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Niederschlag: Ein Wyatt-Roman
Niederschlag: Ein Wyatt-Roman
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eBook281 Seiten3 Stunden

Niederschlag: Ein Wyatt-Roman

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Über dieses E-Book

Nach kurzer Liaison mit der Polizistin Liz Redding will Wyatt schnellstens untertauchen. Doch er trifft seinen Neffen Raymond wieder, der ihm den Raub einer Kunstsammlung schmackhaft machen kann. Doch Wyatt ahnt nicht, dass sein Neffe auch andere Deals am Laufen hat. In der Meerenge vor Tasmanien will er mit zwielichtigen Abenteurern eine versunkene Barke voll spanischer Goldmünzen bergen und nebenbei auch noch einen Klienten seines Anwalts aus der Untersuchungshaft befreien. Ist Wyatt bei der Einschätzung der unbekannten Faktoren diesmal ein fataler Fehler unterlaufen? Das lang erwartete Finale der Wyatt-Saga, des mit zwei Deutschen Krimipreisen ausgezeichneten Autors aus Down Under. Die Frage ist: War's das für Wyatt oder hat Garry Disher noch ein Eisen für ihn im Feuer?
SpracheDeutsch
HerausgeberPulp Master
Erscheinungsdatum24. Nov. 2013
ISBN9783927734692
Niederschlag: Ein Wyatt-Roman

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    Buchvorschau

    Niederschlag - Garry Disher

    Niederschlag

    Ein Wyatt-Roman

    Garry Disher

    Inhaltsverzeichnis

    PROLOG

    EINS

    ZWEI

    DREI

    VIER

    FÜNF

    SECHS

    SIEBEN

    ACHT

    NEUN

    ZEHN

    ELF

    ZWÖLF

    DREIZEHN

    VIERZEHN

    FÜNFZEHN

    SECHZEHN

    SIEBZEHN

    ACHTZEHN

    NEUNZEHN

    ZWANZIG

    EINUNDZWANZIG

    ZWEIUNDZWANZIG

    DREIUNDZWANZIG

    VIERUNDZWANZIG

    FÜNFUNDZWANZIG

    SECHSUNDZWANZIG

    SIEBENUNDZWANZIG

    ACHTUNDZWANZIG

    NEUNUNDZWANZIG

    DREIßIG

    EINUNDDREIßIG

    ZWEIUNDDREIßIG

    DREIUNDDREIßIG

    VIERUNDDREIßIG

    FÜNFUNDDREIßIG

    SECHSUNDDREIßIG

    SIEBENUNDDREIßIG

    ACHTUNDDREIßIG

    Impressum

    Zum Autor

    Zu den Übersetzern

    Pulpmaster Backlist

    PROLOG

    Nach dem fünften Banküberfall ist er für die Zeitungen »der Buschbandit«. Ein Inspector der Polizei — nüchtern und unbeeindruckt vom Sog der Kameras — drückt es prosaischer aus: »Wir suchen nach einer männlichen Person, die bewaffnet und als gefährlich einzustufen ist. Die Vorgehensweise des Täters ist in allen Fällen die gleiche. Er sucht sich eine Kleinstadt-Bank in einem Gebiet, das den Westen und Südwesten Victorias und den Osten und Südosten South Australias umfasst. Er wählt einen Zeitpunkt, wo nur wenige Kunden da sind, wenn überhaupt, bedroht die Angestellten mit einer abgesägten Schrotflinte und fordert den Bargeldbestand aus den Kassen. Wir haben bisher keinerlei Hinweise auf einen Komplizen. Ich wiederhole: Diese Person ist bewaffnet. Auf keinen Fall sollte man sich ihr nähern.«

    ***

    Es gibt Dinge, die der Inspector nicht erwähnt. Er sagt nicht, dass die Polizei außer Stande ist, eine Art Operationsbasis des Mannes zu lokalisieren. In Anbetracht des Gebietes, in dem er aktiv ist, könnte sich der Buschbandit in Mount Gambier, Bordertown, Horsham oder irgendwo am Murray River versteckt halten. Oder er operiert möglicherweise von Adelaide, wenn nicht sogar von Melbourne aus.

    Der Inspector sagt nicht, wie effizient der Buschbandit ist. Als Erstes wäre da seine Flinte, ihr stumpfer Lauf, die schwarze, starrende Doppelmündung. Schrotflinten sagen jedem etwas, jeder kennt den verheerenden Schaden, den sie auf kurze Distanz anrichten können, die Streuung der Schrotgarbe, Kugeln, die ausschwärmen und verletzen wie Hornissen. Den matten Glanz des Metalls, den abgenutzten Kolben, den Geruch nach Waffenöl. Eine Flinte heißt dem Tod ins Auge sehen, also verhält man sich ruhig. Man legt sich flach auf den Boden, man leert die Kasse, man verzichtet auf Heldentum.

    Dann wäre da der Bandit selbst. Die Aussagen von Zeugen aller fünf Überfälle stimmen überein. Der Mann sei groß und schlank, bewege sich geschmeidig. »Athletisch«, sagte ein Kassierer. »Machte keine Bewegung zu viel«, sagte ein anderer. Darüber hinaus gibt es keine genauere Beschreibung des Buschbanditen. Jedes Mal trug er etwas anderes — Anzug, Jeans und kariertes Hemd, Windjacke mit Reißverschluss und Hosen, Overall, Trainingsanzug. Und immer auch etwas, was die Aufmerksamkeit von seinem Gesicht ablenkte — Brille, Sonnenbrille, Baseballkappe, einen Akubra mit breiter Krempe, ein Heftpflaster.

    Dann seine Wortkargheit, die es den Bankangestellten unmöglich machte, eine klare Vorstellung von seiner Stimme zu gewinnen. »Gesicht nach unten ... Tasche füllen, bitte kein Kleingeld ... Fuß weg vom Alarm ... nicht bewegen ... keiner folgt mir.« Es ist eine ruhige Stimme, mehr wissen Zeugen nicht zu sagen. Ruhig, gelassen, voller Verständnis — so lauten einige Begriffe, die sie benutzen. Und jung. Alle sind sich einig, dass er nicht älter als fünfundzwanzig sein kann.

    Obwohl sie es nicht sagt — die Polizei glaubt, dass er kein Junkie ist. Anfänger und Junkies, unter Geschrei stürmen sie herein, halten Angestellte und Kunden pistolenschwingend in Schach, erzeugen so im Allgemeinen eine Atmosphäre der Panik und Unwägbarkeit, die zu Geiselnahme und Blutvergießen führen kann.

    Es gilt als ausgemacht, dass der Mann eine große Ducati fährt. Nein, eine Kawasaki. Vielleicht eine Honda. Auf jeden Fall eine schwere Maschine. Mit viel Power und sehr schnell. Schwer zu verfolgen. Auf so einem Bock kann er bereits meilenweit weg sein, bevor der Alarm ausgelöst wird. Ob man einen Hubschrauber losschickt oder die Verfolgung per Auto aufnimmt, der Buschbandit braucht nur von der Straße zu rollen, hinter einen Eukalyptus oder ein Windrad, er braucht nur zu warten, bis die Gefahr vorüber ist.

    Wo stellt er die Maschine unter? Die Polizei weiß keine Antwort darauf. Es kann überall sein. Vielleicht hat ihr Mann quer durchs ganze Land ein Dutzend Motorräder versteckt.

    »Eins wissen wir mit Bestimmtheit«, sagt der Inspector, »irgendwann wird ihm ein Fehler unterlaufen. Und wir werden da sein, wenn es passiert.«

    ***

    Es war eine dieser Weizen- und Wollestädte in einer staubigen Gegend. Dem Lokalblatt zufolge sollte sich die Parade zwischen zwölf und halb eins am Mittag die Hauptstraße hinunterbewegen, beim Traktorhändler links abbiegen, um sich anschließend in Richtung Ausstellungsgelände neben dem Elders-GM-Viehhof zu schlängeln. Es war der erste Jahrestag des Feuers, das am Australia Day in einem Gebiet von der Größe Luxemburgs gewütet und beinahe die Stadt zerstört hatte. Tatsächlich hatte sich die Feuerfront bis an den Rand der High School vorgearbeitet und ein mobiles Gebäude in Asche gelegt. Später hatte der Wind gedreht und — für die Jahreszeit unüblich — von Westen her Regen gebracht, doch da hatten die Hilfsdienste bereits eine gesamte Einheit und zwei Männer der freiwilligen Feuerwehr verloren. Der Vorsitzende der Kreisverwaltung hatte die Parade am Samstag abhalten wollen, aber die Wunden waren noch nicht verheilt, also hatten die Mitglieder der Kreisverwaltung für den Australia Day gestimmt, der dieses Jahr auf einen Freitag fiel.

    In dem Manne, der als ›Buschbandit‹ populär wurde, hatten sich nie Empfindungen oder gar Stolz auf was auch immer geregt, doch er verstand es, Gefühle einzuordnen. Er ging die Hauptstraße entlang, machte Halt, um eine Zeitung, einen halben Liter Milch und ein Päckchen Zigaretten zu kaufen, das er nie rauchen würde. Ein beschriftetes Banner bewegte sich sacht im Wind, ein Dank an die freiwillige Feuerwehr. Zuschauer, ihre Kameras schussbereit, säumten die Straße, plauderten miteinander, scherzten. Die Hälfte von ihnen waren Farmer mit ihren Familien und der Buschbandit war heute einer von ihnen, ein freundlich lächelnder Farmer in Gummistiefeln, frisch gebügeltem Arbeitshemd und ebensolchen Hosen. Den speckigen Filzhut trug er in den Nacken geschoben. Der Mann sah abgearbeitet aus, müde. Und er war nicht der Einzige, der eine Sonnenbrille trug. Nur schien seine deplatziert: ein schmaler Streifen verspiegelten Glases über den Augen. Sie passte eher zu einem jugendlichen Rollerblader aus St Kilda oder Bondi oder Glenelg. Sollte jemand einen Gedanken daran verschwenden, käme er zu dem Schluss, dass der Mann einen exzentrischen Geschmack habe. Ganz gewiss jedoch war die Brille das Einzige, was sich von diesem Gesicht einprägte.

    Er beobachtete, wie die Parade vorbeizog: Musiktruppe, Polizei, Feuerwehrleute, Rettungsdienste, die beiden Witwen auf der Rückbank eines schwarzen Mercedes. Zehn Minuten später war alles vorbei. Weitere zehn Minuten später lag die Hauptstraße wieder verlassen da, die letzten Zuschauer verschwanden um die Ecke und ließen das Stadtzentrum hinter sich. Es gab nur eine Bank, und der Bandit betrat sie um 12 Uhr 25, zog die abgesägte Schrotflinte aus seiner Einkaufstasche und verkündete, dass dies ein Banküberfall sei.

    Es waren keine Kunden anwesend, nur zwei Kassiererinnen. Die eine sagte: »Oh nein.« Die andere erstarrte. Der Buschbandit richtete den Doppellauf der Flinte auf die, die gesprochen hatte. Sie könnte am ehesten Ärger machen, deshalb war seine Wahl auf sie gefallen. »Gesicht nach unten. Keinen Mucks«, sagte er.

    Er sah zu, wie sie auf den Boden sank, sich ungelenk hinlegte und dabei mit einer Hand ihren Rock festhielt, um zu verhindern, dass er nach oben rutschte.

    Die andere Kassiererin fixierte die Flinte, die sich jetzt in ihre Richtung bewegte, bis sie auf ihren Magen zielte. Der Bandit stellte seine Strohtasche auf den Tresen. »Voll machen.«

    Freitag. Das bedeutete mehr Bargeld als sonst in der Kasse, jedoch nicht hinreichend genug, dass er damit ausgesorgt hätte. Aber das war nur so ein Gedanke am Rande, ein Warum-mach-ich-diese-Scheißjobs-Gedanke für düstere Stunden.

    Er behielt die Kassiererin im Auge, die Flinte jetzt wieder auf die Frau am Boden gerichtet. Die Bedeutung war klar: Sie kriegt es ab, wenn Sie mich verladen.

    Für einen Moment zögerte die Kassiererin.

    »Na, wird’s bald?«, sagte der Bandit.

    »Travellerschecks«, platzte sie heraus. »Wollen Sie die?«

    Hunderte von Schecks, neu, unsigniert. Der Buschbandit konnte förmlich den Geruch nach neuem Papier und frischer Druckerschwärze wahrnehmen. Er würde sie Chaffey bringen. Im vorderen Teil seines Büros kümmerte sich Chaffey um Testamente, Eigentumsübertragungen und Revisionsverfahren, im hinteren zahlte er zwanzig Cent pro Dollar für alles, was der Buschbandit ihm brachte, ausgenommen Geld oder leicht absetzbare Beute.

    »Ja«, sagte der Bandit zu der Kassiererin.

    Als alles erledigt war und beide Frauen auf dem Boden lagen, sagte er: »Bleiben Sie bitte unten. Fünf Minuten.«

    Die eine nickte, die Redselige sagte: »Ja«, aber da war der Mann längst verschwunden.

    Das Motorrad stand auf der Ladefläche eines Lasters. Mit Hilfe von Schlamm und Dreck, mit Hilfe einiger beigebrachter Beulen und eines lädierten Scheinwerfers hatte der Bandit ein Farmer-Bike daraus gemacht. Gemächlich fuhr er mit dem Laster aus der Stadt, einen Ellbogen auf dem offenen Fenster, ein bekanntes Ärgernis für Busfahrer, Trucker und Handlungsreisende, und bald hatte die Landschaft ihn verschluckt, war die Erinnerung an ihn ausgelöscht.

    Er stellte den Laster auf einem Feldweg ab und wechselte auf das Motorrad. Diesmal war es eine Honda und er hatte sie in Preston gestohlen. Auf seinem Weg zurück in die Stadt geriet er in einen Sturm, heftige Winde und peitschender Regen, doch am Abend stand er auf dem Balkon seines Apartments und blickte über Southgate und den Abschnitt des Yarra River zwischen dem Casino und der Princes Bridge.

    Um acht Uhr ging er wieder hinaus in den Sturm und machte sich auf zum Casino, um herauszufinden, ob die zwölf Riesen, die er heute eingenommen hatte, sich vermehren ließen. Gegen Morgen würde er sich die Frühausgabe der Herald Sun beschaffen und damit eine weitere Buschbandit-Story für sein Album.

    Buschbandit — das war sein Name in der Öffentlichkeit. Ray oder Raymond, so hatten ihn seine bereits verstorbenen Eltern genannt. Doch Raymond wollte einfach nur Wyatt genannt werden. Ein Name wie ein Peitschenhieb. Das gefiel ihm.

    Aber sein Onkel hieß Wyatt.

    EINS

    Einhundert Kilometer südöstlich der City brachte der Kriminelle mit Namen Wyatt eine beschädigte Yacht aus der sturmdurchtosten See der Bass Strait in die ruhigeren Gewässer der Westernport Bay und beendete so eine siebentägige Reise mit Ausgangspunkt Port Vila. Es war 4 Uhr 15, kurz vor Morgengrauen. Nur fünf Stunden zuvor war der korrupte Polizist Springett über Bord gespült worden. Wyatts noch verbliebener Passagier, die Frau, die Springett in Port Vila verhaftet hatte, lag schlafend in ihrer Koje. Wyatt reffte die zerrissenen Segel und schaltete den Außenbordmotor an. Die Yacht tuckerte zwischen den roten und grünen Markierungen hindurch, folgte dem Kanal zu dem kleinen Landungssteg am Ufer vor Hastings. Liz Redding rührte sich nicht, nicht einmal als Wyatt Anker warf, seine Kleidung mit Hilfe einer wasserabweisenden Jacke zu einem Bündel schnürte, über Bord sprang und verschwand. Sie war so müde, so träge, stand zu sehr unter dem Einfluss von Mogadon, das er ihr zu diesem Zweck untergeschoben hatte.

    Schlotternd mühte er sich aus dem Wasser. Im Schutze einer Stützmauer aus Beton frottierte er sich mit einem Handtuch von der Yacht, zog sich schnell an, linste dabei immer mal wieder über die Mauer, um nach Fischern, Streifenwagen oder Schlaflosen Ausschau zu halten. Hinter einer Abschirmung aus Uferbäumen schimmerte Straßenbeleuchtung; Verwaltungsgebäude, die im Licht der Natriumlampen gespenstisch weiß wirkten; Reihen verschlafener kleiner Häuser; ein Swimmingpool und ein Kiosk; eine Hütte am Anlegesteg, wo Fisch verkauft wurde; und zu seiner Linken ein dichter Wald aus Masten der Yachten, die hinter einem Sicherheitszaun gegen Wirbelstürme im Trockendock lagen.

    Er brauchte einen Wagen.

    Führe er jetzt los, wäre er zu einem Zeitpunkt in Melbourne, wo die meisten Leute vom Klingeln ihrer Wecker aus dem Schlaf gerissen wurden. Wäre sein Äußeres weniger auffällig — ein Fremder, der im Morgengrauen mit nassem Haar aus Richtung des Yachthafens kommt —, könnte er eines der hiesigen Taxis nehmen. Andererseits wäre da noch der Zug, der Bummelzug aus Stony Point mit Anschluss an den Melbourne-Express in Frankston, aber das bedeutete zu viele Faktoren, auf die er keinen Einfluss hatte und die ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen drohten — geänderte Abfahrtszeiten, neugierige Fahrkartenkontrolleure, defekte Schranken. Oder per Anhalter? Doch wer würde ihn mitnehmen? Wyatt wusste, dass sein düsterer Gesichtsausdruck, seine große, geschmeidige Gestalt, sein Erscheinen am Rande der Straße für jeden Autofahrer Gefahr und Zurückhaltung bedeutete.

    Also blieb ihm nichts anderes übrig, als ein Auto zu stehlen, und zwar eines, das während der nächsten Stunden nicht vermisst würde.

    Er machte sich auf den Weg. Unweit der Anlegestelle lag eine Gegend bescheidener Seitenstraßen, wo die Häuser dicht an dicht standen und die Familienkutschen in den Einfahrten parkten oder auf der Straße, sei es am Bordstein oder auf dem Grünstreifen. Doch als ein Hund bellte, trat Wyatt den Rückzug an.

    Weit und breit keine Autowerkstätten. Er erinnerte sich, dass die meisten außerhalb von Hastings lagen. Man sah oft abgestellte Autos vor Autowerkstätten, die dazugehörigen Schlüssel hingen irgendwo drinnen an einem Brett.

    Er ging zurück zum Landesteg. Vorhin hatte Wyatt den bunten Haufen aus Kombis und kleineren LKWs dort schlichtweg ignoriert — Fahrzeuge von Fischern, allesamt Rostlauben mit zusammengewürfelten Karosserieteilen und einem halben Dutzend Kfz-Aufklebern auf den Windschutzscheiben. Er stellte sich die Innenräume vor, die ausgeleierten Federungen, überquellende Aschenbecher, umherrollende Getränkedosen und die unzuverlässige Elektrik. Die Polizei von Hastings mochte ein Auge zudrücken und einem Fischer erlauben, ausschließlich zwischen seinem Wohnort und dem Landesteg zu pendeln, aber Wyatt bezweifelte, dass abgefahrene Reifen, Rost und gesplitterte Windschutzscheiben in Melbourne durchgehen würden.

    Aber hatte er eine Wahl?

    Allerdings konnte er das Risiko niedrig halten, wenn er zum Beispiel Springvale ansteuerte, war zwar auch ziemlich nah der Innenstadt, aber ein Ort, wo er nicht auffiele. Und dann von dort ein Taxi nehmen.

    Vielleicht drei oder vier Taxifahrten — mal nach Norden, mal nach Süden, während er sich allmählich der City näherte, so dass jeder, der sich mit seiner Route beschäftigte, keinen Sinn darin sehen könnte — und dann mit der Straßenbahn zu einem großen Verkehrsknotenpunkt wie Kew Junction.

    Wyatt sah auf seine Armbanduhr. 4 Uhr 35. Er hoffte, dass es für das erste einlaufende Fischerboot noch zu früh war. Er hoffte, die Mannschaft hätte beim Anlegen alle Hände voll zu tun, damit zusätzlich Zeit verginge, bis es einem von ihnen auffiel, dass seine alte Karre auf dem Parkplatz fehlte.

    Wyatt ging die Reihe der Fahrzeuge entlang, probierte Fahrertüren, sah nach Zündschlüsseln. Die meisten Autos waren unverschlossen — schließlich gab es nichts, was sich zu stehlen lohnte —, aber Fehlanzeige bei den Zündschlüsseln.

    Dann suchte er hinter Stoßstangen, zwischen Felgen und fand jede Menge Rost, jede Menge Schmutz. Er fand auch einen kleinen Metallbehälter von der Größe einer Streichholzschachtel, der von einem Magneten in der Felge eines Valiant-Kombi gehalten wurde.

    Der Motor machte keine Schwierigkeiten. Er brummte los, und als er endlich ansprang, konnte Wyatt den Kolben schwingen, die Stößel rasseln hören und den Geruch des öligen Abgases einer schlechten Verbrennung riechen. Der Sitz sackte durch, Rückenschmerzen, ein steifer Nacken und steife Schultern schienen programmiert. Wyatt hielt sich fit, aber er war in den Vierzigern und achtete auf bestimmte Dinge wie Größe und Form von Autositzen, in die er sich setzte, oder Betten, in die er sich legte.

    Aber die Scheinwerfer funktionierten, der linke war zwar höher eingestellt als der rechte, dafür aber fand Wyatt in den Rückwärtsgang, ohne ein Zahnrad im Getriebe zu lädieren. Die Tankuhr stand fast bei null. Entweder ist der Tank leer oder die Anzeige defekt, dachte er. Er konnte es sich nicht erlauben, irgendwo hier zu tanken. Zuerst musste er eine gewisse Distanz zwischen sich und diesem Ort herstellen.

    Wyatt fuhr über Land nach Frankston. Im kalten Licht der Dämmerung wurde der Nebel sichtbar, hing in den Senken neben der Straße, über Bächen und Hügeln, schwebte als zarter Schleier über der Straße und zwang Wyatt zu blinzeln, als habe sich ein Film über seine Augen gelegt, den er entfernen musste. Er erinnerte sich an die Nebel seinerzeit auf der Mornington Peninsula. Es hatte Tage gegeben, da war er auf dem Rückweg von einem Überfall auf eine Bank oder einen Geldtransporter in diesen Nebel geraten. Das war die Zeit, bevor er die Flucht hatte antreten müssen. Und sie lag weit zurück.

    Der Motor spuckte, bockte, spuckte wieder. Wenigstens funktionierte jetzt die Tankuhr. So holperte Wyatt durch die verwirrende Straßenführung Somervilles und auf die Shell-Tankstelle an der Frankston Road. Der Fischer hatte sich eine Entschädigung verdient: Wyatt tankte und goss einen Liter Öl in den Rachen des Motors.

    Schließlich stellte er den Kombi in einer Seitenstraße nahe des Bahnübergangs in Springvale ab, nahm ein Taxi zum Westfield-Shopping-Center, ein zweites zum Taxistand vor Myer in Chadstone und ein drittes nach Nordlands in Doncaster. Mit jeder Fahrt fühlte er sich sicherer, als würde er die Spürhunde und Verfolger der Vergangenheit abhängen. In der Straßenbahn von Doncaster in die Innenstadt saßen jede Menge Arbeiter; es war warm und ruhig, und wenn ihn überhaupt jemand ansah, dann ohne jede Neugierde.

    Er war todmüde und hatte Hunger. Am Swanston Walk gab es ein Café, das durchgehend geöffnet hatte. Hier konnte man Kaffee trinken bis zum Abwinken. Wyatt genehmigte sich drei Tassen und verspürte das Bedürfnis nach etwas Handfestem, also bestellte er sich ein Müsli, Rühreier und Vollkorntoast. Er sah auf seine Armbanduhr. Liz Redding lag in ihrer Koje mit Sicherheit noch im Tiefschlaf.

    Gestärkt und mit federndem Gang ging er die Little Lonsdale Street entlang. Um 8.30 Uhr betrat er eine Telefonzelle an der Ecke Elizabeth Street und rief Heneker in der Pacific Mutual Insurance an.

    Wie alle Telefonistinnen, mit denen Wyatt zu tun gehabt hatte, sprach auch diese mit einer besonderen Betonung, als wäre jegliche Feststellung eine Frage. »Tut mir leid? Mr. Heneker ist erst um neun da?«

    Er hängte auf. Er spürte Verspannungen im Oberkörper, Nachwirkungen der nahezu klaustrophobischen Situation auf See. Dreißig Minuten totschlagen — er beschloss spazieren zu gehen. Während er durch die Straßen streifte, ohne Sinn für die Geschäfte, Autos oder Mitmenschen, ließ er die Reise mit Liz Redding Revue passieren. Alles lief auf eines hinaus: Er hatte ihren Kaffee mit Schlafmittel versetzt und sich aus dem Staub gemacht. Er hatte Vertrauen und Verlangen missbraucht. Die Konsequenz aus dergleichen liegt oftmals auf der Hand: Rien ne va plus.

    Um 9.05 stand er wieder in der Telefonzelle und rief die Versicherung ein zweites Mal an. Heneker war von dem überbordenden Enthusiasmus seiner Branche. »Heneker hier, Mr. — «

    Er wartete auf einen Namen. Wyatt nannte keinen. Stattdessen sagte er: »Ich habe die Asahi-Juwelen.«

    Er sah den Mann vor sich, weißes Hemd, dunkler Anzug, pfeilschnelle Gedanken. Heneker hatte sich rasch gefasst. »Wollen wir das Wo, Wann und

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