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Tödliche Zeitarbeit: Zu viel Gier tut selten gut
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Tödliche Zeitarbeit: Zu viel Gier tut selten gut
eBook276 Seiten3 Stunden

Tödliche Zeitarbeit: Zu viel Gier tut selten gut

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Über dieses E-Book

Jobwunder Deutschland? Stimmt das wirklich? Was verbirgt sich hinter den Statistiken, die die Bundesanstalt für Arbeit turnusmäßig veröffentlicht? Dieser Roman gibt einen entlarvenden Einblick in die von der Politik verschleierten Missstände der modernen Arbeitswelt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Apr. 2017
ISBN9783742792280
Tödliche Zeitarbeit: Zu viel Gier tut selten gut

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    Buchvorschau

    Tödliche Zeitarbeit - Ines von Külmer

    Kapitel 1 – Mord in der Neumeyerstraße

    Im vierten Stock in der Neumeyerstraße herrschte hektische Betriebsamkeit. Kriminalhauptkommissar Ludwig Keller bahnte sich seinen Weg an einem Mann und einer Frau vorbei, die anscheinend nur wenige Minuten vor ihm die Räumlichkeiten der Firma betreten hatten und ihn etwas verdutzt ansahen. Die Zeiger der großen runden Uhr an der Wand gegenüber dem Eingang zeigten auf neun Uhr. Weitere Angestellte der Firma trudelten allmählich ein. Eine schlanke junge Frau mit blonder Hochfrisur und hochhackigen Sandalen hinderte ihre Kollegen am Betreten des Zimmers gegenüber von der Empfangstheke, was nicht ganz einfach war. Was war denn schon in aller Herrgottsfrühe hier los? Der Mobiltelefonanruf seines Mitarbeiters hatte den Kriminalhauptkommissar überrascht, als er gerade seine Wohnung in der Winner Zeile in Nürnberg-Laufamholz verlassen wollte. So war er statt ins Büro zur angegebenen Adresse gefahren. Er steuerte auf das Zimmer zu, aus dem er schon die Stimmen seiner Mitarbeiter hören konnte. ‚PersonalLeasing GmbH – Auf unsere Erfahrung und Kompetenz können Sie zählen‘ – konnte er auf einem messingfarbenen Schild in Schwarz gedruckt auf weißer Wand im Vorbeigehen lesen. Auf der Türschwelle blieb er stehen. Sein Mitarbeiter Robert Pelzig und zwei Kollegen des Erkennungsdienstes zeigten ihm in der Hocke sitzend ihre Rücken und verdeckten den offenbar leblosen Körper einer Frau fast ganz. Trotzdem war das Geschlecht der auf dem Boden liegenden Person an den cremefarbenen Sandaletten mit hohem Absatz unschwer zu erkennen. Der Notarzt, der den Tod der jungen Frau festgestellt hatte, hatte sich bereits verabschiedet.

    Kriminalhauptkommissar Keller fröstelte. Er hatte sich in der Eile nur eine leichte Baumwolljacke übergezogen, weil er wegen des ständig launigen Wetters nie so recht wusste, wie er sich kleidungsmäßig für den vor ihm liegenden Tag rüsten sollte. Obwohl es mitten im Sommermonat August war, zeigte das Thermometer Temperaturen an, die eigentlich eher in den späten September oder Oktoberanfang gepasst hätten. Nur 18 Grad! Und das nach einer längeren Hitzeperiode von 30 bis 34 Grad! In den letzten Jahren hatte der gebürtige Nürnberger verstärkt Schwierigkeiten, sich an die ständigen Temperaturschwankungen anzupassen.

    Überhaupt liebte es Kriminalhauptkommissar Keller, wenn er alles unter Kontrolle hatte. Und bis zur seiner Trennung von seiner Ehefrau Kathrin war sein Leben auch in relativ ruhigen Bahnen verlaufen. Weil er sich für Psychologie interessierte und über einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit verfügte, hatte er bereits in der Schulzeit den Beruf des Kriminalbeamten in Betracht gezogen. Bücher über Jungdetektive wie „Fünf Freunde" hatte er verschlungen. Schon damals schwebte ihm ein geregeltes Leben vor. Privat wie auch dienstlich. Die Wechselschichten, die ihn auch am Wochenende beschäftigten und die Freizeit weniger planbar machten, störten ihn dabei wenig. Wenn er sich erst einmal in einen Fall festgebissen hatte, entwickelte er eine Art beruflichen Tunnelblick. Alles, was um ihn herum sonst geschah, blendete er aus. Diese absolute Ausrichtung auf die Lösung der kriminalistischen Fälle setzte er auch bei seinen Mitarbeitern voraus, was mitunter das Zwischenmenschliche im Büro gewaltig auf die Probe stellte. Und wenn es um Mordfälle ging, die bereits in der Presse für Schlagzeilen sorgten, setzte das die Mannschaft um den Nürnberger Kripomann mächtig unter Druck. Und das bedeutete auch immer eine höhere Arbeitsbelastung. Dann musste eben das Private mal hinten anstehen, fand er. Und je schneller ein Fall erfolgreich zu Ende gebracht werden konnte, desto eher konnten die eigens gebildeten Sonderkommissionen wieder aufgelöst werden, und die Normalität konnte wieder in das Leben der Beamten einkehren. Außerdem hasste er nichts so sehr wie Unzuverlässigkeit. Nur auf die Kapriolen des fränkischen Wetters hatte er leider keinen Einfluss! ‚Vielleicht muss ich wieder mehr für meine körperliche Fitness tun, dann kann sich mein Körper bestimmt viel besser temperaturmäßig umstellen‘, dachte sich Keller. Etwas besorgt blickte er an sich herunter. Neulich hatte er beim Hosenkauf nach einer Nummer größer greifen müssen. Diesem physischen Schlendrian musste er einfach mal Einhalt gebieten! Und das möglichst noch vor seinem in nicht allzu weiter Ferne liegenden, nächsten runden Geburtstag.

    Aber jetzt war wieder höchste Konzentration angesagt! Ludwig Keller schob alle sein berufliches Engagement störenden Gedanken beiseite. Seine kriminalistische Kompetenz war wieder einmal gefragt! Doch bevor er seinen Fuß in den Büroraum mit der Leiche setzte, scannte er mit seinen Augen die Momentaufnahme der ersten Tatortbegutachtung. Die Kollegen von der Spurensicherung waren in voller Montur. Jetzt zwängte sich der Nürnberger Kriminalhauptkommissar ebenfalls in seine Schutzbekleidung. Mundschutz und Handschuhe gehörten ebenso dazu. Denn wenn er mit bloßer Hand irgendeinen Gegenstand, mochte dieser auf ersten Blick auch noch so unauffällig erscheinen, anfasste, würde das die Arbeit des Erkennungsdienstes erheblich erschweren. Für die Aufklärung des Falles wichtige Beweismittel könnten so unbedacht zerstört werden. Jede Menge Ärger mit den Kollegen des Erkennungsdienstes hätte das zur Folge. Die Polizeibeamten waren eifrig damit beschäftigt, zur Aufklärung des Mordes relevante Gegenstände einzutüten. Eine Klarsichthülle mit Papieren verschwand ebenso in einer Plastiktüte wie ein Kugelschreiber und eine Heftmaschine. Schmutzig-blutige Fußspuren waren auf dem Teppichboden deutlich zu erkennen. An den Fußabdrücken konnte der Kriminalhauptkommissar bereits erkennen, dass es der Mörder nicht eilig gehabt haben konnte. Der Täter hatte offensichtlich auch überhaupt nicht darauf geachtet, dass an seinen Schuhen jede Menge Blut klebte. Die Schuheindrücke auf dem blaugrauen, kurzhaarigen Fußbodenbelag führten aus dem Zimmer. Martin Krause von der Spurensicherung war gerade dabei, diese blutigen, fein geriffelten Abdrücke zu fotografieren. Sein Kollege hatte einen Blutstropfen in Augenschein genommen, um diesen dann vorsichtig abzuschaben.

    Kriminalhauptkommissar Keller stand jetzt direkt vor der Toten. Die Leiche, die flach ausgestreckt auf dem Rücken liegend vor dem im Raum stehenden Schreibtisch lag, sah grauenhaft zugerichtet aus. Der untere Teil des Gesichts war Blut verkrustet. Er warf einen Blick auf den leicht geöffneten Mund mit den geschwollenen Lippen. Ganz offensichtlich hatte die Frau im Bereich des Mundes schwere Verletzungen erlitten. Folge eines gewaltsam verursachten Sturzes, nachdem sie tätlich angegriffen worden war? Hatte sie sich durch einen Aufprall an der Schreibtischkante so schwer verletzt? Oder hatte sie vor ihrem Angreifer fliehen wollen, war auf ihren Schuhabsätzen gestolpert und auf diese Weise unglücklich zu Fall gekommen? Oder wurde ihr mit einem schweren Gegenstand oder mit einer Faust diese Verwundung zugefügt? Der mächtige Büroschreibtisch, der nach Massivholz aussah, stand in einem Abstand von ungefähr einem Meter von der mit weiß getünchter Raufasertapete beklebten Wand. Mehrere Gold gerahmte Urkunden hingen da, zum Beispiel ‚Personalauswahl – Auswahlgespräche erfolgreich führen‘. Svenja Schilling hatte offensichtlich sehr viel Ehrgeiz und Zeit in ihre Aus- und Weiterbildung investiert. ‚Oh, je‘, dachte sich Keller, ‚wenn da jeder sämtliche im Verlauf seines Lebens absolvierten Volkshochschulkurse an die Wand heften würde, dann könnte man sich ja wohl die Tapete sparen‘. Seine frühere Frau hatte nach ihrer Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin Anfang der neunziger Jahre einen interessanten Job bei den amerikanischen Streitkräften in Fürth gefunden. Schon beim Vorstellungsgespräch waren ihr die vielen Urkunden an der Wand ihres zukünftigen Chefs aufgefallen. Ein solcher „Exhibitionismus" in Bezug auf die persönlichen Qualifikationen lag dem Nürnberger Kripomann fern. Aber na ja, die Tote war ja vielleicht vom Typ ‚Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter komm ich ohne ihr‘ gewesen. Er blickte auf den leblosen Körper herab. Der zierliche, schmale Oberkörper der Toten war mit unzähligen Einstichen übersät. Das cremefarbene T-Shirt der Frau, die zwischen Mitte und Ende Dreißig sein mochte, war zerfetzt und Blut durchtränkt. Das Blut neben der Toten war in den sonst gepflegt aussehenden Teppichboden gesickert und hatte diesen rot gefärbt. Insgesamt ein wirklich grausiger Anblick!

    „Wer hat die Tote gefunden?"

    „Ich, vor ungefähr einer dreiviertel Stunde, als ich ins Büro kam. Ich bin eigentlich immer die Erste hier. Die Tür zum Büro von Frau Schilling war leicht angelehnt, im Vorbeigehen sah ich, dass in ihrem Zimmer Licht brannte. Es kam mir sehr merkwürdig vor, es ist ja Sommer, und da benötigt man um diese Zeit eigentlich kein Licht. Ja, und dann habe ich vorsichtig an die Tür geklopft und gefragt, ob jemand da sei. Als ich keine Antwort erhalten habe, bin ich eingetreten. Und dann …"

    Die junge Frau in modischen Sandaletten presste beide Hände vor ihren Mund. Sie versicherte dem Hauptkommissar, dass sie nichts verändert habe. Sie sei die Erste gewesen und habe dafür gesorgt, dass der Tatort in seinem Originalzustand verblieb. Sie sei ein Krimifan und habe schon viele Romane gelesen, und auch im Fernsehen würde sie jeden Krimi ansehen. Sie wisse, wie man sich in einem solchen Falle verhalten solle. Eine erste Aussage mit Angabe ihrer Personalien hatte sie bei den nach ihrem Anruf eintreffenden Polizeibeamten gemacht.

    „Ich kann das nicht verstehen, Frau Schilling ist glücklich verheiratet und hat einen zweijährigen Sohn. Sie hat sich gut mit der Firmeninhaberin verstanden. So viel Kontakt hatte ich persönlich nicht mit ihr. Ich bin nämlich am Empfang, und sie ist für die Personaldisposition zuständig. Außerdem bin ich erst seit ein paar Monaten bei der Firma PersonalLeasing Nürnberg."

    „Vielen Dank, erst einmal, " sagte Kriminalhauptkommissar Keller.

    „Alle haben Frau Schilling gemocht", sagte die Frau vom Empfang noch, etwas verdutzt blickte sie drein.

    ‚Na alle wohl nicht, sonst würde sie hier ja nicht erstochen in ihrem Büro liegen’, dachte sich Kriminalhauptkommissar Keller.

    Die Polizeibeamten nahmen keine weitere Notiz von Maren Weidlich. Sie war sichtlich enttäuscht. Sie hatte auf etwas Abwechslung in ihrem meist eintönigen Büroleben bei der PersonalLeasing GmbH gehofft. Sie war doch eine wichtige Zeugin, hatte die Tote zuerst gesehen. Im Aufzug, auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, war ihr jedoch nichts Besonderes aufgefallen. Der eine Anwalt von der Kanzlei im dritten Stock war mit ihr hochgefahren. Der grau Melierte, der immer versuchte, mir der jungen Frau einen Flirt anzufangen. Anwalt, nee wie langweilig! Aber vielleicht würden sich die Kripobeamten noch bei ihr melden, und sie würde aufs Präsidium geladen werden. In ihrem mit dichtem, schwarz gefärbtem Haar reichlich bedeckten Kopf begann es zu arbeiten. Maren Weidlich versuchte, ihren Weg vom Parkplatz ins Bürogebäude zu rekonstruieren. Nur der silberfarbene Mercedes von dem Juristen hatte schon auf seinem von der Anwaltskanzlei angemieteten Parkplatz gestanden. Die Teamassistentin war nur ausnahmsweise mit dem von ihrer Mutter ausgeliehenen Ford Fiesta gekommen. Normalerweise bestand ihre Anfahrt zum Arbeitsplatz aus mehrmaligem Umsteigen in verschiedene öffentliche Verkehrsmittel. Doch, da war doch etwas gewesen, was irgendwie nicht zu diesen auf den verschiedenen Stockwerken verteilten Firmen passte! Sie waren doch eine eingeschworene Nichtraucher-Clique geworden. Ja, jetzt fiel es ihr wieder ein! Vor der Eingangstür zum Bürogebäude Neumeyerstraße hatte eine Zigarettenschachtel gelegen. Die musste eigentlich noch da sein.

    „Herr Hauptkommissar, begann Maren Weidlich, „mir ist da noch was eingefallen. Eine Zigarettenschachtel, ganz offensichtlich leer. Und hier gibt es, zumindest meines Wissens nach, keine Raucher mehr. Gauloises, glaube ich. Aber die Schachtel muss noch da sein. Soll ich die Ihnen gleich holen?

    „Wie bitte?"

    Kriminalhauptkommissar Keller drehte sich um und sah die Dame vom Empfang, die jetzt auf der Türschwelle stand, an.

    „Eine leere Zigarettenschachtel der Marke Gauloises sagten Sie? Aber bitte, nicht anfassen. Mein Kollege vom Erkennungsdienst wird sich umgehend damit befassen. Vielen Dank für Ihren Hinweis."

    Maren Weidlich fühlte, wie sie rot anlief. Wie peinlich! Und sie hatte damit getönt, eine „Expertin" in Sachen Kriminalistik zu sein. Na klar! Natürlich durfte sie ein solches Beweisstück nicht ohne Schutzhandschuhe anfassen. Sie ärgerte sich über diesen Fauxpas und verschwand schnell in der Teeküche neben dem Büro von Svenja Schilling, um eine Kanne Kaffee zu kochen. Wie üblich hatte sie wieder ihr Einzimmerappartement verlassen, ohne zu frühstücken. Und jetzt hatte sie wirklich Kaffeedurst. Sie würde den bei einer Bäckerei in der Nähe ihrer Wohnung gekauften Schoko-Croissant zur ersten Tasse Kaffee an diesem Tag verspeisen.

    „Diese Firma hier ist eine Zeitarbeitsfirma. Ich hab’s mal rasch auf meinem iPhone recherchiert", Robert Pelzig war aufgestanden und blickte Kriminalhauptkommissar Keller in die Augen.

    „Keine Ahnung, was so eine Firma macht", antwortete Kriminalhauptkommissar Keller.

    „Ich habe etliche Sendungen zum Thema Zeitarbeit oder Leiharbeit im Fernsehen gesehen. Und in der Presse sorgt diese Branche immer wieder einmal für Schlagzeilen. Schon seit Jahren. Und die sind nie positiv. Aber nichts ändert sich. Was vor allem für die Betroffenen Sch…… ist."

    Robert Pelzig, einer von Kellers Mitarbeitern, sah empört aus. „Vergleichsweise niedrige Löhne, befristete Arbeitsverhältnisse, schlechtere Bedingungen als die fest angestellten Arbeitnehmer des Entleiherbetriebs. Und bei den ständigen Stellenstreichungen, auch bei Großbetrieben, wird’s natürlich vor allem für die „älteren Semester echt schwierig, wieder angemessen in Lohn und Brot zu kommen.

    Kriminalhauptkommissar Keller war nicht erstaunt. Die „soziale Ader des jungen Kriminalkommissars war im Polizeipräsidium Mittelfranken in Nürnberg bestens bekannt. Er sah seinen jüngeren Mitarbeiter an. Pelzig war wirklich ein echter Franke. Besonders wenn er in Rage geriet, kam sein Dialekt unter Ignorierung der unterschiedlichen Aussprache von „b und „p und „t und „d" wieder voll zur Geltung.

    Kommissar Keller selbst war jedoch der Sprössling von sogenannten Zugereisten. Sein Vater war Anfang der sechziger Jahre in die Frankenmetropolregion gekommen. Das war noch bevor der kleine Ludwig das Licht der Welt erblickt hatte. Sein Vater hatte ein verlockendes Stellenangebot von einem Großunternehmen der Elektrobranche erhalten, das er wegen des in Aussicht gestellten Gehalts nicht ablehnen konnte. So eine junge Familie wollte doch schließlich ernährt werden! Und so hatten Keller Senior und seine Frau in Hannover ihre Koffer gepackt und sich in der Nachbarstadt von Nürnberg, Erlangen, ein neues Leben aufgebaut. Seine norddeutsche Sprechweise hatte der kleine Ludwig sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen. Und in Erlangen war er auch deswegen nicht so aufgefallen. Das Großunternehmen, die Firma Siemens, hatte sehr viele Menschen aus allen Regionen Deutschlands ins Frankenland gelockt. Und so saßen auf den Schulbänken der Erlanger Gymnasien jede Menge sogenannte preußische Kinder. Aber nachdem Ludwig Keller seine dreijährige Ausbildung an der Polizeifachhochschule in Sulzbach-Rosenberg beendet hatte, wollte er eigentlich nicht mehr weg aus dem fränkischen Großraum. Außerdem war er zu diesem Zeitpunkt gerade frisch verliebt – in Kathrin, ein echtes Nürnberger Kindl. Und seine spätere Frau hätte sich ein Leben jenseits Nordbayerns nie vorstellen können. Aber dem Kriminalkommissar fiel es immer wieder auf, wie seine Kollegen der fränkischen Mundart sich immer abmühten, Hochdeutsch mit ihm zu sprechen, obwohl er den Dialekt doch bestens verstand. Nur sprechen konnte er ihn eben nicht! Er fand, es klinge irgendwie gekünstelt und komisch, wenn er sich auf echt Fränkisch verständlich machen wollte. Aber wenn er dann in unregelmäßigen, großen Abständen bei seiner noch in Norddeutschland lebenden Verwandtschaft auftauchte, verriet er seine Geburtsregion mit unbewusst ins Gespräch gemischten Ausrufen wie „Allmächt beziehungsweise „Allmächd.

    „Die hat bestimmt mehr Feinde als Haare auf dem Kopf!"

    „Nicht so laut!"

    Kriminalhauptkommissar Keller versuchte, Robert Pelzig zu beruhigen. Er beugte sich jetzt neben Martin Krause vom Erkennungsdienst über die Tote.

    „Was meinst du, wann ist die Frau wohl gestorben?"

    „Es muss in der Nacht passiert sein, sonst hätte heute Morgen ja nicht das Licht gebrannt. Nein, im Ernst. Einen genauen Todeszeitpunkt kann man noch nicht sagen. Jetzt muss die Leiche erst einmal in die Rechtsmedizin nach Erlangen gebracht werden. Und dann müssen wir die Obduktion abwarten."

    ‚Sehr schlagfertig‘, dachte sich Ludwig Keller. Er blickte über den aufgeräumten Schreibtisch der Toten. Nichtraucherin, kein Aschenbecher, keine Zigaretten. Der Computer war auf Standby-Betrieb. Offensichtlich hatte die Tote keine Zeit gehabt, ihn herunter zu fahren und auszuschalten. War sie mitten in der Arbeit von ihrem Mörder überrascht worden? Aber was hatte sie so spät noch in der Firma zu schaffen? Musste sie so viele Überstunden schieben? Der Bürostuhl mit dem blauen Bezug war bis an die Wand zurück geschoben. Vor dem Schreibtisch stand ein Stuhl, der zum Besprechungsmobiliar in der Ecke zu gehören schien und umgeworfen worden war.

    „Hier steht eine Kaffeetasse!"

    „Die ist aber noch ganz voll, wahrscheinlich ist die Person, die Frau Schilling gestern gegenüber saß, nicht mehr dazu gekommen, den Kaffee zu trinken."

    Pelzigs Blick war auf die Tasse gerichtet.

    „Aber vielleicht hat derjenige oder diejenige die Tasse doch angefasst. Egal, wir müssen sie auf Spuren untersuchen. Den Inhalt auch?"

    „Na klar, vielleicht ist in diesem jetzt kalten Gebräu ja noch etwas drin, was Hinweise auf den Tod der Personaldisponentin geben könnte."

    „Gift vielleicht oder KO-Tropfen?! Und danach hat der Täter dann noch mit einem Messer seine Wut an ihr ausgetobt."

    „Wir müssen den Computer von Frau Schilling natürlich auch mitnehmen. Hat sie einen Laptop? Wir müssen die Festplatte auslesen. Wir müssen ihre Mails checken, um Informationen über die Person oder die Personen zu erhalten, die Frau Schilling gestern noch lebend gesehen hat oder haben. Frau Schillings Mobiltelefonnummer, Telefonverzeichnisse von Kunden, Mitarbeitern und so weiter und so weiter. Und dann die Telefonnummer von Ihrem Mann. Liegt hier irgendwo ein Handy rum, das Frau Schilling gehört hatte? Die Dame vom Empfang, die die Tote zuerst gesehen hat und die Polizei angerufen hat, hat doch gesagt, dass sie verheiratet ist."

    „Das ist ein Fass ohne Boden. Diese Art von Firmen hat doch heutzutage kaum mehr einen festen Mitarbeiterstamm. Die heuern Personal für einen aktuellen Auftrag an, und danach entlassen sie die Leute wieder. Und wenn dann wieder ein neuer Auftrag über Personalverleih von einem Kunden vorliegt, dann stellen sie erneut an. Denn wenn die Leiharbeiter länger als ein Jahr bei ihnen arbeiten, würden Sozialleistungen wie beispielsweise ein Weihnachtsgeld fällig. So steht’s theoretisch im Vertrag. Und über das Arbeitsamt kriegen die immer frisches Personal. Ich habe mal bei der Jobbörse von der „Agentur für Arbeit reingeschaut. Verwaltungspersonal wird heutzutage nur noch über Leiharbeitsfirmen verscherbelt. Meine Schwester hat es ja auch getroffen. Sie hat ihren Job als Teamassistentin verloren. Vor ein paar Monaten. Und jetzt tut sich die Zeitarbeitsfalle vor Johanna auf. Denn Arbeitslosen werden bei den so genannten Vermittlungsgesprächen immer Stellenangebote von Leiharbeitsfirmen vorgelegt. Und dann müssen die sich auch bewerben, sonst droht ihnen eine Kürzung des Arbeitslosengeldes. Weil sie sich nicht kooperativ zeigen bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Wie das schon klingt! Ein Werkstück, das aus der Fertigungsstraße gefallen ist. Und das nun wieder in den Produktionsprozess eingeführt werden muss. Oder es wird eben einfach weggeworfen. So, wie auch die Arbeitnehmer über das so genannte Arbeitslosengeld II entsorgt werden. Und dann wird den armen Seelen der Stempel „Schwer vermittelbar aufgedrückt. Einfach widerlich! Und dann wird man Freiwild für auf billiges Personal gierende Unternehmer. Bisher hat sich Johanna mit Erfolg gegen solche wirklich unzumutbaren Jobs zur Wehr setzen können. Da gibt’s doch tatsächlich so genannte Arbeitgeber, die meinen, Arbeitslose sollten für sie kostenlos „auf Probe schuften. Bezahlt würden sie ja auch werden – vom Arbeitsamt, also vom deutschen Steuerzahler. Mit der Begründung, sie, als Arbeitgeber, würden ja ein großes Risiko eingehen, einen Arbeitslosen einzustellen! Arbeiten auf Probe. Vor ein paar Wochen hatte Johanna so einen Kleinunternehmer am Wickel. Sie sollte seinen Saftladen auf Vordermann bringen, aber einen Arbeitsvertrag wollte er ihr nicht geben. Gleich am zweiten Tag in dieser Firma ist meiner Schwester dann der Geduldsfaden gerissen. Vertrag her, oder sie würde gehen! Da hat der ihr dann 90 Euro in die Hand gedrückt, und sie war wieder um eine Enttäuschung reicher. Das zehrt an den Nerven, kann ich Ihnen vielleicht sagen.

    Robert Pelzig ereiferte sich, sein im Laufe der Jahre in den Medien und im wirklichen Leben erworbenes Wissen über die Zeitarbeitsbranche an den Kriminalhauptkommissar

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