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Wachsgesicht: Ein Phoenix Krimi
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eBook256 Seiten3 Stunden

Wachsgesicht: Ein Phoenix Krimi

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Über dieses E-Book

Der Melancholiker ermittelt.

Chefinspektor Samuel Hutchingson von Scotland Yard, genannt der Melancholiker, ist mit einem schweren Fall konfrontiert: "Wachsgesicht", Boss eines Drogen- und Rotlichtsyndikats, hat Probleme. Ein verstümmelter Riese bedroht ihn und seine Leute. Tote werden aufgefunden, ermordet mit einer tödlichen Drahtschlinge. Der Täter hinterlässt kitschige Weihnachtskärtchen an den Tatorten. Der Melancholiker taucht immer tiefer in ein Netz aus Verbrechen und Geheimnissen …

Ein fesselnder Krimi, spannend erzählt in der Tradition von Agatha Christie und Edgar Wallace.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Mai 2014
ISBN9783902998279
Wachsgesicht: Ein Phoenix Krimi

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    Buchvorschau

    Wachsgesicht - Günther R. Leopold

    I.

    Eine finstere Nacht erstickte alles mit undurchdringlichem Schwarz. Nur in der Ferne, so weit schon, dass es für das Auge manchmal mit dem Dunkel verschwamm, schienen einige Lichtpunkte in der Luft zu schweben. Das mussten die Signalmasten der Bahnlinie von Dover nach London sein.

    Auf einmal wurde ein halbkreisförmiges Stück des Nachthimmels licht. Ein Hügel mit Büschen und Bäumen zeigte immer klarer seine Konturen. Kurz danach wurde die Lichtquelle sichtbar und entpuppte sich als scharfer Strahl zweier Scheinwerfer; ein geräumiges, sechsitziges Personenauto kam rasch näher. Der Wagen musste gut gefedert sein, denn er schien über die zahlreichen Schlaglöcher der Straße geradezu hinwegzugleiten. Seltsam, warum fuhr ein so elegantes Auto auf einer schlechten, abseits gelegenen Nebenstraße? Und das mitten in der Nacht?

    Für Sekunden wurde im rückwärtigen Teil des Wagens, wo ein menschengroßes, planenverpacktes Bündel lag, eine Beleuchtung eingeschaltet. Eine Hand tastete prüfend umher und verweilte kurz am Kopfende des gut verschnürten Pakets, aus dem qualvolles Stöhnen drang. Diese Hand war bemerkenswert, weil der kleine Finger bis auf den Stumpf fehlte. Im selben Augenblick erlosch das Licht wieder, als fürchtete jemand, man könnte zu viel gesehen haben. Doch der Einzige, der jetzt um den fehlenden Finger wusste, würde bald nichts mehr erzählen können.

    Die Fahrt verlangsamte sich. Bei einer Hecke stoppte der Wagen, mit einem letzten Aufseufzen erstarb der Motor, die Lichter verlöschten. Wieder zog die Nacht ihre schwarze Decke über die Landschaft. Minuten verstrichen, in denen sich nichts regte. Dann ertönte eine Stimme aus dem Heck des Wagens, eine Stimme, die, kalt und gefühllos, nichts Menschliches an sich hatte.

    »Es ist Zeit! Ihr wisst, was ihr zu tun habt!«

    Der Fahrer und sein Beisitzer sprangen aus dem Auto und öffneten eine hintere Wagentür. Sie zogen das im Fond liegende Bündel heraus, das wie unter Krämpfen stöhnend hin und her zuckte. Die beiden Männer schleppten es in die Nacht davon in Richtung Bahndamm.

    Manchmal drehten sie sich um, mit einem Schauder im Nacken, als folgte ihnen die kalte, furchterregende Stimme. Und schneller, als hätte sie jemand körperlich angetrieben, hasteten die beiden Männer weiter.

    Vorne am Bahndamm machten sie sich zu schaffen. Für Sekunden huschte ein schmaler Lichtstreif umher, gleich darauf wieder verschluckt vom Schwarz der Nacht. Man konnte nicht erkennen, was sie so eilig zu verrichten hatten. Ihre Last hatten sie abgesetzt. Und abermals erklang dieses dumpfe Stöhnen, als wollte jemand schreien und konnte es nicht.

    Jetzt nahmen die zwei das Bündel wieder auf und schleppten es zu den Schienen. Wenn darin ein Mensch war, dann musste es sich der Größe nach um einen Riesen handeln, den man wie ein Paket verschnürt hatte. Wie gut, dass die Nacht keine Augen hatte, sonst hätte sie zusehen müssen, wie die beiden Verbrecher ihr Opfer an den Schienen festbanden.

    Rasch kehrten die zwei Handlanger einer furchtbaren Stimme zu ihrem Auto zurück. Sie schwangen sich auf die Vordersitze, sprachen kein Wort und man wusste nicht, ob aus Angst vor dem, was sie getan hatten, aus Angst vor der kalten Stimme oder aus Angst davor, was kommen musste.

    Fünf lange, stille Minuten vergingen, die sich dahinzogen wie eine Ewigkeit. Dann drang durch die drückende Stille hartes Hämmern, das rasch wie zu einem Trommelwirbel anschwoll. Zwei Lichtaugen stachen durch die Nacht, dahinter ein langer Schwanz hell erleuchteter Waggonfenster. Der Eilzug kam auf die Minute pünktlich.

    Plötzlich durchschnitt ein durchdringendes Kreischen und Ächzen das Geräusch des fahrenden Zuges. Der Lokomotivführer musste alle Bremsen gezogen haben. Trotzdem kam die Maschine erst nach jener Stelle zum Stehen, an der sich die beiden Männer zu schaffen gemacht hatten. Vorne wurden Waggontüren aufgerissen, Stimmen riefen durcheinander, fragten und erhielten verstörte Antworten.

    In diesem Augenblick setzte sich der Wagen wieder in Bewegung, wendete und fuhr den vor Kurzem genommenen Weg zurück. Auf der Hauptstraße verdoppelte er seine Geschwindigkeit. Es war ein starker Motor, der den Wagen immer schneller durch die Nacht jagte. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeuges tauchten ihn für Sekunden in gleißendes Licht und ließen sein dunkles Blau aufglänzen.

    Für einen Augenblick war der Lichtschein auch in das Innere des Wagens gedrungen und über das Gesicht des Mannes im Heck gehuscht. Aber nichts Menschliches war an diesem Gesicht – es war eine grünlich schimmernde, wächserne Maske.

    II.

    Ungefähr zur gleichen Zeit ereignete sich in New York ein nicht unbedeutender Vorfall.

    Billy Patson lautete sein bürgerlicher Name. Er hielt sich selbst für den König der Betrüger – nein, er war es! Außerdem war er ein umsichtiger Mann, der seine Gaunereien großen Stils reibungslos abzuwickeln verstand, weil er meist allein »arbeitete«; nur gelegentlich bediente er sich des einen oder anderen Mitarbeiters. Obwohl er aus London stammte und eine Schwäche für England hatte, kannte man ihn auch in den Staaten recht gut, denn er hielt sich an den Grundsatz »Wo es mir gut geht, ist meine Heimat«, und besonders in USA gab es einige Leute, die seinem seriösen, distinguierten Aussehen unfreiwillige Opfer gebracht hatten. Allerdings ließ sich gegen den ehrenwerten Billy nichts unternehmen, denn einer Fliege, die über Glas läuft, hätte man eher eine Spur nachweisen können als ihm. Er war ein Künstler in seinem Fach.

    Schon lange wusste er, dass Charles Bondrix, der gefeierte Schallplattenstar und Schauspieler, bei der Central Bank über ein ansehnliches Konto verfügte. Er verdankte dieses Wissen einem kleinen, auf die große Welt neidischen Bankbeamten, der zumeist einen trockenen Gaumen besaß. Solche Menschen konnte Billy gut verstehen.

    Als sich der Sänger, besagter Bondrix, einer Operation unterziehen musste, hielt Billy seine Zeit für gekommen. Es fügte sich dabei glänzend, dass Bondrix’ Manager alles geheim hielt, weil man nicht wusste, ob Krebs nicht nachteilige Auswirkungen auf den Publikumserfolg des Stars haben könnte. Dass Billy dennoch davon erfuhr, hing mit einer hübschen und sich vernachlässigt fühlenden Sekretärin zusammen. Natürlich streng vertraulich!

    Streng vertraulich stieg auch ein gut gekleideter Herr in derselben Nacht, in der Bondrix in eine bekannte Klinik gebracht worden war, in die Villa des Sängers ein. Doch schien der Einbrecher wenig Wert auf gewöhnliche Kostbarkeiten zu legen, denn er interessierte sich vor allem für das Scheckbuch des Sängers. Einige Schmuckgegenstände sowie leicht zu verstauende Banknoten, die anlässlich dieses Ereignisses aus der Villa verschwanden, waren als bloße Andenken zu werten.

    Nun fängt man mit einem gewöhnlichen Scheckbuch bekanntlich nicht allzu viel an, mag der Besitzer auch über ein noch so großes Bankkonto verfügen. Doch Billy war nicht unbescheiden, freute sich über den bisherigen Gang der Dinge und glaubte, sich zu helfen zu wissen. Dabei kam ihm zugute, dass der eben (in aller Stille) operierte Bondrix sein Scheckbuch innerhalb der nächsten zwei Tage kaum vermissen würde; und eben diese Zeit würde der ehrenwerte Patson benötigen. Zweifellos hätte es Bondrix geschmeichelt, hätte er gewusst, dass am nächsten Morgen ein vornehmer Herr zahlreiche Platten des Sängers kaufte. Außerdem verschaffte sich Patson, der auch zu diversen Rundfunkgesellschaften Beziehungen hatte, einige Tonbandaufnahmen aus einem Hörspiel, in dem Bondrix mitgewirkt hatte. Etwas später beschäftigte sich der rührige Billy damit, diese Platten samt den Bandaufnahmen einem aufgedunsenen jungen Mann vorzuspielen, der in einem Korbsessel saß und sich das Ganze viele Male anhörte. Von Beruf war er Stimmenimitator, aber schon mehr als ein halbes Jahr ohne Engagement. Solche Leute konnte Patson stets gebrauchen, wenn auch nur zu gelegentlicher Mitarbeit.

    Unterdessen ließ Billy verschiedene Postkarten holen, auf denen Bondrix abgebildet war. Nicht dass er ein besonderes Faible für den geschniegelten Star gehabt hätte, aber auf jeder dieser Karten fand sich auch das schwungvolle Autogramm des Sängers. Dass die Unterschriften nicht immer gleich schienen, erleichterte die Aufgabe. Denn im Nebenzimmer wartete schon ein schmächtiger Mann, der, mit dicken Brillengläsern bewaffnet, kurzsichtig um sich blickte. Er machte einen völlig harmlosen Eindruck und hatte doch einen Großteil seines bemerkenswerten Lebens hinter Gittern verbracht. In diesem Zusammenhang mag es nicht unwichtig erscheinen, dass er stets wegen des gleichen Delikts verurteilt worden war: Fälschung. Patson schätzte ihn als großen Könner in seiner Branche.

    Den ganzen Tag über beschäftigten sich Billy und seine zwei Helfer damit zu üben, denn der ehrenwerte Patson war, wie gesagt, ein umsichtiger Mann, der alles Übereilte hasste. Am Abend hielt er eine kleine Generalprobe ab, die ihn vollauf zufriedenstellte. Er legte sich mit dem guten Gewissen eines Mannes nieder, der wusste, alles genau vorbereitet zu haben. Und ein solches Gewissen ist das beste Ruhekissen, auch wenn es sich um die Vorbereitung eines Betruges handelte.

    Der nächste Tag sah ihn bei emsiger Tätigkeit. Zuerst rief der Stimmenimitator als Charles Bondrix bei der Central Bank an. Er unterrichtete den Abteilungschef von seiner Absicht, in etwa einer Stunde einen vertrauten Bevollmächtigten schicken zu wollen, der eine große Summe Geldes abheben würde. Der Abteilungschef erkannte Bondrix natürlich sogleich an der Stimme, der Schauspieler sprach ja eigentümlich genug. Man werde alles vorbereiten. Selbstverständlich gegen Scheck und Unterschrift, versteht sich!

    Billy grinste neben dem Telefon. Selbstverständlich gegen Scheck und Unterschrift. Damit hatte der Imitator seine Rolle beendet. Er schiffte sich einige Stunden später mit neuem Kapital nach England ein.

    Inzwischen begutachtete Billy den Scheck nochmals mit einer Lupe. Die Arbeit des schmächtigen Männchens mit den dicken Brillengläsern schien vorzüglich. Nicht einmal Bondrix hätte einen Unterschied feststellen können. Patson übergab seinem Mitarbeiter ein kleines Päckchen Banknoten; mehr als ursprünglich vorgesehen, aber solche Talente musste man sich warmhalten.

    Und damit folgte der dritte Teil der Aktion. Genau eine Stunde und sieben Minuten nach dem Anruf des Pseudo-Bondrix präsentierte ein vornehmer, schon leicht ergrauter Herr mit Schnurrbart den Scheck zum Inkasso. Er müsse sich einen Augenblick gedulden, entschuldigte sich der Beamte am Schalter. Im Hinblick auf die Höhe der Summe müsse natürlich die Unterschrift geprüft werden.

    Der seriös aussehende Herr nickte zustimmend. Er kannte die Formalitäten und fühlte sich nicht im Geringsten beunruhigt. Doch plötzlich ergriffen zwei Männer, die man auch in Zivil unschwer als Polizisten erkannte, seinen Arm. Alles war so schnell gegangen, dass sich der Herr gar nicht zur Wehr setzen konnte. Ein bekannter Inspektor klopfte dem Verhafteten jovial auf die Schulter: »Kein Aufsehen bitte!« Damit drängte er ihn in einen Nebenraum. »Nun, Billy, doch einmal ins Garn gegangen?!«

    Patson – denn er war es – spielte den Empörten: »Sie scheinen mich zu verwechseln«, brauste er auf.

    »Tatsächlich, der Schnurrbart könnte täuschen«, lachte der groß gewachsene Inspektor und riss diesen rücksichtslos ab. »Übrigens, warum tragen Sie denn ein solches Menjoubärtchen?«, höhnte er.

    »Weil sie gerade so in Mode sind«, versetzte Billy gelangweilt, obwohl er wusste, dass das mit der Mode nicht stimmte. Dann gab er keine Antwort mehr. Seine Gedanken jagten durch den Kopf. Er wusste, dass das Spiel aus war, doch konnte er sich den Fehlschlag nicht erklären. Hatte ihn einer seiner Mitarbeiter verraten? Er wollte es nicht recht glauben.

    Auf der Fahrt ins Polizeihauptquartier zeigte sich der groß gewachsene Inspektor überaus gesprächig. »Warum lesen Sie eigentlich keine Zeitung?«, spöttelte er.

    »Wie hängt das mit mir zusammen?«, erkundigte sich Patson vorsichtig.

    Der Inspektor schob ihm lächelnd ein Morgenblatt hin und deutete auf eine angestrichene Stelle. Billy Patson las mit gemischten Gefühlen:

    »Völlig unerwartet kommt die Nachricht, dass Charles Bondrix, der sich gestern einer schweren Operation unterziehen musste, in den Abendstunden an einer Embolie gestorben ist. Der Sänger …«

    Mit einem Fluch zerknüllte Patson das Blatt und schleuderte es zu Boden.

    »Ja, Pech gehabt, mein Lieber«, schmunzelte der Polizeibeamte. »Gestern Abend starb Bondrix und heute Morgen rief er bei der Bank an. Ein Glück nur, dass der gute Direktor an keine Geister glaubte und uns für diese Stimme aus dem Jenseits interessierte.«

    »Man soll sich nicht mit Schauspielern abgeben«, knurrte Billy böse. »Auf solche Menschen ist kein Verlass. Hätte er nicht einen Tag später sterben können?«

    Seit dieser Zeit hegte der ehrenwerte Patson eine nicht unbegründete Abneigung gegen Zeitungen. Er widerstand lange Zeit heldenhaft allen finanziellen Verlockungen, die Einzelheiten des großen Coups in einer Zeitung zu veröffentlichen. Eine Illustrierte – nebenbei bemerkt bot sie den höchsten Preis – bekam schließlich einige Originalartikel aus der Feder Billy Patsons. Aber genau genommen ist eine Illustrierte auch keine Zeitung und – man musste doch wenigstens die Unkosten hereinbringen. Übrigens brauchte sich der ehrenwerte Patson über »Kosten« in den nächsten Jahren keine übertriebenen Sorgen zu machen.

    Seit damals ist viel Zeit verstrichen. —

    III.

    Andy Burke war von Natur aus neutral. Beim Rennen zum Beispiel pflegte er stets auf zwei Favoriten zu setzen; wahrscheinlich, weil er zweimal verlieren wollte. Und er hätte bestimmt die extreme Linke und die konservative Rechte gewählt, wenn man ihm zwei Stimmzettel zugebilligt hätte. Auch in seinem Beruf verhielt er sich neutral. Schuld daran trug sein Zimmer. »Das verteufeltste Zimmer von ganz Scotland Yard«, wie er sich oftmals zu beschweren pflegte. Denn es lag genau zwischen dem Zimmer von Cliff Gordon und jenem von Samuel Hutchingson. Und das bedeutete immerhin einiges!

    Unter diesen Voraussetzungen musste man es geradezu als Wunder bezeichnen, dass Andy Burkes Haar seit dreiunddreißig Jahren das gleiche schreiende Rot aufwies. Eigentlich hätte es seit genau sechzehn Monaten grau sein müssen. Denn sechzehn Monate waren es her, seit man ihm als Sergeant dieses Zimmer zugewiesen hatte. Manchmal war es schwer gewesen, mit seinem Vorgesetzten Cliff Gordon auszukommen, aber es schien ein sanftes Fegefeuer gegen die Hölle bei Samuel Hutchingson. Der rothaarige Andy Burke schnitt seinem zweiten Vorgesetzten eine unehrerbietige Grimasse. Gleich darauf erschrak er, denn er hätte es Hutchingson zugetraut, sogar durch verschlossene Türen zu blicken.

    Aber er hätte ohne Sorge sein können. Mr. Samuel Hutchingson saß bekümmert an seinem Schreibtisch und seine einzige Beschäftigung bestand darin, ein Bild an der gegenüberliegenden Wand anzustarren. Es handelte sich um eine Reproduktion von William Turner und stellte ein in duftigen Farben gehaltenes Bild von Venedig dar.

    »Es ist traurig«, sagte Mr. Hutchingson und so begann er am Tag hundertmal einen Satz, »dass es ein so reizvolles Stück Erde gibt, während man dazu verdammt ist, seine wenigen Jährchen in diesem Nebelnest zu vertrauern. Es ist jammervoll!«

    Seine Sekretärin schien an derartige Klagen gewöhnt zu sein, denn sie ließ sich in ihrer Beschäftigung kaum stören. Allerdings waren es auch zu schöne, schlanke Hände, deren Fingernägel sie mit dezentem Rot bemalte. Weshalb hätte sie aufblicken sollen? Sie wusste, Hutchingson liebte das Farbige und hasste das Graue. Sein ganzes Zimmer hatte er mit Drucken von William Turner geradezu tapeziert, und sie wusste auch, dass der berühmte Maler von 1775 bis 1851 gelebt hatte, denn ohne dieses Wissen war noch nie eine Sekretärin bei Hutchingson ausgekommen. Es war sein zweitliebstes Thema. Nur über Verbrecher pflegte er noch lieber zu schwatzen – oder, besser gesagt, über einen!

    Mr. Turners farbige Bilder gehörten nun einmal zu Samuel Hutchingsons Absonderlichkeiten, doch war dies bloß eine seiner vielen Marotten. Die wenigsten kannten ihn unter seinem richtigen Namen. Meist wurde er »der Melancholiker« oder »der traurige Sam« genannt, weil es eine seiner liebevoll gepflegten Gewohnheiten war, die Welt schlecht und traurig zu sehen. Manchmal schwelgte er in Weltschmerzgedichten von Byron, dann wieder erwähnte er Schopenhauer, obwohl einige wissen wollten, dass er alles andere als philosophisch veranlagt war. Und eine leidbetonte Miene pflegte er zu tragen wie andere einen Bart.

    Er hätte noch einiges »Schmerzliches« zu sagen gehabt, aber der Eintritt eines jungen, gut gebauten Mannes hinderte ihn daran.

    »Den schönsten guten Tag«, verkündete Cliff Gordon beinahe feierlich und seine fröhliche Stimme färbte den Raum mehr als alle Turner-Reproduktionen zusammen. Miss Ellen Ward, die Sekretärin, hatte es plötzlich sehr eilig, den Nagellack in ihrem Handtäschchen verschwinden zu lassen. Cliff Gordon stockte ein wenig ratlos, und ratlos sollte ein hoffnungsvoller Inspektor von Scotland Yard nie sein. »Hm, Andy meinte, es könnte inzwischen etwas Neues vorgefallen sein.«

    »So, meinte Andy?« Der Melancholiker war sichtlich bekümmert. »Doch wie soll etwas Neues vorfallen, wenn Sie mir jeden zweiten Augenblick einen ›schönsten guten Tag‹ wünschen? Haben Sie noch nie etwas davon gehört, dass man den Neuigkeiten Zeit lassen muss, vorzufallen?« Davon hatte Gordon nun wieder nichts gehört. Er schien eine gesprächige Phase des Melancholikers erwischt zu haben, denn Hutchingson ließ sich nicht stören: »Sie kommen in letzter Zeit so oft, dass ich mich manchmal frage, ob es nicht Ihr Zimmer ist und ich im falschen sitze. Oh nein, entschuldigen Sie sich nicht«, wehrte er mit beiden Händen ab, »natürlich ist der gute Onkel Turner daran schuld. Kein Wunder, seine Farben ziehen jeden in ihren Bann, nicht Gordon? Oder sollte Sie das attraktive Blond von Miss Ward noch mehr anziehen? Das wäre traurig, sehr traurig sogar, wenngleich ich durchaus nichts gegen blond habe.«

    Cliff Gordon errötete leicht, was eigentlich Aufgabe der Sekretärin gewesen wäre. Auf jeden Fall warf er dem »traurigen Sam« einen fürchterlichen Blick zu, wie der Melancholiker bekümmert feststellte.

    »Ja, wenn Blicke töten könnten«, murmelte Hutchingson und das Schreckliche war, dass er nicht etwa spöttisch lächelte, sondern tieftraurig vor sich hin sah, »dann müsste der strebsame Inspektor Cliff Gordon sich jetzt selbst verhaften. Und

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