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Abgestürzt: Franken-Krimi
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eBook238 Seiten3 Stunden

Abgestürzt: Franken-Krimi

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Über dieses E-Book

Eine junge Frau und drei Männer, die um sie kämpfen. Bis in den Tod? Das soll eine Gerichtsverhandlung im legendären Saal 600 des Nürnberger Schwurgerichts klären. Der Afghane Fersal, geflüchtet, abgeschoben und erneut vor den Taliban aus seiner Heimat geflohen, ist des Mordes angeklagt. Ihm gehört Marias Herz. Doch sie hat Cornelius geheiratet, den beliebten Kinderarzt. Nun muss ein Gericht klären, ob Fersal ihn von einer Brücke in den Tod gestürzt hat. Der Journalist Dirk soll über den Prozess berichten, in dem seine unerreichbare Jugendliebe Maria eine zentrale Rolle spielt. Wird sie ihn endlich erhören, wenn Fersal verurteilt wird? Und dann ist es ausgerechnet Dirk, in dessen Händen Fersals Schicksal liegt …
SpracheDeutsch
HerausgeberProlibris Verlag
Erscheinungsdatum25. März 2019
ISBN9783954751969
Abgestürzt: Franken-Krimi
Autor

Johannes Wilkes

Johannes Wilkes, Jahrgang 1961, führt in Erlangen eine sozialpsychiatrische Praxis. Sein Kommissar Mütze ermittelte u. a. bereits in den Frankenkrimis "Der Fall Rückert" (2016), "Mord am Walberla" (2018), "Tod auf dem Poetenfest" (2019), "Der Fall Caruso" (2020), "Der Fall Wagner" (2021), "Die Zustellerin" (2022) und "Der Fall Emmy Noether" (erscheint 2023)

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    Buchvorschau

    Abgestürzt - Johannes Wilkes

    Info

    Johannes Wilkes

    Abgestürzt

    Franken-Krimi

    Prolibris Verlag

    Alle Rechte vorbehalten,

    auch die des auszugsweisen Nachdrucks

    und der fotomechanischen Wiedergabe

    sowie der Einspeicherung und Verarbeitung

    in elektronischen Systemen.

    © Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2019

    Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

    Titelbild: © Johannes Wilkes

    Schriften: Linux Libertine

    E-Book: Prolibris Verlag

    ISBN E-Book: 978-3-95475-196-9

    Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.

    ISBN: 978-3-95475-187-7

    www.prolibris-verlag.de

    Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Fantasie des Autors. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte (historische) Persönlichkeiten, Institutionen, Straßen und Schauplätze in Franken.

    Eine Gerichtsverhandlung im legendären Saal 600 des Nürnberger Schwurgerichts bildet die Rahmenhandlung für diesen Kriminalroman, der den Leser in die Städte Nürnberg und Erlangen, aber auch nach Afghanistan führt.

    Der Autor

    Johannes Wilkes ist Autor zahlreicher Krimis, aber auch unblutiger Bücher. Sein erster Kriminalroman aus dem Jahr 2013, Der Tod der Meerjungfrau, spielt auf Spiekeroog, ihm folgten bisher noch drei weitere Inselkrimis.

    Seine Kenntnisse über Franken, Erlangen und Nürnberg bewies er in drei Landschafts- und Städteportraits. Abgestürzt ist sein vierter Kriminalroman, der in Franken spielt.

    »Ich spürte keinen Hass, nur Ekel.«

    Arno Hamburger

    1

    Fersal Jedden saß sichtlich angespannt auf der Anklagebank. Den Oberkörper leicht nach vorne geneigt, ließ er seinen Blick immer wieder hastig über die Zuschauerbänke schweifen. Manche Besucher sagten später, er habe Angst vor der drohenden Verurteilung gehabt, andere meinten, die Ursache seiner Nervosität sei wohl eher die Furcht vor dem Prozess an sich gewesen. Jedenfalls arbeiteten die Kaumuskeln des jungen Mannes unentwegt, und seine braunen Füße, die ohne Socken in hellen Slippers steckten, rutschten unruhig hin und her.

    Wie auch bei allen folgenden Verhandlungstagen trug Fersal Jedden ein einfaches weißes T-Shirt und verwaschene Jeans. Die schwarzen Haare hatte er sich nach der aktuellen Mode bis zu den Schläfen hinauf ausrasieren lassen, umso voller wellten sich die Locken entlang des Scheitels. Sein Körperbau war schlank, aber nicht schlaksig, sein glattes, bartloses Gesicht hatte eine zartbronzene Tönung, seine Augen waren von einem solch tiefen Braun, dass es sich kaum vom Schwarz seiner Pupillen unterscheiden ließ.

    Als die Anklageschrift verlesen wurde, schien er zu erstarren, nur gelegentlich schüttelte er leise den Kopf.

    Der Saal 600 war voll besetzt, jener Saal, der als Ort der Nürnberger Prozesse Justizgeschichte geschrieben hatte. Viele Zuschauer waren gekommen, weil sie Cornelius Fischer gekannt hatten, der nun in Erlangen auf dem Neustädter Kirchhof lag und eine junge Ehefrau hinterließ. Es herrschte eine ernste, ja fast feierliche Stimmung bei den Besuchern, vielleicht weil man dem Schwurgerichtssaal auch siebzig Jahre nach den Nürnberger Prozessen noch seine historische Bedeutung anmerkte. Hier hatten nach dem Zweiten Weltkrieg die alliierten Richter über die nationalsozialistischen Verbrecher und ihre Schergen zu Gericht gesessen.

    Der Saal befand sich im östlichen Teil des großen Nürnberger Justizkomplexes, der mit eindrucksvoller Monumentalität die Fürther Straße beherrschte, jene frühere Prachtchaussee, die auf eine Initiative des großen preußischen Staatsmannes Karl August von Hardenberg zurückging und auf der 1835 der Adler, die erste deutsche Eisenbahn, entlanggedampft war. Es gab inzwischen konkrete Pläne, künftige Prozesse in einen Anbau zu verlegen, um diesen historischen Saal, den manche als Kreißsaal des Völkerstrafrechts bezeichneten, in das vielbesuchte »Memorium Nürnberger Prozesse« miteinzugliedern. Noch aber diente er als Gerichtssaal für besondere Mordprozesse. Und dieser Prozess zählte zweifellos zu den außergewöhnlichen, darin waren sich alle einig, egal wie sie zu dem Angeklagten standen.

    Gerd Diehl, der betagte Gerichtsdiener, hatte auf Wunsch von Richter Brüggemann, der den Vorsitz des Schwurgerichts führte, die Heizung kräftig aufgedreht, worauf sich die Luft mit einer schwülen Feuchtigkeit sättigte, denn die Kleidung der Besucher war vom Regen durchnässt. Der Gerichtsdiener, der aus dem nahen Fürth stammte, eine Tatsache, die unter seinen Nürnberger Kollegen immer wieder für scherzhafte Sprüche sorgte, arbeitete seit über vierzig Jahren im Haus, keiner kannte den Justizpalast besser. Er hätte dem Richter sagen können, dass es sinnvoller gewesen wäre, bei diesem Wetter nur moderat zu heizen. Doch welcher Richter hört schon auf einen Gerichtsdiener?

    Es regnete seit Tagen. Fahl nur drang das Licht des trüben Novembertags durch die hohen Fenster des Gerichtssaals, immer wieder ließen Windböen Regenschauer gegen die Scheiben prasseln, die langsam zu beschlagen begannen. Selbst die Ältesten unter den Besuchern konnten sich nicht erinnern, wann es zuletzt derart geregnet hatte. Im Nürnberger Umland schwollen die herbstlichen Rinnsale zu lebhaften Bächen an, von den Höhen der Fränkischen Schweiz, vom Hersbrucker Land und aus dem Nürnberger Süden führten sie der Pegnitz viel Wasser zu. Ihre lehmbraune Brühe strömte beim Tratzenzwinger in die Stadt hinein, passierte unruhig brodelnd die alten Brücken, um beim Hellertörlein die Altstadt wieder zu verlassen. Ihr Pegel stieg stetig, die Gefahr einer Überschwemmung aber bestünde im Stadtgebiet nicht, darauf wiesen die Behörden hin, ein ausgeklügeltes System an Rückhaltebecken und verborgenen Hochwasserstollen sorge für Sicherheit. Dennoch ging mancher Blick sorgenvoll zu den Fenstern, wenn der Wind die Tropfen an die Scheiben peitschte.

    Der Einzige, den das Wetter nicht zu kümmern schien, war der Angeklagte. Achtundsiebzig Tage hatte er in Untersuchungshaft sitzen müssen, in einer acht Quadratmeter großen Zelle, die nur ein winziges vergittertes Fenster besaß. Alles war besser als das Leben in dieser Zelle. Das Prasseln des Regens, bewies es ihm nicht, dass das Leben nicht stillstand? Dass es weiterging, trotz seiner misslichen Lage?

    Etwas abseits von den Zuschauerbänken saßen die Zeitungsleute. Um den zahlreichen interessierten Journalisten die Teilnahme zu ermöglichen, hatte man zusätzliche Plätze geschaffen. Ganz außen, dicht am Fenster, saß der Reporter der Nürnberger Nachrichten. Während sich seine Kollegen von den überregionalen Blättern zu kennen schienen, miteinander flachsten und sich auf kleinen Zetteln Notizen zusteckten, hatte Dirk Zimmermann, bewusst oder unbewusst, seinen Stuhl ein Stück abgerückt. Er empfand es als unpassend, mit welcher Routine und mit wie wenig Betroffenheit seine Kollegen dem Prozess folgten. Gewiss, es waren alte Hasen, die schon von überall berichtet hatten, aus allen großen Metropolen, von den unsagbarsten Verbrechen, den spektakulärsten Mordprozessen. Dennoch hielt Dirk Zimmermann es mit der Würde des Gerichts nicht für vereinbar, sich während einer Verhandlung zu geben, als berichte man von einem Fußballspiel. Auch fühlte er sich von seinen Kollegen nicht richtig ernst genommen, so dass er sich überlegte, ob er sich nicht besser zu den Zuschauern setzen sollte.

    Dirk Zimmermann war einunddreißig Jahre alt und mit fast zwei Metern von auffallender Größe. Er wohnte in der Nürnberger Südstadt am Aufseßplatz, einer Gegend, die nicht zu den bevorzugten Wohnlagen gehörte. Vor vier Jahren, im Frühjahr 2012, hatte sich der Reserveoffizier freiwillig für den Einsatz in Afghanistan beworben. Das hatte ihm ein gutes Jahr später seinen linken Arm gekostet. Wieder daheim hatte er nach einer quälend langen Zeit der Rehabilitation und einer Phase tiefer Depressionen an der Erlanger Universität das unterbrochene Studium der Literaturwissenschaften wiederaufgenommen, sich dann jedoch für die Ausbildung zum Redakteur entschieden. Die Armprothese, die man ihm im Bundeswehrkrankenhaus Koblenz angepasst hatte, hatte er zu Hause in den Kleiderschrank geworfen. Er kam mit dem Ding nicht zurecht und stopfte stattdessen lieber den schlaffen linken Ärmel seines Hemdes in die vordere Hosentasche.

    Um kurz nach acht, unmittelbar vor Prozessbeginn, hatte Dirk Zimmermann auf dem Gerichtsflur die Ehefrau des Todesopfers getroffen, Maria Fischer. Die junge Frau hatte auf einer der langen Holzbänke gesessen, dicht beim Treppenhaus, und ihren Blick auf die Fliesen geheftet.

    »Alles gut, Maria?«, hatte er sie gefragt, sie jedoch hatte ihren Kopf nur schweigend von ihm weggedreht. »Komm schon«, hatte er gesagt, »komm schon, Maria!«

    Der Anblick der auf der Holzbank sitzenden Witwe sollte ihn während des ganzen Prozesses begleiten: ihr blondes Haar, das sie sonst offen trug, nun aber straff nach hinten gebunden hatte; die Art, wie sie ihre Finger verknotete; und dann, endlich, der kurze Moment, in dem sich ihre Augen begegneten.

    »Lass mich«, flüsterte sie, nüchtern, ohne Ablehnung in der Stimme, doch mit unverkennbarer Deutlichkeit.

    Was nur lag in ihrem Blick? Dirk Zimmermann wurde nicht schlau aus ihr. War es Verzweiflung oder Enttäuschung? Und hätte das einen Unterschied gemacht? Er hatte lange darüber nachdenken müssen, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen.

    »Mensch, Maria, komm«, sagte Dirk noch einmal.

    »Lass mich«, erwiderte sie erneut.

    »Maria!«, versuchte er es nun fast flehentlich.

    »Lass mich«, sagte sie und hatte den Blick wieder auf den Boden geheftet.

    Er würde sich nach der Pause einen Platz unter den Zuschauern suchen, jetzt war er sich sicher, auch wenn es dort wesentlich enger war. Neben den anderen Reportern fühlte er sich fehl am Platz. Noch aber saß er unter den hohen Fenstern, gegen die der Regen klatschte. Mochte es nur immer weiter regnen, dachte er sich, mochte es nie wieder damit aufhören. Fast war es ihm, als fürchtete er sich vor dem Augenblick, an dem die Sonne den Wolkenvorhang zerriss.

    2

    Die Strafkammer bestand aus drei Berufsrichtern, dem Vorsitzenden Karl Brüggemann und seinen beiden Kollegen, Paul Hubert, ein glatzköpfiger Stiernacken, der älter wirkte, als er tatsächlich war, und Vera Küspert, eine erfahrene Juristin mit klugen, gutmütigen Augen.

    Außerdem gehörten dem Schwurgericht noch zwei Schöffen an, zwei Frauen mittleren Alters. Martina Schöller war von Beruf Verwaltungsangestellte und weitläufig mit der Familie des ehemaligen Nürnberger Eisbarons verwandt, Gesa Pickelmann arbeitete als Lehrerin am humanistischen Gymnasium der Stadt Nürnberg, das den Namen seines Gründers Melanchthon trug, dem großen Humanisten und Lutherfreund.

    Nachdem Staatsanwalt Bernd Winterfeld den Anklagesatz verlesen hatte, fuhr er sich zufrieden durch das geölte Haar, denn er war von seiner eigenen Brillanz überzeugt und liebte Prozesse, bei denen die Besucherplätze gut gefüllt waren. Nun wandte sich Richter Brüggemann an den Angeklagten. Er tat dies mit der Souveränität des altgedienten Juristen und klärte Fersal Jedden pflichtgemäß darüber auf, dass es ihm freistehe, sich zur Anklage zu äußern, und dass er das Recht habe, zu schweigen. Fersal Jeddens Anwältin erhob sich und teilte mit, dass sich ihr Mandant entschieden habe, nicht auszusagen. Teresa Wodan war eine junge Frau, deren sicheres Auftreten manchen überraschte. Ihr braunes Haar fiel mit kecken Locken auf ihre elegant geschnittene Anwaltsrobe. Nach dieser kurzen Feststellung setzte sie sich wieder und nickte ihrem Mandanten beruhigend zu.

    Richter Brüggemann machte sich eine Notiz und rief den ersten Zeugen auf, Hauptkommissar Jürgen Struwe aus Nürnberg. Am Abend des dritten Septembers, dem Abend, an dem Cornelius Fischer ums Leben gekommen war, hatte sich der Kommissar auf dem Weg nach Hause befunden, als ihn der Anruf eines Kollegen erreichte.

    Eine offensichtlich alkoholisierte junge Frau habe eine merkwürdige Sache gemeldet, überhastet aber wieder aufgelegt, so dass man nicht hätte nachfragen können. Nun sei man sich nicht sicher, ob an der Geschichte was dran sei. Ob Jürgen so nett wäre? Alle verfügbaren Kräfte seien unterwegs zu einem größeren Einsatz in die Fußgängerpassage am Königstor, eine Prügelei unter Drogensüchtigen, und er wohne doch gleich in der Nähe des Nürnberger Güterbahnhofs.

    »Was genau hat Ihr Kollege zu Ihnen gesagt?«, wollte der Staatsanwalt wissen, als der Richter ihm das Wort erteilt hatte.

    »Dass die Frau von der Brücke beim Güterbahnhof aus einen Zug gesehen habe, auf dem ein lebloser Mensch liege«, sagte Struwe, der sich in der Rolle des Zeugen sichtlich unwohl fühlte.

    »Und weiter?«

    »Zum Güterbahnhof war es für mich nicht weit. Knappe zehn Minuten später traf ich dort ein, es muss ziemlich genau Mitternacht gewesen sein. Zunächst habe ich auf der Brücke gehalten, bei der Dunkelheit und der Entfernung aber habe ich nichts erkennen können. Der Güterbahnhof ist riesig, eine Menge Züge sind dort abgestellt gewesen. So bin ich weitergefahren, rechts runter zum Eingang des Betriebsgeländes, wo mir zwei Arbeiter geöffnet haben.«

    »Und dann?«

    »Wir sind zu den Gleisen. Ich habe die Bahnler gefragt, welche Züge in der letzten Stunde eingefahren sind, nur zwei sind infrage gekommen. Einer der Arbeiter hat die Oberleitungen vom Netz genommen und wir sind auf den ersten Zug geklettert, also auf dessen ersten Waggon.«

    »Und?«

    »Nichts. Es war einer dieser Containerzüge, dessen Dächer man gut einsehen kann. Die Bahnarbeiter hatten eine starke Lampe dabei, die Dächer des Zuges waren frei, da lag nichts. Also sind wir zum zweiten Zug, der weit entfernt am westlichen Ende des Geländes stand.«

    »Was dann?« Dem Staatsanwalt ging das alles zu langsam, ungeduldig begann er auf und ab zu schreiten. Auf den Zuschauerbänken war es mucksmäuschenstill geworden. Selbst die Reporter der auswärtigen Blätter lauschten nun mit gespanntem Interesse.

    »Der zweite Zug war aus unterschiedlichen Waggons zusammengesetzt. Manche transportierten Container, so wie der erste, auf anderen standen in weißer Folie verschweißte Autos, wieder andere waren offen und mit Schüttgut beladen. Die letzten beiden Waggons transportierten lange Baumstämme. Dort haben wir ihn gefunden.«

    »Den Toten?«

    »Cornelius Fischer, genau.«

    »Schildern Sie uns bitte, wie genau Sie ihn gefunden haben.«

    Der Polizist musste sich räuspern und schaute kurz zur Anklagebank. »Wir hatten ihn bereits aus der Ferne entdeckt, vom oberen Deck des Autowaggons. Aus den gestapelten Baumstämmen ragte etwas heraus, das wie ein menschliches Bein aussah und im Licht unserer Lampe einen langen Schatten warf. Wir sind herunter vom Autotransporter und hinüber zu dem Holzwagen. Die beiden Arbeiter haben unten gewartet, während ich über eine Leiter hinaufgestiegen bin. Dort lag er, direkt vor mir.«

    »Wie hat er ausgesehen?«

    »Entschuldigung, Herr Staatsanwalt, aber reicht dafür nicht der Bericht des Rechtsmediziners?«

    »Ich verlange keine fachlichen Erklärungen von Ihnen«, sagte der Staatsanwalt ungehalten, »ich will nur wissen, welcher Eindruck sich Ihnen bot. In welcher Position lag der Tote auf dem Holz?«

    »Seinen Kopf konnte ich zunächst nicht erkennen, er steckte zwischen zwei Stämmen.«

    »Als wäre er kopfüber gestürzt?«

    »Ja, genau. Die Kleidung war übel zerfetzt, überall klebte Blut: Nur ein Arm wirkte fast unversehrt, daran erinnere ich mich gut. Es sah irgendwie unwirklich aus. Er lag beinahe lässig auf einem der Stämme, als würde er ihn umarmen.«

    »Welcher Arm ist das gewesen?«

    »Der Tote lag auf dem Bauch, also muss es der rechte gewesen sein.«

    »Was haben Sie dann gemacht?«, wollte der Staatsanwalt wissen.

    Der Kommissar schluckte, ihm schien die Zunge am Gaumen zu kleben. Stockend sprach er weiter. »Ich habe ihn bei den Schultern gepackt, so dass der Kopf auftauchte, und ihn zur Seite gewälzt.«

    »Und?«

    »Anstelle des Gesichtes ist nur noch eine blutige Masse zu sehen gewesen.«

    3

    Teresa Wodan, die Anwältin, erhob sich mit Schwung von ihrem Stuhl und schritt energisch zum Zeugen hinüber. Der Richter hatte nur wenige Nachfragen gehabt und der Anwältin rasch das Wort erteilt.

    »Herr Kommissar Struwe, ich will nur sichergehen, dass ich Sie richtig verstanden habe. Sie sagten, Sie hätten den Toten kopfüber zwischen den Baumstämmen gefunden?«

    »So ist es, Frau Anwältin.«

    »Und daraus schließen Sie, dass das Opfer kopfüber auf den Zug gestürzt sein muss.«

    »Es sah alles danach aus.«

    »Herr Kommissar, könnte es nicht sein, dass der Kopf erst nach dem Sturz zwischen die Stämme gerutscht ist?«

    Der Kommissar rutschte hin und her. »Auszuschließen ist das sicher nicht.«

    »Die zahlreichen Verletzungen, die Schürfwunden, das entstellte Gesicht, spricht das nicht dafür, dass der Mann auf den Zug geprallt ist, als dieser mit hohem Tempo unterwegs gewesen ist?«

    »Möglich«, sagte der Kommissar zögernd.

    »Hier haben wir den Bericht der Spurensicherung«, sagte die junge Anwältin und zog einen Schnellhefter aus ihrer Umhängetasche.

    »Dort steht, man hätte am vorderen Ende des Holztransporters, also in Fahrtrichtung betrachtet, Blutspuren nachweisen können, die eindeutig von dem Opfer stammen. Müssen wir nicht davon ausgehen, dass die Position, in der Sie den Toten gefunden haben, nichts über die Art und Weise aussagt, wie er auf den Waggon geprallt ist? Ist nicht vielmehr anzunehmen, dass er sich durch die Wucht des fahrenden Zuges mehrfach überschlagen hat und nur zufällig mit dem Kopf zwischen den Stämmen zu liegen gekommen ist?«

    Der Kommissar sah sich hilfesuchend um.

    »Herr Struwe, haben Sie meine Frage verstanden?«

    »Natürlich, Frau Anwältin, selbstverständlich. Ich meine nur, es ist für mich schwer einzuschätzen, wie sich der Sturz exakt abgespielt hat.«

    »Genau das wollte ich von Ihnen hören, herzlichen Dank! Ich habe keine weiteren Fragen.«

    4

    Richter Karl Brüggemann unterbrach die Verhandlung um elf Uhr. Er warf noch einen Blick zu den Fenstern hinauf, an denen der Regen in langen, mehrfach gezackten Bändern hinablief, ließ mit verzerrtem Gesicht seine Schultern kreisen, als schmerze es ihn im Nacken, und stand dann auf, um mit steifen Schritten zu seinem Dienstzimmer zu schreiten.

    Der Angeklagte Fesal Jedden wandte seinen Kopf leicht zur Seite und nickte

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