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Künstlerpension Boulanka
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eBook356 Seiten4 Stunden

Künstlerpension Boulanka

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Über dieses E-Book

Der Artist Jan Gruyter, Bewohner der "Künstlerpension Boulanka", ist ermordet worden. Steil aufgerichtet in einem hochlehnigen Sessel, um den Hals ein dünnes Seil, so finden ihn die Kriminalisten, als sie den Raum betreten. Der Kopf des Opfers ist unnatürlich weit hintenüber gelehnt und der Mund steht offen, als wolle der Mann zur Decke empor schreien. Unweit des Toten liegt auf den Dielenbrettern, wie achtlos hingeworfen, ein Schnapsglas.
Die Kriminalisten stehen vor einem Rätsel. Die ersten Untersuchungen am Tatort ergeben keine Anhaltspunkte, dennoch vermuten die Ermittler, daß der Täter sich noch im Haus aufhält. Verdächtig sind mehrere Personen: Tante Bulli, die geschwätzige Wirtin; der Musicalclown Ulf, der hartnäckig verschweigt, daß er das Zimmer des Ermordeten aufgesucht hat; die Artistin Sievers, die sich in Lügen verstrickt; die vier Sporellis wie auch der Zauberkünstler Colonta. Jeder von ihnen hat jedoch ein einwandfreies Alibi.
SpracheDeutsch
HerausgeberDas Neue Berlin
Erscheinungsdatum11. Aug. 2015
ISBN9783360501172
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    Buchvorschau

    Künstlerpension Boulanka - Fritz Erpenbeck

    Impressum

    eISBN 978-3-360-50117-2

    © 2015 (1994) Verlag Das Neue Berlin, Berlin

    Cover: Verlag

    Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

    www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

    FRITZ ERPENBECK

    Künstlerpension Boulanka

    DAS NEUE BERLIN

    Der Auftrag

    Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr dreißig, als ich, etwas atemlos vom Treppensteigen, das Dienstzimmer des Leiters der Abteilung K, Oberstleutnant Trewes, betrat.

    »Genosse Brückner«, sagte er, »Sie werden für den erkrankten Leiter der Mord- und Unfallkommission des Bezirks Mitte, Hauptmann Kleeberg, einspringen. Es handelt sich um einen Mord. Der Staatsanwalt ist benachrichtigt, ebenso Medizinalrat Doktor Vollmer, den Sie ja kennen. Falls Sie einen Kriminaltechniker brauchen, fordern Sie ihn an. Nach der Meldung des Abschnittsbevollmächtigten handelt es sich offenbar um ein Gewaltverbrechen, also wohl kaum um eine besonders komplizierte Aufgabe. Aber …«

    Da meldeten sich schon die beiden ständigen Mitarbeiter Hauptmann Kleebergs, Oberleutnant Becker und Leutnant Lorenz.

    Oberstleutnant Trewe teilte ihnen mit, daß ich die Aufklärung dieses Falles übernähme. »Bitte, machen Sie sich bekannt.«

    »Ich kenne den Genossen Hauptmann schon«, sagte Oberleutnant Becker höflich, als wir uns die Hand gaben, »von einigen Vorlesungen im Kriminaltechnischen Institut.«

    Leutnant Lorenz fragte unbefangen: »Ah – der Daktyloskop?«

    »Der Daktyloskop«, bestätigte ich schmunzelnd, denn ich wußte, daß das schon fast ein Spitzname für mich war.

    »Besprechen Sie alles Weitere im Wagen«, befahl Oberstleutnant Trewe. »Und guten Erfolg!«

    Der Wagen war bereits vorgefahren; Becker hatte es veranlaßt.

    Er machte überhaupt einen sehr zielstrebigen, ruhigen Eindruck. »Der Abschnittsbevollmächtigte hat«, sagte er zu mir, »als er die Meldung erstattete, mitgeteilt, daß er sofort die Spurensicherung veranlaßt habe.«

    »Dann werden wir ja leichte Arbeit vorfinden«, meinte unser junger Kollege, und mir schien, als sei er darüber etwas enttäuscht.

    »Abwarten«, wehrte Oberleutnant Becker kühl ab.

    Ich sah mir meine künftigen Mitarbeiter unauffällig an.

    Oberleutnant Becker war ziemlich groß, etwa so wie ich, nur nicht so hager; eher neigte er mit seinen schätzungsweise fünfunddreißig Jahren schon ein wenig zur Fülle. Er war überaus korrekt gekleidet; man hätte ihn für den Oberbuchhalter eines Großbetriebs oder den Direktor eines Instituts halten können, wäre nicht seine militärisch kurzgeschnittene sandblonde Haarbürste gewesen, in der er sich manchmal kratzte. Doch das war seine einzige kleine Inkorrektheit, sofern man das überhaupt so werten will.

    Leutnant Lorenz, gut einen Kopf kleiner, mit welligem, rotblondem Schopf und fröhlichen blauen Augen, wirkte unglaublich jung und frisch, obwohl er schon in der Mitte der Zwanzig sein mochte. Er trug straff sitzende, betont sportliche Kleidung. In vielem, besonders aber in seinem Temperament und seiner jungenhaften Unbekümmertheit, war er das strikte Gegenteil des Oberleutnants.

    Wie würde es mir, dem Dreiundfünfzigjährigen, mit diesem ungleichen Gespann bei der Arbeit ergehen? Mein widerspenstiges weißes Haar ist nicht glatt zu bürsten, meine Umgangsformen sind salopp, ich lebe gern behaglich, gekleidet bin ich alles andere als sorgfältig.

    Würden wir drei zu einem Kollektiv zusammenwachsen?

    Am Tatort

    Wir fuhren über die Weidendammbrücke und bogen nach links ab in eine der alten, grauen Seitenstraßen hinter dem Großvarieté Friedrichstadtpalast.

    Vor einem vierstöckigen, äußerlich ziemlich verwahrlosten Haus hielten wir.

    »Im vierten Stock«, wies uns ein Volkspolizist ein, der neben der Haustür stand. Gleich nach uns rollte der Wagen des Medizinalrats an die Bordschwelle.

    Wir vier stiegen schnell die Treppen hinauf. Auf dem Absatz der dritten Etage grüßten uns ein Polizeimeister und der Abschnittsbevollmächtigte Leutnant Brehme.

    Er war etwas aufgeregt; einen Mordfall hatte er noch nicht miterlebt, obwohl er nun schon über ein Jahr in diesem Abschnitt tätig war. »Ich hoffe, Genosse Hauptmann«, sagte er, »daß alles richtig gemacht worden ist.«

    »Hat inzwischen irgend jemand den Tatort betreten?«

    »Nur Frau Boulanka, die Wirtin, und die ist nur einen Schritt oder zwei ins Zimmer gegangen. Dann lief sie zum Telefon und rief das Revier an. Jedenfalls lauten so ihre Angaben. Das Revier, das mich sofort verständigte, befindet sich nur drei Häuser weiter. Der Diensthabende hatte sofort zwei Genossen hergeschickt; ich traf fast gleichzeitig mit ihnen ein.«

    »Sie, Genosse Leutnant, haben den Tatort nicht betreten?« fragte ich.

    Meine Frage kränkte ihn sichtlich. »Wie werde ich denn«, antwortete er lebhaft. »Im Gegenteil, ich habe sofort alles abgesichert und die neugierigen Mitbewohner in den Frühstücksraum oder in ihre Zimmer geschickt.«

    »Zimmer?«

    »Ja, das sind nämlich nicht Wohnungen, sondern Zimmer. Es ist eine Artistenpension.«

    Dabei waren wir im vierten, also obersten Stockwerk angelangt. Während in den unteren Etagen die Wohnungen wie in den meisten alten Berliner Mietshäusern angeordnet waren – ein Eingang rechts, einer links und einer in der Mitte –, sah das hier oben anders aus: vier Türen nebeneinander in der Längswand; ganz rechts seitwärts, gleich neben dem Treppenaufgang, also rechtwinklig zur Längswand, eine weitere Zimmertür. Ihr gegenüber, also links am Ende des korridorähnlichen Treppenabsatzes, eine Lattentür mit Vorhängeschloß, die vermutlich zum Trockenboden führte.

    »Das alles«, erklärte uns der Abschnittsbevollmächtigte, »ist erst neunzehnhundertachtundvierzig ausgebaut worden; vorher war es ein großer Hängeboden. Der Hauptteil der Pension befindet sich in der Etage unter uns. – Dort, das erste Zimmer neben dem rechten, ist der Tatort.« Und dabei senkte er unwillkürlich die Stimme.

    »Ich danke Ihnen, Genosse Leutnant«, sagte ich. »Sie haben gut gearbeitet.«

    Dr. Vollmer hatte die Tür geöffnet und blickte, zusammen mit uns, in den Raum. Er wurde von einer primitiven Lampe unter der Decke erleuchtet.

    In der Mitte, im Lichtkegel der Lampe, stand ein einfacher Brettertisch ohne Decke. Daran saß, von uns im Profil gesehen, auf einem sonderbar hochlehnigen, pseudogotischen Sessel, wie man ihn eigentlich nur noch in Museen und auf der Bühne sieht, steif aufgerichtet ein ziemlich großer, kompakter Mann in Hemdsärmeln. Sein Kopf, fast kahl in einem Kranz kurzgeschorener schwarzgrauer Haare, war unnatürlich weit hintenübergelehnt. Der Mund stand offen, als wolle der Mann zur Decke emporschreien. Seine Nase war flach, etwas eingebeult wie bei manchem Boxer. Um den Hals war ein dünner Strick geschlungen und offensichtlich zugezogen worden; das Ende hing an der Rückseite des Sessels herunter.

    »Stranguliert«, konstatierte Oberleutnant Becker.

    Ich nickte und hielt mit einer unwillkürlichen Geste meine Mitarbeiter vom Betreten des Raums zurück. Ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, daß die »Aufnahme«, die man zunächst mit den eigenen Augen macht, manchmal nützlicher ist und mehr zeigt, als es all die späteren Aufnahmen mit den überaus exakten Spezialkameras vermögen.

    Da stand auf dem Tisch eine Kognakflasche. Etwas abseits, unachtsam hingeworfen oder weggerollt, der Kork. Ein Glas – in plumper Schalenform mit Fuß, dickwandige Preßware, noch halbvoll – auf der Längsseite des Tisches vor einem schräg abgerückten einfachen Stuhl. Und ein gleiches Glas, aus der schlaff herabhängenden Hand des Toten nach vorn gerollt, lag auf den braunlackierten, abgetretenen Dielenbrettern. Die Spur, die es dabei hinterlassen hatte, war schon angetrocknet, aber noch gut sichtbar. Unwillkürlich suchten meine Augen nach einem Aschenbecher. Er stand unbenutzt auf einer Kommode nahe dem Fenster. Die Flasche auf dem Tisch war, soweit ich das von der Tür her sehen konnte, noch fast voll.

    »Ich bitte«, sagte ich zu Oberleutnant Becker, »die Alkoholflecke auf dem Boden gleich sehr genau in ihren Größenverhältnissen zueinander und in ihrem Abstand festzuhalten. Brauchen wir einen Kriminaltechniker?« fragte ich beide.

    »Wenn nicht etwas ganz Besonderes anfällt, nein«, antwortete Oberleutnant Becker.

    Leutnant Lorenz platzte heraus: »Haben Sie schon etwas entdeckt? Schon eine Vermutung?«

    Oberleutnant Becker knuffte ihn tadelnd in die Seite.

    »Wie sollte ich?« fragte ich Lorenz. »Ich bin doch kein Hellseher.«

    Er wurde rot.

    Oberleutnant Becker und der Arzt lächelten.

    »Entschuldigung«, murmelte Lorenz.

    »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte ich. »Nur stellen Sie mir bitte sachliche Fragen. Wenn ich kann, werde ich solche stets gern beantworten.« Ich wandte mich an alle.

    »Bitte, beginnen wir.«

    Erste Spuren

    Die Routinearbeit setzte ein. Auswertbare Fußspuren gab es nicht.

    Es wurden sowohl die Stellung des Toten von allen Seiten fotografisch festgehalten als auch, wie ich angeordnet hatte, die Lage des Glases auf dem Boden und die dazugehörigen Flecken und Spritzer.

    Der Alkoholrest in dem Glas, das auf dem Tisch stand, wurde in ein numeriertes Reagenzglas gefüllt. Die Alkoholspuren im anderen Glas und auf dem Boden wurden, sofern sie noch feucht waren, nach dem Fotografieren in reine Wattebäusche gesaugt und ebenso verpackt; bereits angetrocknete wurden vorsichtig von den Dielenbrettern abgehoben und sichergestellt.

    Zentimeter um Zentimeter wurden der Raum, insbesondere in der Nähe der Tür, dann der Lichtschalter, die Kommodenbeschläge, der Waschtisch, der kleine Kleiderschrank und vor allem der Tisch nach Fingerspuren abgesucht. Sie wurden eingestäubt und im üblichen Verfahren abgenommen.

    Ich machte inzwischen Abdrücke von den Fingerbeeren des Ermordeten und verglich sie provisorisch gleich an Ort und Stelle mit den gefundenen. Es gab noch verschiedene andere.

    Dafür hatte ich den zuverlässigen Blick eines Mannes, der lange die Daktyloskopische Kartei geführt hatte. Aber das wußten die wenigsten, sie hielten die Daktyloskopie für mein Steckenpferd, ja für meine Leidenschaft; aber meine Leidenschaft war die Wissenschaft von den Papillarlinien der Finger nun ganz und gar nicht. Ich halte sie für ein ausgezeichnetes, unbedingt zuverlässiges Hilfsmittel bei unserer Arbeit; obwohl das heute bereits jeder kleine Gauner weiß und sich danach zu richten trachtet.

    Kommen Sie doch mal rüber«, rief ich Oberleutnant Becker zu, der eben den Inhalt des Kleiderschranks untersuchte und registrierte. »Auf der Flasche und diesem Glas – es war dasjenige, das auf dem Tisch stand – befinden sich keinerlei Abdrücke.«

    Oberleutnant Becker sah mich mit seinen kühlen grauen Augen überlegend an. »Das könnte auf einen geplanten, zumindest überlegten Mord schließen lassen«, sagte er in seiner tastenden, skeptischen Art, die ich bei Kriminalisten schätze.

    »Auch keine Handschuhspuren?« fragte er.

    »Keine erkennbaren. Ich möchte eher annehmen, daß Flasche und Glas nachträglich mit einem Tuch abgewischt worden sind.«

    »Und wie steht es mit dem Glas, das auf dem Boden liegt?«

    »Ebenso.«

    »Wie? Auch keine Spuren des Ermordeten?« Das vermochte sogar den beherrschten Oberleutnant Becker etwas aus seiner Reserve zu reißen.

    Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

    Er dachte eine Weile nach. »Der Mann hat doch offensichtlich das Glas fallen lassen, vermutlich in dem Augenblick, als die Schlinge um seinen Hals zugezogen wurde. Das Glas muß sogar ziemlich voll gewesen sein, man sieht es an den Flecken auf dem Boden. Es ist, wie ich vorhin bemerkte, als ich die Proben für die chemische Untersuchung sicherstellte, innen noch feucht.« Er nahm es auf und roch daran. »Unverkennbar feucht von Alkohol.«

    »Ja, das habe ich auch festgestellt. Aber was folgt daraus?«

    »Es könnte daraus zu folgern sein« – unwillkürlich mußte ich über die vorsichtige Formulierung lächeln – »daß jemand, wahrscheinlich der Mörder, das Glas vom Boden aufgehoben, es außen abgewischt und dann wieder hingelegt hat.« Becker, der mein wohlwollendes Lächeln bemerkte und es mißdeutete, wurde unsicher und ein ganz wenig ärgerlich. »Aber das ist doch völlig sinnlos!«

    »Eben.« Ich nickte. »Deshalb wollte ich Ihre Meinung darüber hören.«

    Oberleutnant Becker grub die Zähne in die Unterlippe und kratzte sich im Haar. Das tat er, wie ich bemerkt hatte, immer, wenn er ärgerlich oder ratlos war. »Könnte es nicht so sein«, fragte er schließlich, »daß der Täter – nehmen wir an, es war der Täter – seinem Opfer das Glas eingeschenkt und hingereicht hat und deshalb annahm, es könnte darauf ein Fingerabdruck von ihm neben denen des Toten zurückgeblieben sein?«

    »Das ist vorläufig die einzige logische Erklärung.«

    »Und doch gefällt sie mir nicht.«

    »Mir auch nicht.«

    Becker sah mich fragend an.

    »Sie paßt, meine ich, nicht recht in den Gesamtzusammenhang. Der Mann ist mit einem Seil erwürgt worden. Ein typisches Gewaltverbrechen. Wenn Medizinalrat Vollmer mit seiner Untersuchung fertig ist, wird er uns wahrscheinlich bestätigen, daß eine außergewöhnliche Kraftanwendung notwendig war.«

    Dr. Vollmer, noch mit dem Toten beschäftigt, nickte uns bestätigend zu.

    »Ich glaube Sie zu verstehen«, sagte Oberleutnant Becker nachdenklich. »Es ist das, was auch mir an unserer vorläufigen Erklärung nicht gefällt. Ein Gewaltverbrecher dürfte im allgemeinen nach der Tat nicht mehr die ruhige Überlegung, ich möchte sogar sagen die Gerissenheit haben, seine Spur derart überlegt zu verwischen. Wenn er schon überhaupt auf den Gedanken käme, alle nur möglichen Spuren zu beseitigen, dann würde er doch wohl das Glas aufheben, es abwischen und dann einfach wegwerfen oder – was das Natürlichste wäre – es auf den Tisch stellen.«

    »Ich freue mich über unsere gute Zusammenarbeit, Genosse Oberleutnant, Sie haben meine Gedanken ausgesprochen. Und nun habe ich eine Bitte: Fertigen Sie eine möglichst exakte, maßstabgerechte Skizze der Alkoholflecke auf dem Boden an. Die Lage des Glases markieren Sie; wir können dann später die fotografischen Aufnahmen zum Vergleich und zur Korrektur heranziehen.«

    Oberleutnant Becker machte sich an die Arbeit. Er arbeitete rasch und geschickt.

    »Vorhin«, fuhr ich fort, »wunderte sich der Genosse Lorenz, daß ich mir den Tatort vor dem Fotografieren so genau ansah. Er vermutete sogar, ich hätte schon einen Verdacht oder dergleichen. Dabei war es nichts als – wenn ich so sagen darf – ein vages Gefühl, als ob da im Gesamtbild etwas nicht stimme. Ich hätte nicht sagen können … ja, es wäre reinste Metaphysik gewesen, zu sagen: Hier ist irgendein sachlicher Widerspruch. Später, lediglich aus der fotografischen Aufnahme, wäre ich wahrscheinlich nie mehr darauf gekommen; denn das Detail, obwohl genau stimmend, hätte nie ›gesprochen‹. Aber ich bin überzeugt, den eigentlichen Widerspruch, das, was hier nicht stimmt, haben auch wir beide noch nicht entdeckt. Darüber, Genosse Oberleutnant, müssen wir drei an Hand Ihrer Skizze und Ihrer Aufnahmen noch in aller Ruhe nachdenken. Etwas stimmt nicht, ich weiß nur nicht, was.«

    Becker, ganz in seine Arbeit vertieft, antwortete nicht. Er zog sogar die Mundwinkel ein wenig nach unten, als dächte er: ›Der alte Herr plaudert zuviel; was haben seine unpräzisen Vermutungen mit sachlicher kriminalistischer Arbeit zu tun?‹

    Ich wandte mich an den Arzt.

    Er antwortete, während er die letzten untersuchenden Handgriffe tat: »Tod durch Erwürgen bei gleichzeitigem Bruch des zweiten Halswirbels. Der Zug, richtiger gesagt der Ruck, mit dem die Schlinge zugezogen wurde, ist mit großer Kraft ausgeführt worden. Das Opfer – wie Sie sehen muskulös, ich möchte sagen geradezu athletisch gebaut – war auf der Stelle tot. Der Tod ist vor etwa fünf oder sechs Stunden eingetreten. Es ist anzunehmen, da der Täter zweifellos hinter dem Stuhl stand, daß er sich bei Ausübung der Tat mit einem Fuß gegen die Rückenlehne des Sessels gestemmt und dann mit seinem ganzen Gewicht nach hinten geworfen hat. Anders ist, trotz der Dünne des Seils, die Tiefe des Würgemals nicht zu erklären. Überdies bliebe es unerklärlich, selbst wenn wir völlige Ahnungslosigkeit des Opfers voraussetzen, daß die Körperhaltung, der Zustand der Muskulatur – Spannungs- und Entspannungskomplexe – trotz der Totenstarre auf keinerlei Widerstand oder auch nur Abwehrreaktionen schließen lassen. Merkwürdig, merkwürdig«, schloß der erfahrene Mitarbeiter des Gerichtsmedizinischen Instituts. Er packte seine Instrumente ein. »Nun, ich werde Ihnen das alles noch schriftlich zukommen lassen. Den ausführlichen Obduktionsbefund können Sie jedoch erst morgen am Spätnachmittag oder abends erhalten. Ich werde Sie wegen des Termins der Leichenöffnung noch verständigen, Herr Brückner.«

    »Ist Ihnen sonst nichts aufgefallen, lieber Doktor?« fragte ich, während Oberleutnant Becker, der eben mit seiner Skizze fertig war, hinzutrat.

    Der Arzt nickte. »Natürlich«, sagte er. »Aber das fällt nicht in mein Aufgabengebiet. Ich stelle, ebenso wie Sie, nur Tatbestände fest. Schlußfolgerungen, die außerhalb des Medizinischen liegen, könnten aus Mangel an Sachkenntnis möglicherweise irreführen.«

    Oberleutnant Becker nickte mir zu. »So bescheiden«, sagte er, »tut Medizinalrat Vollmer immer. Dabei weiß er genau, worüber wir uns vom ersten Moment an den Kopf zerbrachen, noch bevor wir überhaupt den Raum betreten hatten.«

    »Ach nee«, meinte der Arzt und blickte spöttisch über seine Brillengläser hinweg. »Was denn?«

    »Daß der Strick nicht über die Stuhllehne hinweg oder seitwärts an ihr vorbeigeführt, sondern durch diese Rosette in der Schnitzerei gezogen wurde.«

    Dr. Vollmer zündete sich seine Pfeife an. »Dieses zusätzliche Rätsel zu klären ist Ihre Sache, meine Herren Fachleute. An dem medizinischen Tatbestand ändert es wenig oder nichts. – Ich empfehle mich.«

    Er gab zwei Trägern, die schon an der Tür warteten, einen Wink. Sie legten den Ermordeten auf die Bahre.

    »Seine Kleidung ist durchsucht?« fragte ich.

    »Nur ein Taschentuch, die Schlüssel dort, die Uhr und etwas Kleingeld«, meldete Leutnant Lorenz und deutete auf die Kommode, wohin er die Dinge gelegt hatte. »Alles aus den Hosentaschen. Außer der Armbanduhr natürlich.«

    »Gut.«

    Der Tote wurde zugedeckt und weggetragen. Der Medizinalrat folgte.

    Eine phantastische Vermutung

    Wir drei sahen uns an.

    »Na, Genosse Leutnant, was meinen Sie?« fragte ich. Er wand sich ein bißchen, sah erst Oberleutnant Becker an, als fürchte er, wieder wegen impulsiver Unbedachtsamkeit gerügt zu werden; aber auch Becker mußte lächeln.

    »Sie, Genosse Lorenz, haben sich doch sicher schon eine Meinung gebildet?« fragte Becker, und der Spott, den der Junge nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte, war unüberhörbar.

    »Natürlich habe ich das«, sagte Lorenz trotzig, »Sie haben mich ja selbst immer gelehrt, Genosse Oberleutnant, daß man bei der Arbeit denken soll.«

    »Schön«, unterbrach ich, »was also haben Sie sich gedacht?«

    »Der Täter saß hier.« Lorenz deutete auf den schräg abgerückten Stuhl an der Längsseite des Tisches. »Die beiden tranken. Nein, sie hatten gerade begonnen zu trinken, denn in der Flasche fehlen höchstens zwei, drei Gläschen. Ich nehme an, der Gast hat die Flasche geöffnet.«

    »Warum der Gast?«

    »Der Kork zeigt, daß ein Korkenzieher verwendet wurde. Bitte, hier.« Er hielt uns den Korken hin. »Aber weder in der Tasche des Toten noch sonstwo im Zimmer ist ein Korkenzieher gefunden worden.«

    »Sie haben danach gesucht?«

    »Ja.«

    »Sie beobachten nicht schlecht, Genosse Lorenz«, sagte ich.

    Er errötete jungenhaft über dieses Lob und fuhr jetzt, was ich erreichen wollte, sehr unbefangen fort: »Also hat der Gast die Flasche geöffnet, wahrscheinlich mit dem Korkenzieher an seinem Taschenmesser. Aber wenn der Bursche so raffiniert ist, wie es nach allem den Anschein hat, werden wir wohl vergeblich nach dem Taschenmesser forschen. Wir sollten es dennoch in Erinnerung behalten. Ich habe es mir jedenfalls notiert.«

    »Sehr gut.«

    Lorenz wurde noch eifriger. »Wenn er die Flasche geöffnet hat, hat er vermutlich auch eingeschenkt.«

    »Das ist anzunehmen.« Ich blickte fragend zu Becker hinüber.

    »Jedenfalls ist nichts dagegen einzuwenden«, antwortete er bedachtsam.

    Lorenz erklärte weiter: »Nun nehme ich an, aber jetzt beginnen meine bloßen Vermutungen, daß er sich selbt zuerst einschenkte …«

    Becker fiel ihm ins Wort: »Wirklich eine bloße Vermutung.«

    »Nicht so ganz«, verteidigte sich der junge Kriminalist. »Denn nach der Tat wäre es sinnlos gewesen, das eigene Glas zu füllen. Da hatte der Täter wirklich anderes, Wichtigeres zu tun.«

    »Oder er tat es gerade, um eine Spur zu verwischen.«

    »Möglich. Ich behaupte auch nicht, daß es so war. Lassen Sie mich doch meinen Gedankengang zu Ende entwickeln, Genosse Oberleutnant.«

    »Bitte«, sagte Becker, und ich merkte ihm an, daß er die Methode seines Mitarbeiters, die mir sehr gut gefiel, nicht billigte.

    Ich aber habe die Erfahrung gemacht, daß der Austausch von Vermutungen – allerdings immer streng kontrolliert, ob sie nicht mit den Tatsachen in Widerspruch geraten – unter kameradschaftlich zusammenarbeitenden Kriminalisten näher zum Ziel führen kann. Gerade ich, der ich bei meinen Vorlesungen im Institut die systematische Ausnutzung all unserer modernen Mittel und Hilfsmittel stets sehr dringlich empfehle, wage zu behaupten, daß es in der Kriminalistik nicht ohne Phantasie geht. Allerdings muß sie konkret und kontrollierbar sein. Der junge Lorenz schien diese Phantasie zu haben; bei Becker war ich im Zweifel.

    Leutnant Lorenz fuhr fort: »Der Gast stand dann auf und schob dabei den Stuhl etwas beiseite; deshalb steht er jetzt schräg zur Tischkante. Die genauen Maße habe ich in einer Skizze festgehalten. Entweder schenkte der Mörder seinem Opfer jetzt ein, oder aber …«

    Er brach achselzuckend, sichtlich verlegen ab.

    »Oder?« trieb ich ihn weiter.

    »Ja, jetzt kommt eine reine Hypothese ohne den geringsten sachlichen Anhaltspunkt, und der Genosse Oberleutnant liebt solche Hypothesen gar nicht.«

    »Ich um so mehr, solange sie dem offenkundigen Tatbestand nicht widersprechen«, ermunterte ich Lorenz.

    Becker verkniff den Mund. Aber er schwieg, er ließ sich auch durch meine Provokation nicht aus der Reserve locken. Es ist stets etwas schwierig mit neuen, völlig unbekannten Mitarbeitern.

    »Ich möchte einmal, wenn Sie gestatten, Genosse Hauptmann«, wandte sich Lorenz nun ganz an mich, »demonstrieren, wie ich mir den weiteren Vorgang vorstelle.« Er trat hinter den hohen gotischen Sessel und markierte mit der rechten Hand das Einschenken. »Gleichzeitig aber«, erklärte er weiter, »legte der Mörder mit der linken Hand die Schlinge um den Hals des Opfers, zog das Seilende durch diese Rosette, stemmte sein Bein gegen die Rückenlehne und zog mit einem kräftigen Ruck – während sein Opfer das Glas zum Trinken hob – die Schlinge zu. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Übrigens hat Oberleutnant Becker vorhin ja selbst die vermutliche Kratzspur des Schuhes hier auf der Rückwand des Sessels festgestellt und sie fotografiert.«

    Aber Becker machte ein so zynisches Gesicht, daß der temperamentvolle Eifer seines jungen Kameraden jäh erlosch.

    Lorenz schämte sich ein bißchen. »Ich weiß«, sagte er kleinlaut, »das ist eine gewagte Hypothese.«

    »Eine sehr gewagte«, nickte Becker, »eine ganz unmögliche.«

    Ich stellte mich dumm. »Weshalb?« fragte ich. »Haben Sie eine andere, bessere?«

    »Ich habe gar keine. Will mir auch keine zusammenbasteln. Ich sehe, genau wie vorhin Medizinalrat Vollmer, lediglich Tatsachen. Sehr widerspruchsvolle Tatsachen. Da sitzt das Opfer, ein Bär an Kraft. Neben ihm ein – nun, nennen wir ihn Gast, der wahrscheinliche Mörder. Da ist eine Flasche Schnaps, genauer gesagt Kognak. Woher kommt sie? War sie schon da, hat der Gast sie mitgebracht? Warum? Das könnte, wenn wir etwas darüber wüßten, bestenfalls etwas über das Verhältnis aussagen, in dem Mörder und Opfer zueinander standen. Mehr aber nicht. Schön, der Gast also entkorkt die Flasche und schenkt ein. Bis dahin gehe ich noch mit. Doch schon die Annahme, daß er sich selbst zuerst eingeschenkt haben soll, ist unwahrscheinlich.«

    »Und wie erklären Sie die Schrägstellung des Stuhls, wenn nicht so?« warf Lorenz ärgerlich ein.

    »Was ich nicht weiß, erkläre ich nicht, sondern stelle es nur fest und notiere es. Vielleicht kann ich es später erklären, wenn ich mehr weiß«, sagte Becker betont lehrhaft, ein bißchen unangenehm überlegen sogar. »Aber was nun kommt, ist doch reinste Phantasie, Genosse Leutnant, nein, sogar Phantastik!«

    So erregt hatte ich Becker bislang nicht gesehen, er sprach sogar verhältnismäßig laut und hastig. »Hier also sitzt ein bärenstarker Mensch. Er dreht sich, was selbst dann, wenn der Gast sein bester Freund wäre, unwahrscheinlich bis zum Äußersten ist, nicht einmal um, als dieser – völlig unmotiviert – hinter seinen Stuhl tritt und ihm von rechts her einschenkt.«

    Der junge Lorenz war jetzt verbockt, er hatte offenbar das Gefühl, Becker wolle ihn vor mir blamieren. Trotzig wie ein Junge warf er ein: »Vielleicht war es ein Kellner – die schenken immer von rechts ein!«

    ›Der Junge hat Geistesgegenwart und außergewöhnlich schnelles Kombinationsvermögen‹, dachte ich anerkennend, obwohl ich, ebenso wie Oberleutnant Becker, lachen mußte.

    Aber Beckers Lachen war eine Mischung aus Ironie und Verärgertsein, meines kam aus der Freude über das Temperament und die logische Schlagfertigkeit des Jungen. Jedenfalls bildeten die beiden, beruflich gesehen, gerade wegen ihrer Verschiedenart ein ausgezeichnetes Gespann; es mußte sie nur einer zügeln. Und das sollte eigentlich ich sein. Aber ich wollte sie, vor allem Becker, erst noch besser kennenlernen.

    »Was nun folgt, ist eine solche Spintisiererei, daß man sich beinahe schämen muß, sie zu widerlegen«, fuhr Oberleutnant Becker mit verletzendem Spott fort. »Während also der Gast – Verzeihung, der Kellner – mit der rechten Hand serviert, zaubert er mit der Linken aus seiner Tasche einen anderthalb Meter langen Strick, legt – und das alles mit der linken Hand – eine kunstgerechte Schlinge …«

    »Die kann vorbereitet gewesen sein!«

    »… um den Hals seines Opfers, das mucksmäuschenstill dasitzt und nicht das geringste davon merkt. Dann manipuliert dieser Zauberkünstler von einem Mörder, während er rechts den Kognak ins Glas seines Opfers gluckern läßt, mit der Linken auch noch den Strick durch ein Loch in der Rückwand des Stuhls, das er natürlich mit phänomenaler Geistesgegenwart sogleich entdeckt hat, stellt überdies noch mit der Rechten die Flasche auf die linke Tischseite zurück …«

    »Das kann er später getan haben!«

    » … hebt ein Bein, stemmt den Fuß gegen die Rückseite des Sessels – alles völlig lautlos – und zieht, während das Opfer, immer noch ohne sich umzusehen, das Glas hebt, die Schlinge zu. Alles mit der linken Hand!« Oberleutnant Becker sah mich fragend und, wie mir schien, ein bißchen beifallheischend an.

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