Erlebnisse: Kurzgeschichten
Von Reinhold Vollbom
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Buchvorschau
Erlebnisse - Reinhold Vollbom
Es klappt auch ohne
Durch ständiges Nippen sog ich den letzten Rest vom Frühstückskaffee aus der Tasse. Danach tastete meine Hand wie üblich den Teil der Kleidung ab, an der sich die Zigaretten befanden. Herrje, was war das?! Wo, verflixt nochmal, war das kantige Profil der Schachtel? Mehrmaliges Abklopfen der Stelle, sowie der näheren Umgebung, änderten an dem Ergebnis nichts. Es war keine Packung mit Zigaretten vorhanden.
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Gestern Abend, die Geburtstagsfeier. Genau! Hatte ich nicht nach dem letzten Bier damit rumgeprotzt, jederzeit mit dem Rauchen aufhören zu können? Zum Beweis für diese Worte zerriss ich daraufhin heldenhaft die Packung mit den Zigaretten.
Mürrisch erhob ich mich vom Frühstückstisch. Mit einem Mal atmete ich erleichtert auf. Mein Nachbar, der mir immer morgens auf dem Weg zur Arbeit begegnete, würde mir bestimmt mit einem Glimmstängel aushelfen.
Draußen angekommen, bemerkte ich ihn sofort. »Grüß dich, Bert! Sag mal …«
»Entschuldige, dass ich dich unterbreche«, entgegnete der andere mit bewunderndem Augenaufschlag. »Respekt vor deiner Entscheidung von gestern Abend. Einfach so mit dem Rauchen aufhören zu wollen. Das wird sicherlich eine schwere Zeit für dich, nicht wahr?«
Im Laufe des Gesprächs vergaß ich ihn um eine Zigarette zu bitten. Außerdem hatte ich die Absicht es allen anderen zu beweisen, dass ich jederzeit aufhören konnte, – wenn es mein Wunsch war.
Immer noch hatte ich keine Zigarette in den Mund genommen. Oder auch nur angefasst. Mein Blick war wahrscheinlich so fahl wie die Haut. Die Hände kribbelten, als würden sie ständig in einem Ameisenhaufen stecken. Und hinzukam, dass die ganze Welt scheinbar nur aus Zigaretten-Reklame bestand. Kein Wunder also, dass der Tabakqualm der anderen, meine Sinne besonders reizte.
Mit der Zeit kam in mir das Gefühl auf, dass ich es geschafft hatte. Warum sollte ich mir also zur Belohnung nicht noch einmal eine gönnen, – so zum Abgewöhnen?! Aufhören konnte ich jederzeit, das war ja nun zur Genüge bewiesen.
Zufällig hatte ich das passende Kleingeld für den Zigarettenautomaten in der Tasche. Ein metallisches Schlürfen. Gleich darauf hielt ich mit zitternden Fingern meine Lieblingsmarke in der Hand.
Eine Zigarette genügt, überlegte ich. Die Restlichen werfe ich vielleicht weg. Die Lippen bebten, als ich den Tabakstängel zum Mund führte.
»Aber … aber, mein Herr! Auf dem U-Bahnhof ist Rauchen verboten!«
Erschrocken sah ich in ein kopfschüttelndes Gesicht.
Auf den letzten Metern zum Büro unternahm ich einen weiteren Versuch. Mein Zittern verstärkte sich. Ich hatte Mühe das Stäbchen in den Mund zu bekommen.
Doch was war das?! Entsetzt blieb ich stehen. Nervös wühlte ich in den Taschen. Gleich darauf gab ich enttäuscht auf. Ich hatte keine Streichhölzer bei mir.
Den nächsten Passanten, der mir entgegenkam, bat ich um Feuer. Doch anstatt mir die gewünschte Flamme entgegenzuhalten, sah ich in ein hämisch grinsendes Gesicht.
»Pfeift die Lunge, he?« Gleich darauf wurde sein Gesichtsausdruck bösartig. »Verzehnfachen sollten sie die Zigarettenpreise. Verzehnfachen!«
Ich werde meinen Arbeitskollegen bitten mir Feuer zu geben, überlegte ich. Auf der Stirn bildeten sich dicke Schweißperlen.
Im Büro angekommen, warf ich die Schachtel mit den Zigaretten achtlos auf den Tisch. Dann kam ein Kollege ins Zimmer.
»Frierst du? Du zitterst so. Ach, hier sind sie ja.«
Überrascht musste ich mit ansehen, wie er meine Packung mit den Zigaretten einsteckte.
»Übrigens«, sprach er weiter, »ich beneide dich, wie du das schaffst, mit dem Rauchen aufzuhören. Einfach klasse!«
Der Tag verging wie im Fluge. Den aufkommenden Spötteleien einiger Mitarbeiter widerstand ich erfolgreich. Die gelegentlichen Schweißausbrüche bekämpfte ich mit emsigem Arbeiten.
Auf dem Nachhauseweg traf ich einen Bekannten. Der wusste noch nicht, dass ich Nichtraucher war. Um ihn nicht zu kränken, nahm ich die Zigarette, die er mir anbot. Steckte sie jedoch in die Brusttasche des Jacketts und verabschiedete mich eilig.
»Hast du durchgehalten?«, wurde ich von meiner Gattin begrüßt.
Und als ich nickend bejahte, warf sie sich mir überschwänglich an den Hals. Sie drückte und drückte mich. Presste ihren Körper so lange an meine Brust, bis Papier und Tabak getrennt in der Tasche vorhanden waren.
Dann eben nicht! – trotzte ich.
»Für dich«, sprach sie und gab mir eine Packung meiner Lieblingszigaretten.
Hastig ergriff ich das Päckchen. Öffnete es gewaltsam, zog eilig eines der Stäbchen heraus, riss begierig das weiße Papier ab, – und verschlang genüsslich den darin befindlichen Schokoladenstängel.
»Endlich über ’n Berg!«, schmunzelte ich kauend.
Links unten sechs
Das Krachen in meiner Mundhöhle glich dem eines einstürzenden, größeren Wohnhauses. Unterkiefer und Oberkiefer verharrten urplötzlich wie eingefroren in ihrer Position. Die Farbe des Lippenstiftes schien die Lippen unauflöslich verklebt zu haben. Es dauerte lange, bis ich den Mut fasste, die Kiefer wieder zu bewegen.
Gleich darauf schoss meine Zungenspitze blitzschnell an die Stelle der Zahnreihe, an der ich den Defekt vermutete. Ein Bruchstück des Zahnes schien noch fest verwurzelt. Das andere Fragment folgte den feinen schlingernden Bewegungen der Zunge. – Gebrochen!
»Ein Chamäleon würde jetzt vor Neid erblassen, wenn es dein Gesicht sehen könnte.« Mein Gatte sah mich mit einem mitleidsvollen Lächeln an.
Ein Gruselkabinett, bei Neumond und Stromausfall ganz allein zu betreten, wäre für mich in diesem Moment ein Leichtes gewesen. Gegenüber dem, was ich augenblicklich tat. Die Tür zur Anmeldung des Zahnarztes zu öffnen. Sanft, aber bestimmend, schob mich die Hand meines Ehemannes zur Rezeption.
»Ich bleibe in deiner Nähe«, sprach er männlich tröstend. Und mit aufgelockertem Augenaufschlag über die Schulter zu mir, ergänzte er: »Wenn ich schon mal hier bin, lasse ich mich auch gleich untersuchen.«
Mein Blick sprang im Wartezimmer von einem zum anderen. Stummes vor sich hingucken. Zeitunglesen. Alles, nur kein Lächeln war zu sehen. Nahezu auf jedem der gepolsterten Plastikstühle saß jemand. Trotzdem war der Raum für mich immer noch menschenleer. Die Gefahr, bald aufgerufen zu werden, somit enorm groß. Weißkittlige, stumm Dreinschauende, eilten im Vorraum mit flinken Schritten aufeinander zu. Tauschten sich gleich darauf flüsternd aus und hetzten schmunzelnd wieder auseinander.
Meine Gedanken führten mich, für eine längere Zeit, in eine andere, schönere Welt. Ein kurzer Stups an die Schulter, zerstörte diese Traumwelt.
»Komm Schatz, geh du zuerst.« Mein Gatte deutete, mit einer Bewegung des Kopfes, in die Richtung des einen Behandlungsraumes. »Bei mir dauert es nicht so lange.«
Widerstandlos ließ ich mich abführen. Tonlos beantwortete ich die militärisch knapp gestellten Fragen. Wortreiche Sätze hätten wahrscheinlich die Behandlung nur unnötig in die Länge gezogen.
Die Kunstlederliege formte meinen Körper in eine für den Arzt genehme Position. Wasserfallähnliches Rauschen drang an das linke Ohr. Auf der Brust breitete sich ein dickes weißes Zellstofftuch aus. Mein Mund öffnete sich. Ein greller Lichtpunkt erleuchtete den Innenteil des Rachenraumes. Die scharfen, neugierigen Augen des Zahnarztes, konzentrierten sich auf eine bestimmte Stelle im Mundinnern.
»Fraktur, links unten sechs.«
Ich hatte das Gefühl, dass diese vier Wörter mein Leben total verändern würden. Eine Zeit lang vergaß ich alles um mich herum. Wusste nicht mehr, wer und wo ich war. Plötzlich drang ein schrillendes Kreischen an mein Ohr. Jedes Mal, wenn das Pfeifen von einem leisen, kaum wahrnehmbaren Rattern begleitet wurde, war ein geräuschvoll vernehmliches Stöhnen zu hören. Das Seufzen wechselte in ein winselndes Jammern.
»So, dann wollen wir mal. Die Betäubung muss schon wirken.«
Jetzt wurde mir klar, dass das Stöhnen nicht von mir kam, sondern aus dem anderen Behandlungszimmer, zu uns herüberdrang. Gleich darauf entfernte sich der Strenggesichtige unerwartet von mir. Mehr geahnt als gehört, vernahm ich mit einem Mal, die mit kritischem Unterton gewechselten Wortfetzen. »… schwieriger Eingriff … liegt quer … das Beste daraus machen …« Sein Tonfall ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Überrascht sah ich plötzlich in das genüsslich beruhigende Lächeln, des über mir schwebenden Gesichtes. »Weibliche Patienten sind oft standhafter als männliche«, flüsterte er mir schmunzelnd zu. »Meine Kollegin nebenan hat einen querliegenden Backenzahn, der herausgeschnitten werden muss. Und das auch noch bei einem männlichen Patienten …« Die Falten in seinen Augenwinkeln wirkten entspannend auf mich. Mir war, als würden zehntausend Muskeln nach einer Entwarnung, locker und voller Freude Samba tanzen.
Schneller als erwartet, verließ ich den Behandlungsraum. Mutig wollte ich meinem Gatten gegenübertreten. Aber wo war er?
Eine Arzthelferin kam mit eiligen Schritten auf mich zu und flüsterte: »Er ist bereits drin. Es dauert bei ihm ein wenig länger. Ein Backenzahn liegt quer …« Sofort darauf eilte sie entschuldigend lächelnd in den zweiten Behandlungsraum zurück.
Fast zum Gruseln
Beim besten Willen, mir wollte einfach nichts Gruseliges einfallen. Dabei hatte ich meiner Tochter versprochen, wenn sie morgen nach Hause kommt, ihr eine Gruselgeschichte zu erzählen.
Mit einem Mal horchte ich auf. Was war das?! – Ein grässliches, gedämpftes Stöhnen. Von irgendwoher vernahm ich Laute, die sich in ihrer Art abwechselten. Nun war es ein schauriges Seufzen.
Herr Gott! Wer sollte denn hier derartige Geräusche von sich geben, überlegte ich? Gespannt lauschte ich in das Halbdunkel des Zimmers hinein. Es war deutlich hörbar. Ein langatmiges ausgeprägtes Seufzen. Mal lauter, mal leiser. Plötzlich verschwand es, um Augenblicke später wieder zu erscheinen. – Mir fröstelte.
Ich begab mich zum Fenster und sah in die sternenklare Nacht hinaus. Es war kurz nach Mitternacht. Die Straße war menschenleer. Ein Wind kam auf. Vielleicht war er es, überlegte ich, der sich in den Ästen verfing. Hierbei sah ich zu den wenigen Wolken hinauf. In den Baumkronen tanzten die Blätter hektisch hin und her.
Um mir Gewissheit zu verschaffen, öffnete ich die Terrassentür und begab mich mehrere Schritte hinaus. Draußen blies mir der frische Nachtwind ins Gesicht. Stumm und regungslos stand ich da und wartete auf eine logische Erklärung für das grässliche Stöhnen. Aber hier draußen war nichts Derartiges zu hören.
Mit einem Mal zerriss ein heftiger Knall die Stille der Nacht. Erschrocken zuckte ich zusammen. Ich drehte mich entsetzt um. Gleich darauf fiel mir ein Stein vom Herzen. Der Wind hatte die Terrassentür zugeschlagen. Im Handumdrehen eilte ich zurück ins Zimmer.
Knall auf Fall blieb ich stehen. Wo war der Brief, der hier noch vor wenigen Minuten auf dem Tisch lag? Er war spurlos verschwunden. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Es spukt, schoss es mir durch den Kopf. – »Blödsinn!«, sprach ich gleich darauf. »So etwas gibt es nicht!« Der Klang der Stimme sollte mich beruhigen.
Bevor mir weitere Gedanken über das Verschwinden durch den Kopf sausten, verzogen sich meine Mundwinkel zu einem zaghaften Lächeln. Der Wind hatte den Brief vom Tisch geweht. Nachdem ich mich bückte, um ihn aufzuheben, vernahm ich erneut dieses grässliche Stöhnen.
Vorsichtig trat ich auf den Flur hinaus. Es musste einen Grund für das Geräusch geben. Ich wartete und lauschte. Schlich wieder einen Schritt weiter. Rührte mich nicht von der Stelle. Spitzte die Ohren. Nichts. Absolute Ruhe.
Doch dann blieb ich, wie vom Blitz getroffen, starr stehen. Ich spürte vor Schreck förmlich das Blut in den Adern stocken. Einmal, zweimal schluckte ich und atmete kräftig durch. Gleich darauf ergriff meine Hand ein wenig zitternd den Telefonhörer. – Ein weiteres Läuten des Telefons wollte ich vermeiden.
»Hal … Hallo, Liebling«, lallte eine Stimme aus dem Hörer.
»Ich hoffe, Ihr Liebling wird Ihnen die Ohren langziehen!« Ärgerlich beendete ich das Gespräch. Wer immer sich da verwählt hatte, es war ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt.
Nachdem ich im Schlafzimmer nach der Ursache des Stöhnens forschte, hielt ich jäh den Atem an. Über meinem Bett huschte ein Schatten. Er war ganz deutlich zu erkennen. Hatte zwei, drei, vier Beine und war so mächtig wie ein Tiger. Entsetzt wich ich zurück. Doch gleich darauf war er so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war.
Erst jetzt wurde mir klar, dass es nur ein Schatten im Mondlicht war. Ich eilte zum Fenster. Im letzten Augenblick sah ich, wie eine Katze vom Baum auf die Mauer sprang. Gleich darauf tauchte sie im nächtlichen Schwarz unter. Erleichtert atmete ich auf.
Jetzt war das grässliche Stöhnen überdeutlich zu hören. Mein ganzer Körper überzog sich mit einer Gänsehaut.
»Schrecklich!«, ächzte ich und hatte mit einem Mal furchtbare Angst. Dann wurde das Stöhnen noch lauter, verschwamm zu einem Kreischen und verstummte schlagartig. Tauchte sofort wieder auf, um in einem schrillen, markerschütternden Heulen zu enden. Wie der verzweifelte Hilferuf eines Menschen, der erkennt, dass er sich in den Fängen des Todes befindet. Aus dem es kein Entrinnen gibt.
Plötzlich erlosch in der ganzen Wohnung das Licht. In Schweiß gebadet stand ich zitternd da und wartete ab, was nun passieren würde. Doch es geschah nichts. Auch dieses grässliche Stöhnen war verschwunden.
Vorsichtig tastete ich mich zum Sicherungsschalter vor. Irgendetwas strich gleich darauf sanft an meinem Gesicht vorbei. Ich schrie, so laut es mir möglich war. Zwei, drei Schritte sprang ich zur Seite. Irgendjemand warf eine Decke über meinen Kopf. Man will mich ersticken, wurde ich von panischer Angst ergriffen.
Mit einem weiteren Sprung erreichte ich den Sicherungsschalter. Geistesgegenwärtig betätigte ich ihn mit der rechten Hand. Während ich mit der Linken versuchte mich aus der Umklammerung zu befreien.
Eine Sekunde später flammte das Licht wieder auf. Zu meiner Erleichterung musste ich feststellen, dass niemand da war, der mich ersticken wollte. Ich hatte lediglich einen Pullover, der auf einem Kleiderbügel am Türrahmen hing, heruntergerissen.
Mit einem Mal tauchte das grässliche Stöhnen wieder auf.