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Die Toten schauen zu
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eBook248 Seiten3 Stunden

Die Toten schauen zu

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Über dieses E-Book

Als in der von deutschen Truppen besetzten Tschechei der SS-Obergruppenführer und General der Polizei von Bertsch von einem vorbeifahrenden Motorradfahrer niedergeschossen wird, setzt das Dritte Reich 800.000 Reichsmark Belohnung für Hinweise aus, die zur Ergreifung des Täters führen. Als in der Nähe des kleinen Dorfes Dudicka ein verlassenes Motorrad am Uferrand geborgen wird, entsendet die Gestapo den berüchtigten SS-Offizier Heinz Horner, um eine Untersuchung einzuleiten und die Dorfbewohner Horners Repressalien auszusetzen.
Vor historischem Hintergrund schuf der großartige Gerald Kersh 1943 unauslöschliche Bilder vom Hereinbrechen des Schreckens über eine unschuldige Dorfgemeinschaft, die bis heute nichts von ihrer dramatischen Wucht und Sprachkraft verloren haben.
SpracheDeutsch
HerausgeberPulp Master
Erscheinungsdatum18. März 2016
ISBN9783927734906
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    Buchvorschau

    Die Toten schauen zu - Gerald Kersh

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    1. Metzger, Metzger, schlachte den Ochsen

    »Solange ein Schuss ins Schwarze treffen kann, seien Sie auf der Hut!« Petz, eine Zigarre zwischen den Fingern, stand in einem Kreis aus Asche. Spröde, düster und doch mit Feuer im Blick, mit umschatteten Augenhöh­len, dem kurzen grauen Haar und dem Schnurrbart, der die Farbe und den metallischen Glanz von Anthrazit hatte, schien er sich geradezu in die Nacht gebrannt zu haben. Selbst seiner Stimme haftete das Knistern glühender Asche an. Er sagte: »Äste von Bäumen werden zu Knüppeln – seien Sie nie ohne Helm! Mit einer Schnur kann man strangulieren – schützen Sie Ihre Kehle! Wo immer ein Dach ist, von dem ein Stein fallen kann, ist Vorsicht geboten! Zehenspitzen sind zum Anpirschen da – gestatten Sie sich niemals einen Tiefschlaf! Vorsicht auch vor fremden Frauen, dunklen Torwegen und menschenleeren Straßen. Nächte mit mondlosem Himmel sind gefährlich – seien Sie immer in Begleitung!«

    Er hielt inne. Zigarrenasche fiel auf den Teppich. Petz’ Hand musste gezittert haben. Der Rauch seiner Zigarre stieg einige Zentimeter gerade nach oben, bevor er sich unruhig zu kräuseln begann, um sich dann mit dem grauen Schleier zu vereinigen, der träge durch den Raum schwebte. Seit Mitternacht schon wurde geraucht. Zerdrückte Zigarettenstummel und aufgeplatzte Zigarrenenden füllten die Aschenbecher. In Sachsners Untertasse hatte sich eine stinkende gelbbraune Brühe aus türkischem Tabak und verschüttetem Kaffee gesammelt, worin sich Spuren von verbranntem Zigarettenpapier allmählich auflösten. Finger waren gelb geworden, Augen hatten sich gerötet und Kinnpartien schimmerten bläulich, Wangen waren eingefallen und Lippen aufgesprungen, Zungen fühlten sich pelzig an. Nur Bertsch saß da, noch immer rosig-frisch, und zeichnete etwas auf einen Block Löschpapier.

    Begonnen hatte Bertsch mit einem geometrisch nahezu exakten Quadrat. Anschließend hatte er sich dessen Seiten gewidmet, mehr Quadrate angefügt, sich auch deren Seiten gewidmet, Quadrate in Quadrate gepackt, mit stockendem Atem stets das Zusammentreffen zweier Linien vermieden und akribisch ein wirres, irres Muster gerader Linien hervorgebracht. Er war darin vertieft – das Muster schien ihn in Harnisch zu bringen und glei­ch­zeitig zu fesseln. Er konnte nicht aufhören. Immer blie­ben vier Linien übrig – er war getrieben weiterzumachen, Quadrat an Quadrat zu setzen, schneller und schneller. Seit Stunden machte er das nun schon. Alle beobachteten ihn. Es bedeutete, dass Bertsch nachdachte.

    Bertsch summte leise vor sich hin.

    Petz kam zum Schluss:

    »Slawen sind Sklaven. Der Obergruppenführer hat recht.« »Wie immer«, fügte er hinzu, als Bertsch ihm plötz­lich das große, weiche Gesicht zuwandte und ihn ansah. »Hat wie immer recht. Aber ... «

    »Aber was genau?«, fragte Bertsch.

    »Wir sollten besondere Vorkehrungen treffen«, er­wi­derte Petz.

    »Oberst Petz, Sie sind ein wenig abgespannt«, sagte Bertsch mit großer Liebenswürdigkeit und Petz setzte sich, als hätte man ihm einen heftigen Schlag verpasst, und schwieg.

    »Ich gehe konform – «, begann Sachsner.

    »Es wäre mir eine Ehre, dürfte ich kurz das Wort an Sie richten«, sagte Bertsch. Sachsner klappte den Mund zu.

    Und dann – während er in aller Seelenruhe das be­kritzelte Löschpapier zerriss – sagte Bertsch mit einem Lächeln: »Es liegt doch auf der Hand. Die Zeit wird diese Generation auslöschen. Wir werden der Zeit assistieren. Ausgezeichnet! Erstens: Wir schöpfen den Rahm ab und dekantieren ihn. Zwangsverpflichtung zu Schwerstarbeit. Zweitens: Die Alten und mit ihnen die alten Erinnerungen sterben von allein. Drittens: Die Kinder sind unser. In zehn Jahren sind die Tschechen erledigt. Eine neue Generation wird da sein, gezüchtet, um zu gehorchen. Vortrefflich! Sie können ein Kind lehren, Sie anzubeten wie Jesus Christus. Schön. Schön! Aber das war nicht unser Thema. Unser Thema war und ist, sich das Gesindel zum gegenwärtigen Zeitpunkt untertan zu machen.

    »Wenn Sie einen pflichtvergessenen Rekruten in der Truppe haben, was tun Sie? Ganz einfach, Sie zwingen ihn in die Knie. Sie machen ihm klar, dass das Leben nicht lebenswert ist, solange er die ihm erteilten Befehle nicht präzise befolgt. Sie verhelfen ihm zu der Einsicht, dass es sich nicht lohnt. Sie heizen ihm ein, bis er um Gnade schreit. Wenn nötig, töten Sie ihn, als Lehrstück für andere. Er gehorcht oder er stirbt. Ja? Gut. Nun, für ein Volk gilt das Gleiche.«

    Bertsch nahm eine Zigarette aus seiner Packung. Petz, Sachsner und Breitbart beugten sich vor, jeder ein brennendes Streichholz in der Hand. Bertsch ließ sich von Breitbart Feuer geben und fuhr fort:

    »Niemand ist allein. Jeder Schweinehund hat einen Kameraden oder ein Liebchen oder eine Frau oder ein Kind oder einen Bruder oder eine Schwester oder einen Vater, eine Mutter, einen Schatz – weiß der Teufel was alles. Egal, wen oder was ein Mann liebt, es ist stets sein wunder Punkt, werte Freunde. Ein Mann verkraftet den eigenen Tod. Das ist leicht. Aber machen Sie ihm be­wusst, dass jeder in seiner Familie eine Geisel ist, ein Garant seines Gehorsams! Sie machen es ihm bewusst und sehen den Unterschied! Er wird spuren und Gefallen daran finden. Nun, das habe ich unter logischen Gesichts­punkten in Bohdan herausgearbeitet. Ist Bohdan noch ein Begriff? Es gab da dieses Grummeln innerhalb der Arbeiterschaft. Die Produktion lief schleppend. Sie sag­ten, sie könnten die Arbeit in der vorgegebenen Zeit nicht schaffen. Also pickte ich mir eines schönen Tages hundert heraus, wahllos, und ließ sie aufknüpfen. Ich wurde Zeuge, wie ein junger Bursche hervortrat und darum bat, man möge ihn anstelle eines anderen hängen, irgendeiner, der eine kranke Frau und sechs Kinder hatte. Ein ungebundener Mann geht auf in seinem Op­fer­­mut! Also ließ ich hundert Mann aufhängen und fragte den Rest: ›Schafft ihr jetzt die Arbeit in der vorgegebenen Zeit?‹ Sie schafften es noch immer nicht. Also dezimierte ich sie um weitere einhundert. Kurzum ... Hören Sie: Am Anfang waren es fünfhundertfünfzig Arbeiter. Sie sagten, sie könnten die anfallende Arbeit einfach nicht schaffen. Aber die gleiche Arbeit wurde getan, nachdem ich zweihundert von ihnen hatte aufhängen lassen. Verstehen Sie? Dreihundertfünfzig erledigten Arbeit, die fünfhundertfünfzig nicht hatten erledigen können. Und warum? Weil ich sie das Fürchten lehrte.

    »Diese dreihundertfünfzig hatten allesamt Familienangehörige. Ich hatte sie in der Hand. Ich erklärte ihnen einfach: ›Kein kommodes Eben-mal-so-Aufknüpfen in eurem Fall, Freunde. Aber – du da drüben!‹ Ich rief es einem Burschen namens Prokop zu. ›Du hast eine Mutter zu ernähren, nicht wahr? Und eine Schwester, nicht wahr?‹, sagte ich. ›Eine hübsche Schwester, nehme ich an. Eine kleine, dunkelhaarige Schwester, beinahe er­wachsen, oder? Nun, Prokop, das ist wirklich sehr verantwortungsbewusst von dir.‹ Und dann packte ich ihn am Kragen und ich sagte: ›Nur zu. Mach etwas. Nur ein Zucken mit der Wimper. Ein scheeler Blick. Nur ein einziges Wort. Ich gebe dir mein Ehrenwort als deutscher Offizier und Ehrenmann, dass ich dir nichts tun werde. Dir nicht, Prokop, mein lieber kleiner Freund. Und, willst du die Arbeit einstellen?‹

    »Er erwiderte: ›Nein, mein Herr‹, und ich sagte zu ihm: ›Wenn du willst, lauf davon. Man wird dich nicht bestrafen. Wohin möchtest du gehen? Sprich es aus.‹ Ich sagte: ›Dir wird nichts geschehen, Prokop, mein Junge. Aber ... da ist diese entzückende kleine Schwester, die du hast, Prokop, mein lieber Freund. Sie ist ein recht hübsches kleines Mädchen, deine Schwester. Und dann deine Mutter ... so reizend, so gut. Kann sie tanzen?‹

    »Dieser Prokop sagte: ›Nein, mein Herr‹, und ich sagte: ›Wir könnten ihr das Tanzen beibringen, am Ende eines Telegrafendrahtes, Prokop. Nun, Prokop?‹

    »Er sagte: ›Bitte, ich möchte wieder an die Arbeit gehen, mein Herr.‹

    »Ich sagte: ›Ich bin mir nicht sicher, ob das Reich Männer für sich arbeiten lassen sollte, die nicht gewillt sind zu arbeiten. Bist du gewillt, Prokop? Bist du bereit?‹

    »›Ja, mein Herr‹, sagte er, und er schwitzte Blut und Wasser. ›Ich bin gewillt und ich bin bereit.‹

    »›Dann bitte darum‹, sagte ich. Und er ging auf die Knie. Ich verabreichte ihm eine Tracht Prügel und schick­­te ihn zurück an die Arbeit, ihn und seine Kame­raden. Gott, was haben diese Slawenfratzen rangeklotzt! Also denken Sie immer an das Bohdan-Prinzip. Machen Sie es anschaulich. Hängen Sie eine Familie auf oder, wenn nötig, zwei, ohne jegliche Rücksicht auf Alter oder Ge­schlecht. Seien Sie sich stets bewusst, dass Menschen schwach sind, wenn es um Gefühle geht. Sie versuchen immer, jemanden zu beschützen. Ich verbürge mich mit meinem Leben dafür, dass der tschechische Widerstand innerhalb eines Jahres total in Trümmern liegen wird. Ich bin Oberst Petz außerordentlich dankbar für seine Fürsorglichkeit. Vorsicht ist immer geboten. Selbst eine Ratte beißt, wenn sie in die Enge getrieben wird. Aber selbst eine Ratte wird sich die Zähne nicht an einer eisernen Faust ausbeißen wollen.

    »Schön. Schön. Der Befehl wird in ein paar Stunden rausgehen. Es gibt keinerlei Anlass zur Sorge. Die Slawen sind unter Kontrolle. Die Umerziehung ist nur noch eine Routinesache. Die Brände sind gelöscht. Die Zähne gezogen. Die Krallen gefeilt. Das Halsband ist angelegt und fest genietet. Jetzt geht es nur noch darum, den Knall der Peitsche und die Anstrengungen der Ar­beits­tiere zu koordinieren.«

    Alle erhoben sich.

    »Oberst Petz«, Bertsch legte dem ausgelaugten Mann eine wohlwollende Hand auf die Schulter, »ein Geheimnis der Unterwerfung von Tieren besteht in der Zuversicht, mit der man sie angeht. Nicht wahr?«

    Er wartete die Antwort nicht ab, sondern lächelte und sagte: »Sie sind müde, mein armer Freund. Erholen Sie sich. Machen Sie sieben Tage Urlaub. Suchen Sie sich ein paar nette Mädels. Trinken Sie etwas Wein. Entspannen Sie sich, Petz, entspannen Sie sich. Ich schicke Sie für eine Woche nach Berlin.«

    Mit leutseliger Ignoranz gegenüber Petz’ Dankesbezeigung ging Bertsch zur Tür. Sachsner öffnete sie für ihn. Draußen stampften Schritte vorbei, knallten Hacken zu­sammen.

    »Es wird bereits hell«, sagte Bertsch.

    Er stand auf der obersten Stufe zwischen den reglosen Wachposten, Breitbart, Sachsner und Petz neben sich. Geradezu phänomenal, wie gelassen und frisch Bertsch im Gegensatz zu den anderen aussah. Er senkte den Blick und holte tief Luft. »Ah, es tut gut durchzuatmen!« Ein wunderschönes pastelliges Licht überzog den Himmel. In niedriger Höhe zogen kleine rosafarbene Wolken vorbei, getrieben von einem entfernten Wind. Frei nach Goethe deklamierte Bertsch: »Ach ... könnte man dem enteilenden Augenblick nur zurufen: ›Verweile doch, du bist so schön!‹«

    In diesem Moment fuhr ein Mann auf einem Motorrad vorbei. Es gab ein knallendes Stottern, gefolgt von einem Donnerschlag, als das Motorrad beschleunigte. Sperlinge stoben unter Gezwitscher hoch; Tauben tauchten herab und stiegen mit schlagenden Flügeln wieder auf. »Halten Sie den Mann auf!«, sagte Bertsch und setzte sich auf die oberste Stufe. Sein Gesicht war blau angelaufen. »Er hat auf mich geschossen«, sagte er, und dann fing er in einer dünnen, hohen Stimme an zu schreien.

    Die ganze Stadt schien hochzufahren, hellwach und mit lautem Rufen. Sirenen stimmten ein in Bertschs Ge­heul. Der verkrampfte Mund in seinem massigen, runden Gesicht sah nicht größer aus als das Griffloch einer Okarina. Da war nur eine Schusswunde in seinem Körper, direkt unterhalb des Bauchnabels. Konnte eine klei­ne Kugel so viel anrichten bei einem so großen Mann? Ein Arzt hetzte herbei. Er zog eine Spritze auf und leerte sie in Bertschs Arm, der dicker war als eine Nackenrolle. Bertsch verstummte. Mehr Ärzte kamen herbei. Wo steckte die Kugel? Ein berühmter Chirurg lokalisierte sie. Sie hatte Bertschs Rückgrat zerschmettert. »Nur ein Wunder Gottes kann ihn noch retten«, sagte der Chi­rurg.

    Wagen rasten durch die Straßen. Die Telegrafendrähte rund um den Globus wurden in Schwingungen versetzt und summten. Fernschreiber ratterten, Lochstreifen wurden gestanzt ... B ... E ... R ... T ... S ... C ... H ... Bertsch – Bertsch – Bertsch – Bertsch!, keuchten die Expresszüge, die es bergab auf nahezu hundertfünfzig Stundenkilometer brachten, Anschlag-auf-Bertsch! Anschlag-auf-Bertsch! Und das Signal der Züge kreischte. Prag blaffte Berlin an. Berlin brüllte zurück. Eine Armee von Kripobeamten schwärmte aus. Man kämmte die Stadt durch wie Haare auf einem Kopf, stülpte sie von innen nach außen wie eine Hosentasche, rupfte sie wie Federvieh und häutete sie bei lebendigem Leibe. Flugzeuge jagten im Tiefflug über die Straßen. Die Röte des Tagesanbruches wich dem Blaugrau des Morgens. Eine andere Röte verdun­kelte Bertschs blaugrauen Uniformrock. Wie ein Wirbelwind erfasste Zeter und Mordio ganz Böhmen und Mähren, ergriff alles, vom Kirchturm bis zum Staubkorn. Zweihundertfünfzigtausend Reichsmark Belohnung für die Ergreifung des Mörders von Bertsch, dem Obergruppenführer und General der Polizei.

    Mörder? Ja. Schlaff, eine leere Hülle wie seine ab­ge­leg­ten Hosen, so lag er im Sterben. Nur ließ man ihn nicht. Man hatte Horner eingeflogen. Bertsch sah hoch in sei­nem Todeskampf, sah Horners Gesicht. »Lasst mich sterben«, sagte er. Und dann: »Rettet mich!«

    Horner ant­wortete: »Reißen Sie sich zusammen und versuchen Sie, klar zu denken. Sie können nicht sterben und Un­er­ledigtes zurücklassen. Na los, sprechen Sie, Bertsch. Denken Sie nach. Ihre Akten über diese drei Dörfer sind nicht vollständig. Nehmen Sie sich zusammen, Bertsch. Halten Sie durch! Geben Sie uns eine grobe Einschät­zung ... «

    »Die kleinen, roten Äpfel«, sagte Bertsch.

    »Kleine rote Äpfel«, sagte Heinz Horner und machte sich Notizen.

    »Ja? Wie ein Huhn, wie ein Kohlebergwerk! Tanzen, tanzen über dem Nichts! Mit einem Telegrafendraht und die Wellen, die Wellen ... «

    Heinz Horner erkannte, dass Bertsch phantasierte, und sagte: »Fettes Schwein.« Er rüttelte Bertsch an der Schulter. Bertsch versuchte, ihn zu beißen. Einer der drei nam­haftesten Chirurgen der Welt sagte: »Sie tun ihm furchtbar weh.« Horner zuckte mit den Achseln und Bertschs Qual war solcher Gestalt, dass selbst eine kleine Störung in Form eines Achselzuckens ihn aufheulen ließ wie einen Hund.

    »Wenn Sie reden, Bertsch, bekommen Sie etwas Morphium«, sagte Horner. »Los. Die Sache mit den drei Dörfern! Die Eisenbahngeschichte! Die – «

    »Sein Name war Prokop«, sagte Bertsch.

    »Prokop.«

    Zwölf Stunden später starb Bertsch.

    Heinz Horner ver­kündete:

    »Es werden achthunderttausend Reichsmark als Belohnung ausgesetzt für die Information, die zur Ergreifung des Mörders von Max von Bertsch, SS-Obergruppenführer und General der Polizei, führt.«

    Die Tschechoslowakei gab sich unbewegt und verschlossen wie ein slawisches Gesicht.

    »Wer dem Verbrecher Unterschlupf gewährt oder ihn anderweitig unterstützt oder Informationen zurückhält, die zu seiner Verhaftung führen könnten, wird er­schos­sen, zusammen mit seiner gesamten Familie – Männer, Frauen und Kinder.«

    Die Tschechoslowakei verfiel in Schweigen.

    Zu Petz sagte er: »Bertsch hat da einen Namen er­wähnt: Prokop. Kennen Sie einen Prokop?«

    »Es muss Zehntausende Prokops geben«, sagte Petz. »Wir haben Zehntausende Schuss Munition«, entgegnete Heinz Horner. Er ließ einen kleinen, schweren Gegenstand auf der Handfläche seiner Rechten hin- und herrollen. »Die Kugel aus einer Maschinenpistole«, sagte er. »Sie kommt geradewegs aus Bertschs Bauch. Sie sagt uns nichts. (Was hat der geschrien, nicht wahr?) Und dann der Mann auf dem Motorrad ... das Licht war schwach, niemand hat sein Gesicht gesehen. Und das Motorrad selbst ... «

    »Eine schwere Maschine, dunkelgrau«, sagte Petz.

    »Mir bekannt.«

    »Ich lasse alle Motorräder überprüfen.«

    »Versteht sich, Oberst Petz, versteht sich. Und jedes kürzlich neu lackierte. Und jedes reparierte. Und jeden Mann, der fähig ist, eins zu fahren. Und jeden Mann, der eilig irgendwohin zu wollen scheint. Und den gan­zen Rest. Das nennt man tägliches Einmaleins. Nun gehen Sie und lassen Sie mich nachdenken.«

    Heinz Horner saß da und dachte nach. Am besten dachte er bei einem Glas schwachen Tee nach. Horner war ein gewissenhafter Mensch, ehrgeizig, präzise, man schätzte ihn wegen seines ruhigen Geschicks und seiner kühlen Neugier, seiner zähen Ausdauer und seiner Tat­kraft, die keinen schonte. Inmitten einer Gruppe ge­wöhn­licher Menschen wäre er niemandem aufgefallen. Etwas Steifes umgab das Modell der randlosen Brille auf seiner Allerweltsnase, Bescheidenheit lag in der Form seines kleinen schwarzen Schnurrbarts. Die Furchen auf seiner Stirn und der zurückweichende Haar­ansatz hätten von den alltäglichen Sorgen eines Familienvaters herrühren können. Er wirkte kleiner, als er war, und es haftete ihm die ärmliche Distinguiertheit eines Dorf­schul­lehrers an, der sich in der geordneten Zweitklassigkeit eingerichtet hatte und dennoch stets ein wenig gequält aussah: das gleiche spießige Gebaren, die Atti­tüde der kleinkarierten Respektsperson und der ab­schätzige, belehrende Ton. Einige Jahre zuvor hatte ein sozialdemokratischer Journalist geschrieben:

    Hans Christian Andersen hätte ein Märchen aus einem Kaufhaus daraus machen können, wie zwischen einer mit Stecknadeln gespickten Schneiderpuppe ohne Kopf und einer Schau­fensterpuppe für billige Anzüge von der Stange eine Pappmaschee-Leidenschaft entbrennt ... wie beide am Ende heiraten und in einem Bett, das als STILVOLL: EINMALIGE GELEGENHEIT angepriesen wird, eine

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