dass es dir heute nicht so gut geht?«

    Verwirrt betrachtete ich sie. »Wie kommst du denn da drauf?«, fragte ich mit einem Stirnrunzeln. Mit ihrem Finger deutete sie vor mich, und als ich dort hinsah, fluchte ich leise vor mich hin. Anstatt Milch für den Milchshake zu nehmen, hatte ich die Erdbeeren mit Cola in den Mixer geworfen.

    »Oder vielleicht willst du auch nur ein neues Getränk auf die Speisekarte bringen«, rätselte Rose weiter und zuckte mit den Schultern. Ich war erstaunt, wie viel Zeit sie sich für diesen Moment nahm, um ihre gesamte Aufmerksamkeit auf mich zu richten und jegliche Spur der Hektik abzulegen.

    Ich griff frustriert nach dem Mixer und schüttete den Inhalt weg. Das hatte Rose mir also sagen wollen. Ein wenig enttäuscht von mir selbst, atmete ich tief durch und fuhr mir einmal über die Haare, bevor ich mich erneut daranmachte, einen Erdbeershake zu mixen. Dieses Mal mit den richtigen Zutaten. Als ich ihn ohne Zwischenfälle auf das Tablett von Rose stellte, begegnete ich erneut ihrem prüfenden Blick. In dem Moment wurde mir wieder bewusst, wie übel mir war, und ich presste meine Lippen fest aufeinander. Der Blick aus ihren blauen Augen huschte über mein Gesicht, bei dem ich versucht hatte, mit ein bisschen Make-up lebendiger zu wirken. So ganz hatte ich die dunklen Schatten unter meinen Augen jedoch nicht abdecken können.

    »Wenn du jemanden zum Reden brauchst, du weißt, dass ich für dich da bin, oder?«

    »Ja, natürlich weiß ich das. Danke.«

    Rose brummte unterstreichend, bevor sie ging und den Leuten ihre Bestellungen brachte. Mein Sichtfeld verschwamm, und es schien, als würden meine Augen vibrieren. Ich sah meine Hände an und kam mir absolut betrunken vor. Ich stützte mich an der Theke ab. Die Übelkeit stieg in mir hoch.

    Dann, mit einem Schlag, war sie vorbei. Die Übelkeit und der Schwindel verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren, und ließen nur ein flaues Gefühl im Magen zurück. Verwirrt sah ich mich um. Prüfte, ob mich jemand gesehen hatte. Würden meine Kollegen mich nach Hause schicken, wenn sie mitbekamen, wie es mir ging? Doch dann würde ich nicht auf meinen Tageslohn kommen.

    Panik brach in mir aus, und ich richtete mich gerade auf. Es war so, als wäre nichts gewesen. Was passierte denn bloß mit mir? Erst ging es mir so richtig schlecht und auf einmal nicht mehr. Ich hatte absolut keine Ahnung, jedoch auch keine Zeit, darüber nachzudenken.

    Ich reichte Rose weitere Bestellungen über den Tresen und sah dabei zu, wie Leute kamen und gingen. Mittlerweile konnte ich sogar wieder etwas essen, obwohl es mir zuvor noch so beschissen gegangen war.

    »Du arbeitest heute Abend im Blacklight, oder?«, wandte Rose sich an mich und stellte ein Tablett mit leerem Geschirr ab, das ich ergriff und durch das kleine Fenster in die Küche weiterschob.

    Bei der Erwähnung des Clubs wurde mein Herzschlag augenblicklich schneller, als ich mich fragte, wie ich die heutige Schicht dort überstehen sollte. Ich wischte meine Hände an der Schürze ab und sah dann wieder zu Rose. Sie schob eine Erklärung hinterher. Hatte ich so lange nicht geantwortet?

    »Im Blacklight

    Sie hatte recht. Es war der dritte Job, mit dem ich meine Nana und mich über Wasser hielt. Zwar gehörte uns mein Elternhaus, doch da Nana nicht mehr arbeiten konnte, war ich die Einzige, die Geld verdiente. Nana brauchte außerdem ihre Medikamente.

    »Ich bin schon so gespannt, was du sagst. Heute ist ja der erste richtige Tag mit Gästen, oder?«

    »Ja, ich habe noch mal an der Schnelligkeit des Cocktailmixens gefeilt.«

    Rose klatschte begeistert in die Hände und fing an, breit zu grinsen. »Du wirst dich bestimmt super machen.« Dabei klang sie so überzeugt, dass ich schmunzeln musste.

    »Gehst du heute auch hin?«, fragte ich und räumte die sauberen Gläser ins Regal. Rose sah auf die Uhr, die links von uns an der Wand hing. Meine Schicht dauerte noch zwei Stunden.

    »Ja, auf jeden Fall. So um zehn. Ungefähr. Ich muss noch warten, was meine Freunde sagen.«

    »Dann sehen wir uns bestimmt kurz.«

    »Hoffentlich.« Rose nickte und ging wieder zu den Gästen.

    Der gesamte Diner wollte etwas bestellen, und es sah so aus, als würde sie in zwanzig Minuten noch nicht fertig sein, die Bestellungen aufzunehmen. Deshalb schnappte ich mir schnell einen der Blöcke und machte mich selbst auf den Weg, um die neuen Gäste abzuklappern, während Rose kassierte. Wir nannten es liebevoll die Geldwelle. Ich sah, wo Rose noch nicht gewesen war, und nahm die Bestellungen an zwei neuen Tischen auf. Dann ging ich weiter. Mein Blick blieb in der hintersten Ecke hängen. Dort saß ein Mann und starrte mich an.

    Es war so, als würden alle Geräusche um mich herum ein wenig leiser werden und in den Hintergrund rücken. Mein Fokus lag einzig und allein auf ihm. Eigentlich hätte ich vermutet, dass mir sein Blick ein unangenehmes Gefühl bereiten würde, aber im Gegenteil. Er war in den letzten Wochen immer wieder hier gewesen, aber ich hatte ihn noch nie bedient. Dabei fiel mir etwas ganz anderes auf. Saß dort etwa ein Wellensittich auf seiner Schulter?

    Verwirrt kniff ich die Augen zusammen und ging langsamer auf den Tisch zu. Als hätte der Vogel mein Starren bemerkt, fuhr er mit seinem kleinen hellblauen Kopf in meine Richtung, während er seinen gelblichen Schnabel aufriss.

    Verdammt! Ich musste gestehen, dass er mich ein wenig einschüchterte. Wenn er jetzt zehnmal so groß gewesen wäre, hätte ich wirklich Angst gehabt. Mir war gar nicht aufgefallen, wann der Mann mitsamt dem Vogel hereingekommen war.

    Komisch. Eigentlich waren hier keine Tiere erlaubt.

    Normalerweise hatte ich alle Menschen im Blick, die das Eggies betraten. Ich ging weiter. Den Vogel ließ ich nicht aus den Augen. Als ich bei dem Mann ankam, bemerkte ich zuerst, wie gut der Kerl aussah. Er hatte weizenblondes Haar und graue Augen, mit denen er mich weiterhin unverhohlen musterte.

    »Was kann ich dir bringen?«, fragte ich und fixierte den Block in meiner Hand, denn nun wurde mir das intensive Gestarre von ihm und dem Vogel doch zu viel.

    »Uns.«

    Ich blickte auf und musterte den Typ vor mir. »Was?«

    »Nicht was, sondern wie bitte«, korrigierte er mich frech und sprach dann weiter, während ich mit geöffnetem Mund vor ihm stand. »Und ich sagte, uns.«

    Er deutete auf den Vogel, der mich ebenso beäugte wie sein Herrchen. Wer hatte denn bitte einen Wellensittich in einem Diner dabei? Die Grenzen meines verrückten Lebens schienen mir nun komplett zu entgleisen.

    »Und was wollt ihr?«, fragte ich und betonte das Wort so stark, dass mein Gegenüber eine Augenbraue hochzog.

    »Einen Kaffee und einen Toast«, sagte er, und ich fragte mich, wie ich eine einzelne Scheibe Toast abrechnen sollte.

    »Okay«, antwortete ich und ging.

    Rose hatte eine Rekordleistung hingelegt, denn sie war bereits am Tresen und griff nach den Tellern, die dort standen. Mehrere Zettel lagen wieder vor mir.

    Ich fing an, die Bestellungen vorzubereiten. Der Kaffee kam zum Schluss dran. Als dieser in einer schönen Tasse angerichtet war, war der Toast an der Reihe. Eigentlich konnte man nur belegte Toasts bestellen, aber das war für den Vogel nicht notwendig. Für den Vogel …

    Ich sah zurück. Ja, er saß definitiv noch immer dort. Der Blick aus seinen kleinen schwarzen Äuglein war weiterhin auf mich gerichtet. Es wirkte so, als könnte der Vogel schlauer sein als mancher Mensch. Die Art, wie er seinen Kopf schief legte, als würde er etwas erkennen. Er war aufmerksam. Aber auf eine gruselige Art. Der Toast schoss aus dem Toaster nach oben und riss mich aus meinen Gedanken. Ich legte ihn auf einen Porzellanteller, verabschiedete ein paar Kunden, die den Diner verließen, und ging dann wieder zu dem Tisch mit dem Mann und seinem gefiederten Gefährten.

    Als ich die Bestellung abstellte, begegnete ich erneut den grauen Augen des Mannes, doch dieses Mal hatte ich das Gefühl, etwas anderes darin zu sehen als zuvor.

    Etwas Merkwürdiges.

    Für einen Moment vergaß ich komplett, wo ich war oder was ich hier tat. Das Einzige, was mich in diesem Moment anzog, war der Ausdruck in seinen Augen. Es lag etwas darin, was mich auf eine bestimmte Weise fühlen ließ.

    Eine Art Macht.

    Von meinem Unwohlsein war keine Spur mehr. Ich schreckte zusammen, als der Vogel auf der Schulter plötzlich kreischte. Der Blick des Fremden zuckte zu seinem gefiederten Begleiter. Bevor er mich erneut ansehen konnte, drehte ich mich um. Was auch immer er in mir auslöste, es war so fremd, dass ich es nicht einordnen konnte. Doch eines war mir klar, es gefiel mir nicht. Ich war erleichtert, als ich bei einem der anderen Kunden ankam, um von dort einige dreckige Gläser mitzunehmen. Mein Handgelenk brannte für einen Moment, bis ich darüber kratzte. Heute war einfach nicht mein Tag. Der aktuelle Andrang brachte einen positiven Aspekt mit sich: Ich hatte keine Zeit mehr, um nach dem Kerl zu sehen. Denn als ich mit den nächsten Bestellungen fertig war, bemerkte ich, dass er verschwunden war. Alles, was er zurückgelassen hatte, war eine gefaltete Serviette, in der ein Zehndollarschein steckte. Sie sah aus wie eine Lotusblume.

    Kapitel 2

    Ich zog die Haustür hinter mir zu, streifte die Schuhe ab und schloss kurz die Augen. Ein erleichterter Seufzer entfuhr mir. Bis zu meinem ersten Abend im Blacklight waren es noch ein paar Stunden, die ich bei Nana verbringen konnte. Alles an mir fühlte sich verdammt schwer an, und ich brauchte einige Momente, bis ich mich dazu aufraffen konnte, in die Küche zu gehen.

    »Nana?«, rief ich etwas lauter, damit sie mich hörte. Keine Ahnung, ob sie ihr Hörgerät trug.

    »May? Bist du schon da?«

    »Ja«, antwortete ich und betrat die helle Küche mit der Marmorkücheninsel.

    Nana schenkte sich gerade grünen Tee in eine kunstvoll verzierte Tasse ein und holte eine zweite, nachdem sie ihre gefüllt hatte. Als auch diese voll war, schob sie mir eine Tasse herüber und reichte mir die Zuckerdose. »Ich weiß doch, dass du ihn brauchst.«

    »Danke, Nana.«

    Sie winkte ab, nahm ihre Tasse in die Hand und ging in den Wohnbereich, um sich auf der Couch niederzulassen. Dabei verschüttete sie etwas von dem heißen Tee, doch machte keinerlei Anstalten, auch nur einen Schmerzenslaut über ihre Lippen zu lassen.

    »O nein, Nana! Hast du dich verbrannt?« Mir zog es die Adern zusammen, als ich die heiße Flüssigkeit auf ihrer Hand sah. Es war nicht viel, aber dennoch nicht angenehm. Schnell griff ich nach einem Küchentuch und tupfte damit vorsichtig ihre Haut ab.

    »Es geht schon, meine Liebe. Ich habe mir nichts getan.« Sie schüttelte den Kopf, wobei ihre schwarzen Haare, die bereits einige graue Strähnen aufwiesen, wild hin und her wirbelten, als wäre eine Windböe durch das Wohnzimmer gefegt.

    Ich wusste, dass es wehgetan hatte, immerhin war es heißes Wasser. Doch sie wollte nicht, dass ich mir Sorgen machte. Vielleicht dachte sie, dass ich sie als Last empfand, was aber absolut nicht stimmte.

    Aus dem Gefrierschrank holte ich einen Beutel mit eingefrorenem Rosenkohl und legte ihn Nana vorsichtig auf die Hand.

    Sie räusperte sich und rutschte ein wenig auf der Couch herum. »Danke«, sagte sie und tätschelte meine Wange mit ihrer faltigen Hand. Ihr liebevoller Blick legte sich auf mich und umwickelte meine Seele wie eine flauschige Decke. »Ich bin froh, dich zu haben, meine Liebe.«

    »Ich bin auch froh, dich zu haben, Nana.«

    »Komm, hol dir deinen Tee und setz dich zu mir. Die Quizshow fängt gleich an.«

    Ich nahm meine Tasse von der Kücheninsel und verharrte in der Bewegung, als mir die Tablettendose mit den durchsichtigen Plastikfenstern ins Auge fiel. Was sollte das denn? Mit zusammengezogenen Brauen griff ich danach und betrachtete das Fach für heute. »Nana?«, fragte ich und zeigte ihr die Dose.

    Ihr Gesicht wurde starr, bevor sie mich sanft anlächelte, beinahe wie ein kleines Kind, das genau wusste, was im Argen lag. So musste ich auch geguckt haben, als ich damals die Wände mit meinen Wasserfarben umgestaltet hatte.

    »Du hast nur eine halbe Tablette genommen? Du weißt, dass der Arzt dir eine ganze verschrieben hat. Eine pro Tag, nicht mehr, nicht weniger.«

    Nana seufze. »Ja, das weiß ich doch, aber ich dachte, wenn ich sie teile, dann reichen sie länger und du hättest mehr Geld und müsstest es nicht immer für mich ausgeben. Verstehst du?« In ihren braunen Augen schimmerten Tränen. »Ich hänge dir wie ein lästiger Klotz am Bein.«

    Ich schüttelte energisch den Kopf, setzte mich neben sie und ergriff ihre Hand. »Bitte sag so etwas nie wieder! Wirklich. Das habe ich noch nie gedacht und werde es auch nicht. Es ist selbstverständlich, dass ich mich um dich kümmere, du bist meine Nana.« Ich sah sie ernst an.

    »Eigentlich sollte ich mich um dich kümmern«, murmelte sie niedergeschlagen und wandte den trostlosen Blick ab.

    »Weißt du, das Leben macht, was es will, daran kann niemand etwas ändern. Aber man kann das Beste daraus machen. Und es ist das Beste. Du bist das Beste. Für dich würde ich alles tun, Nana. Und nur weil du dich nicht auf diese Art und Weise um mich kümmerst, heißt es keinesfalls, dass du nicht für mich da bist. Wenn es mir schlecht geht oder ich Sorgen habe, hörst du mir zu, gibst mir Tipps und hältst mich im Arm. Du umsorgst mich, und mehr brauche ich nicht!«

    Sie zog mich zu sich und legte ihre Arme um meinen Körper. »Das weiß ich, aber ich will das nicht. Ich möchte viel mehr tun können.«

    Ich verstand Nana und ihre Gefühle, doch sie brauchte ihre Medikamente, und dafür musste man genügend arbeiten. Da sie das nicht mehr konnte, lag es an mir. Sie trug keine Schuld an ihrer Situation, und das würde ich ihr auch nie in irgendeiner Weise vorwerfen.

    »Das verstehe ich, aber du musst mir versprechen, dass du deine Tabletten regelmäßig nimmst, okay? Ansonsten helfen sie dir nicht.« Ich sah Nana tief in die Augen, bis sie nickte.

    Sie griff nach der Tablettendose und holte die halbe Tablette heraus, um sie hinunterzuschlucken. Den grünen Tee trank sie hinterher.

    »Ich wollte dir keinen Kummer bereiten, May.«

    »Ist schon gut, Nana.«

    Sie betrachtete mich, strich meine Wange entlang und seufzte. »Lass uns über etwas anderes sprechen. Hast du schon das von Christy gehört?«

    Ich runzelte die Stirn. Was sollte ich bitte über die Nachbarstochter erfahren haben? »Nein.«

    »Sie hat jetzt einen Freund, den alle ganz bezaubernd finden. Sie beschreiben ihn als zuvorkommend und herzlich. Hast du nicht vielleicht auch jemanden im Auge?«

    Den grünen Tee in meinem Mund hätte ich beinahe ausgespuckt, so unvorbereitet traf mich die Frage. Schnell schluckte ich ihn hinunter und schüttelte den Kopf. »Äh, nein. Ich habe niemanden im Blick.«

    »Dann solltest du mal ausgehen.«

    »Nana«, sagte ich schockiert. »Das geht nicht einfach so.«

    »Na ja, wenn man es nicht probiert, funktioniert es nicht. Da hast du recht.«

    Sie bemerkte meinen entrüsteten Ausdruck und lächelte mich an. »Ich möchte doch nur, dass du deine Jugend lebst. Abenteuer erlebst und ein bisschen rauskommst aus dem ganzen Alltag.«

    Wie sollte ich ihr sagen, dass es nicht möglich war? Immerhin musste ich wegen des Geldes arbeiten, das wir brauchten. Da konnte ich nicht einfach feiern gehen, wie es die anderen in meinem Alter machten.

    »Ich weiß. Irgendwann mache ich das. Sollte nicht jetzt gleich die Quizshow beginnen?«, fragte ich und wandte mich zum Fernseher.

    Das wissende Lächeln auf Nanas Lippen konnte ich aus dem Augenwinkel genau erkennen. Mit Ablenkungen war ich noch nie gut gewesen.

    »Ja, du hast recht.« Sie schaltete den Fernseher ein, griff nach einem Bastkorb, der neben der Couch stand, und holte etwas heraus.

    »Was ist das?«, fragte ich und deutete auf die Wolle in ihren Händen, die sie mit zwei Stricknadeln verband.

    »Wolle.«

    »Ja, aber für was?«

    »Ich stricke Socken, die kann ich dann in der Nachbarschaft verkaufen oder auf einem der Handarbeitsmärkte. Obwohl dort bestimmt Leute sind, die das viel besser als ich können.«

    Die orangene und blaue Wolle ergab einen kräftigen Farbverlauf in ihren Händen.

    »Das wird schön, die Menschen werden sie lieben«, sagte ich und deutete auf die halb fertige Socke in ihren Händen.

    Nanas Augen leuchteten freudig auf. »Glaubst du?«

    »Da bin ich mir ganz sicher.«

    »So kann ich dir vielleicht einen kleinen Teil abnehmen, auch wenn es nicht viel sein wird.« Niedergeschlagen stoppte sie in der Bewegung.

    »Aber es ist vollkommen genug«, erwiderte ich und drückte ihren Arm.

    Wir lächelten uns an, und ich war froh um die Zeit mit meiner Nana. Wenn ich sie nicht hätte, gäbe es niemanden mehr, deshalb kostete ich jeden Moment mit ihr aus. Sie war das Wichtigste in meinem Leben, und ich würde alles dafür tun, damit es ihr gut ging.

    Kapitel 3

    Der Bass des Clubs donnerte in meinen Ohren. Über die Bar hinweg konnte ich Rose und ihre Freundinnen sehen. Sie tanzten in der Mitte, umringt von mehreren Menschen, die ihnen bewundernd zusahen. Als Rose meinen Blick bemerkte, winkte sie mir zu. Ich schenkte ihr ein Grinsen und sah dabei zu, wie sie sich an einer ihrer Freundinnen zu Boden sinken ließ, um dann mit einem eleganten Haarschwung wieder aufzusehen.

    Bis jetzt lief es recht gut, ich war froh, dass ich zuvor schon einige Barjobs gehabt hatte und nun hier im Blacklight anfangen konnte. Es gab zwei Tanzflächen, den oberen Bereich und den unteren. Zu Letzterem musste man sich aber im Vorfeld anmelden und außerdem einiges an Geld draufzahlen. Außer man arbeitete hier.

    Die Netzstrumpfhose bohrte sich in meine Oberschenkel, als ich mich nach dem Eisfach bückte und mit der Schaufel einige Würfel herausfischte.

    »Eyyy«, grölte jemand. Als ich aufsah, erkannte ich einen Kerl mit rot unterlaufenen Augen und verschwitztem weißen Shirt.

    »Drei Tequila.« Er klatschte mir einen Geldschein auf den Tresen und versuchte aufrecht stehen zu bleiben. Doch er wankte wie ein alter Fischkutter auf See.

    »Alles klar.« Ich stellte ihm die fertigen Shots hin und nahm das Geld. Mit offenen Haaren wurde mir langsam zu warm, deshalb band ich sie mir zu einem Pferdeschwanz zusammen. Über den Abend hinweg reichte ich weitere Bestellungen über die Theke und sah immer mal wieder prüfend zu Rose. Ich würde heute nicht bis zum Schluss arbeiten, da es mein erster Tag war.

    Jonathan, der Chef des Blacklight, war freundlich und vor allem human. Konnte ich nicht von den meisten Chefs behaupten, mit denen ich zusammengearbeitet habe.

    »He, Neue. Ich übernehme jetzt. Gute Arbeit.« Ein breit gebauter Kerl mit Tanktop trat neben mich. Um den Kopf hatte er ein Bandana gebunden, genauso wie um sein Handgelenk. Seine braunen Haare waren ein wenig zu lang, sodass sie ihm in die Augen fielen.

    »Okay. Danke«, rief ich über den Lärm hinweg und trat hinter der Bar hervor. Ich hatte meine Sachen hinten in einem Spind eingeschlossen. Doch zuvor musste ich mich durch die Menge der tanzenden Menschen kämpfen, die alle dicht an dicht gedrängt waren. Die Luft war so stickig und muffig, dass ich mich erst daran gewöhnen musste.

    Ein Schatten erregte meine Aufmerksamkeit. Rechts an der Wand entdeckte ich eine Person, die stocksteif dort stand und sich nicht bewegte. Der Kerl aus dem Eggies, nur dieses Mal ohne Vogel. Er betrachtete mich über die Menge hinweg. Starrte mich an und setzte sich dann in Bewegung. Nicht in meine Richtung, sondern von mir weg. Ich könnte ihn einfach ignorieren und nach Hause verschwinden, weil ich fertig und müde war. Oder aber ihm folgen und ihn zur Rede stellen, was das sollte. Immerhin tauchte er immer dort auf, wo ich arbeitete.

    Er blickte über seine Schulter, um sicherzugehen, dass ich ihn sah. Das tat ich. Mit schwitzigen Händen entschied ich mich dazu, ihm zu folgen. Mit schnellen Bewegungen schlüpfte ich durch die Masse hindurch, darauf fokussiert, den blonden Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Ich wurde mehrmals angerempelt und weggedrängt, doch ich sah, wo er hinging. In den unteren Bereich des Clubs. Zwei Männer standen vor der Treppe, die nach unten führte, und betrachteten mich.

    »Ich arbeite hier.«

    Die Männer nickten. Wahrscheinlich hatten sie mich hinter der Bar gesehen, ansonsten konnte ich es mir nicht erklären, weshalb sie mich durchließen.

    In mir zog sich etwas zusammen, als ich die Treppe nach unten ging. Das Licht hatte einen bläulichen Schimmer, und die Luft war sogar noch stickiger als zuvor. Ich sah strahlend weiße Zähne, Farben und Leuchtstäbe. Eigentlich sehr cool, wenn ich selbst nicht hier wäre. Das war doch eine blöde Idee gewesen, hier hinunterzugehen. Wie hätte ich den Mann auch zur Rede stellen wollen? Ihn anschreien, denn sonst würde er kein Wort verstehen von dem, was ich sagen würde? Zwar hielt ich nach ihm Ausschau, aber ich hatte es bereits aufgegeben.

    Eine Welle der Übelkeit überrollte mich, und ich beschloss, wieder nach oben zu gehen. Jemand griff nach meinem Handgelenk. Als ich aufsah, erkannte ich ein blondes Mädchen, das UV-Make-up trug. Es sah cool aus.

    »Oh, wow, das ist ja schön!«, sagte sie.

    Was meinte sie? Mit ihrem pink lackierten Nagel deutete sie auf meinen Arm. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Dann hielt ich die Luft an. Schloss meine Augen und öffnete sie wieder. Das war unmöglich. Was sollte das sein? Ich griff an mein Handgelenk und betrachtete eine Blütenknospe, die in verschiedenen Rottönen leuchtete. Es sah aus wie ein Tattoo.

    Doch ich würde mich niemals tätowieren lassen. Das ließ meine Nadelphobie nicht zu. Also wie zur Hölle war das dann an mein Handgelenk gekommen?

    »Ich hab von solchen Schwarzlicht-Tattoos gehört, die sind echt cool!«

    »Danke«, wisperte ich, und als ich aufsah, war das Mädchen verschwunden. Ich betrachtete wieder die Knospe auf meiner Haut. Hatte ich vielleicht einen Stempel des Clubs bekommen?

    Nein, ganz sicher nicht. Plötzlich fühlte ich mich nicht gut. Meine Atmung beschleunigte sich, und mein Herz glich dem Hufgetrappel einer wilden Horde Pferde. Hektisch strich ich mir über die Haut, in der Hoffnung, dass das Mädchen und ich uns das nur eingebildet hatten.

    Doch die Knospe verschwand nicht, auch nicht nach dem unzähligsten Mal, als ich über sie strich. Sie schien nur noch mehr zu leuchten. Wurde heller.

    Sofort sah ich mich um, ob mich irgendjemand beobachtete. Gleichzeitig hielt ich mir die Hand über die Blütenknospe, damit niemand das Glühen sah, das davon ausging. Was sollte das denn jetzt schon wieder?

    Neben mir hörte ich ein Mädchen lachen. Kurz darauf rempelte mich jemand an, und als ich nach oben sah, erkannte ich ein knutschendes Pärchen.

    Ich verzog das Gesicht. Schnell wandte ich mich von den Menschen ab und ging in Richtung der Treppe, über die ich zuvor hierhergelangt war. Das Ding auf meiner Haut leuchtete weiterhin, als ich meine Hand zur Seite bewegte und das glühende Rot betrachtete.

    Verdammt, ich wurde verrückt. Das Bedürfnis, hier herauszukommen, wurde mit jeder Sekunde größer. Der blonde Mann war schon längst vergessen. Ich rannte die Treppe nach oben, nur um an den verwunderten Türstehern vorbeizukommen, die mich misstrauisch musterten. Doch ich ignorierte sie und fing an, mich erneut durch den Pulk der sich bewegenden Leiber zu quetschen.

    Die Luft schien knapper zu werden, denn ich hatte das Gefühl, nicht mehr genug davon in meine Lunge zu bekommen. Schneller drängelte ich mich an den Leuten vorbei, die mir teilweise doofe Bemerkungen hinterherbrüllten, aber das war mir in dieser Situation vollkommen egal. Ich musste nur hier raus.

    In Windeseile holte ich meine Sachen von hinten und war froh, dass ich niemandem begegnete, der mich aufhielt. Die kühle Luft schlug mir bereits entgegen, als ich kurz vor der Tür war. Sie schien meine erhitzte Haut zu beruhigen, ebenso wie meinen Geist. Als ich wieder vor dem Blacklight angekommen war, ging ich ein paar Schritte taumelnd nach

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